Die atemlose Nacht von London

– Das Duell zwischen Chelsea und Neapel hat einen Sieger: den Fußball

Berlin/London (dapd). Ezequiel Lavezzi spannte seinen Körper, er ging ins Hohlkreuz, reckte und streckte seinen Kopf so weit wie möglich nach oben. Dennoch sauste die scharfe Flanke ein paar Zentimeter über seine Haarwurzel hinweg und ins Aus. Der SSC Neapel und nicht der FC Chelsea hätte im Viertelfinale der Champions League gestanden, hätte, ja hätte nur der Argentinier in dieser 87. Minute das 2:3 aus Sicht seines Teams geköpft. Allein, einen Vorwurf konnte man ihm wirklich nicht machen. Ezequiel Lavezzi misst nur 1,73 Meter.

Der SSC Neapel wollte wie Lavezzi über sich hinaus wachsen bei dieser 1:4-Niederlage nach Verlängerung an der Stamford Bridge. Das Problem war nur, das taten die Gastgeber auch. Dabei heraus kam ein unvergesslicher Europapokalabend, mit allem, was diesen Wettbewerb und diesen Sport ausmacht.

Es war ein Spiel, das den Zuschauern zunehmend den Atem nahm, weil es einer Dramaturgie folgte, die sich immer rasanter beschleunigte. „Einige der Spieler konnten am Ende nicht mal mehr rennen, weil sie Krämpfe hatten“, sagte Chelseas Interimstrainer Roberto Di Matteo, der seine Bilanz auf drei Siege aus drei Spielen erhöhte. „Aber sie haben einfach weitergekämpft. Alle waren unglaublich.“ Auch sein Kollege Walter Mazzarri war „stolz“ auf seine Spieler. Wer kann das nach einer 1:4-Niederlage schon sagen?

Aber der Endstand gab nur unzureichend wider, was da auf dem Platz abgelaufen war. Zunächst einmal machten die Gäste genau da weiter, wo sie beim fulminanten 3:1-Heimsieg vor drei Wochen aufgehört hatten. Als die Anfangsviertelstunde beendet war, hatte Chelseas Torhüter Petr Cech bereits dreimal retten müssen, und Edinson Cavani hatte wütend die Bande malträtiert, nachdem er aus spitzem Winkel nur das Außennetz traf. „Wir hatten wahrscheinlich heute mehr Chancen als im Hinspiel“, sagte Mazzarri, „wir haben nur nicht so oft getroffen“.

Nach überstandenem Schrecken der Anfangsphase erinnerte sich der FC Chelsea daran, was er ist: ein englischer Fußballklub. Schließlich ging es darum, als letzter Landesvertreter im Wettbewerb zu bleiben. Chelsea kämpfte sich also zurück ins Spiel. Didier Drogba wuchtete in der 28. Minute eine Ramires-Flanke aus dem Halbfeld zum 1:0 ins Netz und entblößte erstmals Neapels fatale Schwäche bei hohen Bällen. Chelsea machte nun das Spiel, Neapel konterte.

Die Anfangsviertelstunde der zweiten Hälfte war wie die der ersten, nur noch atemloser. Diesmal war es Terry, der einen hohen Ball mit dem Kopf zum 2:0 für die Gastgeber ins Tor hämmerte. Damit wäre Chelsea im Viertelfinale gewesen. Bis acht Minuten später Gökhan Inler seinerseits alle Kraft zusammennahm und ein wunderschönes Dropkick-Tor aus 17 Metern erzielte und Neapel wieder ins Rennen brachte. Chelsea brauchte nun plötzlich ein Tor, Neapels zu Tausenden angereiste Fans sangen und hüpften schon mal. Bis Frank Lampard, der dritte der alten Londoner Garde, vom Elfmeterpunkt das 3:1 gelang. Mit einem hammerharten Schuss, natürlich. Damit war das Hinspiel-Ergebnis egalisiert.

Beide Mannschaften warfen nun alles hinein. Das nächste Tor würde entscheiden, und jeder wollte der sein, der es erzielt. Jede Taktik wurde aufgegeben. Neapels Mittelstürmer Cavani lief Chelseas Mittelstürmer Fernando Torres am eigenen Sechzehner ab. Abwehrspieler David Luiz schnappte sich den Ball vor dem eigenen Tor mit tollkühner Grätsche, lief und lief bis vors gegnerische Tor, wo ihm ein Neapolitaner mit einer tollkühnen Grätsche wieder den Ball wegnahm. Es spielten nun also diese 20 Feldspieler etwas, das dem Konzept des „totalen Fußballs“ ziemlich nahe kam. Jeder machte alles.

Und der deutsche Schiedsrichter Felix Brych machte genau das richtige: Er vergaß seine Herkunft und ließ diese Fußballschlacht einfach laufen. Böses oder grob Unfaires war ohnehin kaum dabei.

Der entscheidende Treffer in der Verlängerung gelang dann dem FC Chelsea – durch Branislav Ivanovic, einem Verteidiger. Wenn ihn zuvor der kleine Lavezzi mit dem Kopf erzielt hätte, mal ehrlich, wen hätte das an diesem Abend eigentlich noch verwundert?

Hungrig und inspiriert zum Sieg

– Frankreichs Equipe zeigt sich gegen Deutschland in EM-Form

Bremen (dapd). Die erste Halbzeit war noch nicht vorbei, da stimmten die französischen Fans hoch oben im Gästeblock im Bremer Weserstadion bereits zum zweiten Mal an diesem Abend die „Marseillaise“ an. In der a-capella-Version des Hymnenklassikers sangen sie von jenem berühmten Tag des Ruhms, der nun wieder gekommen sei.

Auch nach dem Schlusspfiff konnten die Gäste noch stolz auf sich sein. Auf das Ergebnis (2:1) einerseits, für den 17. der Weltrangliste beim Zweiten Deutschland ein hübscher Sieg der Kategorie „Achtungserfolg“. Mehr noch aber auf die Art und Weise, wie sich die Mannschaft von Laurent Blanc am Mittwochabend präsentiert hatte: Hungrig, lauffreudig und offensiv inspiriert.

„Das Ergebnis hat uns gar nicht interessiert“, sagte Blanc gleich nach dem Spiel, „wir wollten an uns arbeiten und besser werden.“ Genau das versucht Blanc mit seinem Team seit Amtsübernahme nach der WM 2010 – dem absoluten Tiefpunkt der sportlichen Entwicklung und des Verhältnisses zwischen Fans und Nationalelf.

Diese folgte am Mittwoch perfekt der ausgegebenen Chronologie. Vor dem Spiel hatte Blanc nämlich gesagt, es gelte, die ersten 20 Minuten zu überstehen. Dies schafften die Blauen, indem sie die deutsche Behelfsabwehr beim Spielaufbau ständig unter Druck setzten und dadurch Fehler provozierten. Sobald die 20 Minuten überstanden waren, ließ Rechtsverteidiger Mathieu Debuchy sein Gegenüber Dennis Aogo ins Leere laufen, flankte scharf in die Mitte, wo Olivier Giroud zur Führung einschob. Man schrieb die 21. Minute.

Für Debuchy, dem Mann des Abends vom OSC Lille, der auch Frankreichs zweites Tor einleitete, war es dabei erst das dritte Länderspiel – wie auch für Benzema-Ersatz Giroud aus Montpellier. „Wir haben ein perfektes Match gespielt“, befand Debuchy, der dem heillos überforderten Aogo zeigte, was man auf dieser Position auch offensiv so alles anstellen kann – auch wenn ihm das gegen Philipp Lahm sicher nicht in dem Maße gelungen wäre.

Besonders bei der Zusammenstellung des Mittelfelds aber hatte Blanc die richtigen Entscheidungen getroffen. Die offensive Dreierkette bestückte er neben dem unglaublich wendigen 1,67-Meter-Mann Mathieu Valbuena von Olympique Marseille mit seinen prominenten Legionären Samir Nasri und Franck Ribery. Diese drei wirbelten meist zusammen auf engem Raum, mal rechts, mal links, mal zentral. Einzig Ribery, nach Zusammenprall mit Marco Reus auch früh beeinträchtigt, fiel etwas ab. Er sucht im Nationalteam nach wie vor nach der Bayern-Form. Mit einem Pferdekuss schied er zur Halbzeit aus.

„Wir haben versucht, möglichst hoch zu stehen, um die deutsche Offensive nicht entfalten zu lassen – das hat geklappt“, sagte Blanc, der für seine Verhältnisse fast schon emotional wurde: „Ich habe das Spiel sehr genossen, es war wirklich toll.“ Der Auftritt wäre einer der besten unter seiner Regie gewesen.

Blancs Umbau und Neuausrichtung der sportlich wie moralisch desaströsen WM-Mannschaft scheint immer besser zu gelingen – sie ist nun seit 18 Spielen ungeschlagen. Blanc setzt neben einigen erfahrenen Leuten wie Eric Abidal (32) und Philippe Mexes (29) auf den Hunger der Jungen. Patrice Evra, einer der Rädelsführer der Rebellion von Südafrika, saß derweil 90 Minuten auf der Bank.

Noch gibt es – natürlich – auch Steigerungsbedarf, das zeigte sich im zweiten Teil der ersten Hälfte, als Deutschland mit schnellen Kombinationen die Viererkette ein paar Mal überwand. Auch ihre Anfälligkeit für Standardsituationen haben die Franzosen noch nicht abgelegt. Man muss sie also nicht gleich zum „Mitfavoriten“ für die EM machen wie Joachim Löw schon vor dem Spiel. Nur unterschätzen sollte man die neu inspirierten Blau-Weiß-Roten in keinem Fall.

Das Understatement des Liberos

– 100 Tage vor der EM ist Frankreichs Coach Laurent Blanc darum bemüht, die Erwartungen zu dämpfen

Berlin/Paris (dapd). Der Mann, der das Hemd unter dem legeren Sakko offen trägt, könnte mit seinen etwas zerzausten Haaren und der randlosen Brille auf den ersten Blick ein Universitätsprofessor sein. Als Grundschullehrer könnte er auch durchgehen. Wäre da nicht die riesige Sponsorenwand im Hintergrund. Vor Laurent Blanc, dem Fußballlehrer, sitzen die französischen Journalisten, eine aufmüpfige Klasse.

Blanc spricht mit ruhiger Stimme über den nächsten Gegner seiner Mannschaft, am Mittwoch in Bremen: die deutsche Elf von Joachim Löw. „Wir sind nicht auf ihrem Niveau“, sagt Blanc, „aber wir werden dieses Spiel mit unseren Möglichkeiten spielen und versuchen zu gewinnen, auch wenn Sie darüber schmunzeln mögen.“ So weit ist es mit der Grande Nation also gekommen.

Frankreich gegen Deutschland der krasse Außenseiter? Dabei haben doch die Franzosen das letzte Mal vor 25 Jahren gegen ihre nordöstlichen Nachbarn verloren, 1987, zwei Tore von Rudi Völler. Die Älteren erinnern sich.

Das Understatement des ehemaligen Weltklasse-Liberos Blanc hat Prinzip. Und Gründe. Da wäre zum einen die Stärke des Gegners. Deutschland ist wieder wer, das weiß und sagt auch Blanc. Er nennt die deutsche Elf „eine hübsche Maschine“. Die ist im vergangenen Jahr mal eben über Brasilien und Holland gerollt und dazwischen unter Volldampf zur erfolgreichen EM-Qualifikation. Blanc sagt: „Keiner gibt uns eine Chance, aber… Wir haben nichts zu verlieren.“

Zum anderen sind die moderaten Worte des Welt- und Europameisters Blanc in der Entwicklung der Equipe Tricolore selbst begründet. Neulich hat der 46-Jährige sich noch einmal genötigt gesehen, auf die Fakten hinzuweisen: Seit der WM in Deutschland, was fast sechs Jahre her ist, hat die französische Mannschaft kein Spiel mehr bei einer internationalen Endrunde gewonnen, wie Blanc gegenüber „Le Monde“ in Erinnerung rief. Für die EM im Sommer gebe es daher nur eine Vorgabe: „Unser Ziel ist es, ein Spiel zu gewinnen.“ Das wahre Ziel sei die EM 2016 im eigenen Land.

Das will natürlich keiner hören in Blancs Heimat, auch wenn die Franzosen mit England, Gastgeber Ukraine und den unberechenbaren Schweden keine leichte Gruppe zugelost bekommen haben. Zwar blieben die Franzosen im Länderspieljahr 2011 ungeschlagen (und siegten, ganz nebenbei, ebenfalls gegen Brasilien), und auch die direkte Qualifikation für die EM wurde geschafft. Allerdings schrammte das Team im letzten Spiel gegen Bosnien ziemlich knapp an einer Blamage und dem Umweg der Playoffs vorbei.

Blancs Verhältnis zu den Journalisten ist derweil mit etwas Wohlwollen als angespannt zu bezeichnen. Er selbst sieht sich als Opfer einer Kampagne. „TV, Radio, Presse, alle suchen nach Polemik, um Trubel zu machen“, sagte er. „Das war seit meinem Amtsantritt so.“ Das Problem sei das allzu kurze Erinnerungsvermögen der Beobachter. Er erinnerte noch einmal an Knysna, Ort des WM-Camps in Südafrika, Ort der Schande. Dort rebellierte das Nationalteam gegen Blancs Vorgänger Raymond Domenech und reiste nach drei Spielen ohne Sieg wieder heim.

Auch von Spannungen mit Verbandspräsident Noel Le Graet wird berichtet. Der soll angeblich längst auf der Suche nach Blancs Nachfolger sein, unter anderem geistert der Name Arsene Wenger durch die Gazetten, weil der Elsässer am Langzeitprojekt FC Arsenal den Spaß zu verlieren scheint. Alles dürfte von Blancs Erfolg im Sommer abhängen. Anfang Februar sagte sein Chef Le Graet der Fachzeitung „L’Equipe“: „Ich hoffe, dass Blanc Trainer bleibt, denn das bedeutet, dass wir eine gute EM gespielt haben.“

Nicht zur Stabilisierung seiner Position trugen Blancs krude Aussagen zum Körperbau afrikanischstämmiger Spieler bei, die im Mai vergangenen Jahres aus internen Verbandsprotokollen an die Öffentlichkeit gelangten. Darin befürwortete Blanc, die Quote für Nachwuchsspieler mit Migrationshintergrund zu begrenzen, weil die sich unter Umständen für das Land ihrer Eltern entscheiden könnten und die Ausbildung damit vergeblich für Frankreich sein könne. Sein ehemaliger Mitstreiter Lilian Thuram forderte ihn daraufhin zum Rücktritt auf.

Ein Dreivierteljahr später aber ist Blanc noch da, er ist ganz der alte Kämpfer. Und weist den Druck von sich. „Was riskiert man schon in einem Freundschaftsspiel?“, fragt der Mann mit der zerzausten Frisur und lugt über den Rand seiner Brille in die Runde. Die vor ihm sitzende Klasse bleibt skeptisch.

Für Europa nicht genug

– Klose-Klub Lazio Rom gegen Atletico Madrid ohne Chance – Konzentration nun ganz auf die Liga

Berlin/Rom (dapd). Es lief die 19. Minute, als Miroslav Klose das Stadio Olimpico auf Betriebstemperatur brachte. Kaum war der Deutsche zur 1:0-Führung in den Abpraller von Atletico-Keeper Courtois gegrätscht, lärmten die Lazio-Fans wie die Wilden. Fahnen wurden selig geschwenkt. Die schöne Europapokal-Stimmung im Stadio Olimpico währte gute fünf Minuten. Doch dann durfte Adrian weitgehend ungestört auf Vorlage von Falcao den Ausgleich für die Gäste aus Madrid erzielen. Acht Minuten vor der Pause traf Falcao selbst – Lazios Europa-Ambitionen waren da bereits Geschichte. Am Ende stand nach einem weiteren Falcao-Tor eine völlig verdiente 1:3 (1:2)-Heimniederlage in der ersten K.o.-Runde der Europa League.

Die bittere Lehrstunde, die Madrids Offensive um den kolumbianischen Nationalstürmer Falcao und den Ex-Bremer Diego den Römern erteilte, stand in starkem Kontrast zur Gala des AC Mailand gegen den FC Arsenal am Mittwoch. In der Liga liegt Spitzenreiter Milan nur fünf Punkte vor dem Dritten Lazio, in den internationalen Begegnungen dieser Woche wurde klar, wie viel Lazio zu einer europäischen Topmannschaft fehlt.

Sicher, Coach Edy Reja beklagte sich nicht ganz zu Unrecht über die Personalprobleme, die ihn erneut zu Umstellungen zwangen. Unterm Strich aber bleibt die Erkenntnis, dass Lazio wohl vor allem dank Ausnahmestürmer Klose in der Liga auf Champions-League-Kurs ist. In der Europa League dagegen, in der man bereits in der Gruppenphase mit einem Bein im Aus gestanden hatte, reichen weder die spielerische Klasse noch die Tiefe des Kaders aus. „Klose macht den Fans falsche Hoffnungen“, schrieb daher auch die „Gazzetta dello Sport“, und weiter: „Der Unterschied zwischen beiden Teams war beinahe peinlich, Atletico entblößte alle aktuellen Defizite der Römer.“

Kloses „Stempel“ hilft herzlich wenig

Für die Lazio-Fans muss es in der Tat fast schmerzhaft gewesen sein, mit anzusehen, wie ihre völlig verunsicherte Defensive bis zur Halbzeit Kloses Führung wieder zunichtemachte. „Bester Römer war Klose, der wie immer seinen Torschein abstempelte. Das half dieses Mal allerdings herzlich wenig“, urteilte die Römer Tageszeitung „Il Messaggero“.

Diego, der sich nach 72 Minuten seinen verdienten Applaus von den mitgereisten Hundertschaften abholen durfte, konnte zusammen mit Adrian und Doppeltorschütze Falcao fast ungestört ein feines Kombinationsspiel aufziehen, während bei Lazio zu keinem Zeitpunkt ein geregelter Aufbau zustande kam.

Vielleicht ist es unterm Strich ein heilsames Ausscheiden für die Römer, das in einer Woche in Madrid dann formalisiert werden sollte. Denn nun kann sich das Team, das sich Ende Januar gegen den AC Mailand bereits aus der Coppa Italia verabschiedet hatte, ganz auf die Liga konzentrieren.

Ähnlich darf man wohl auch die Aussagen von Lazios Mittelfeldspieler Matuzalem verstehen. Er verwies darauf, dass der 3:2-Sieg gegen Cesena in der vergangenen Woche, der in 60-minütiger Unterzahl nach 0:2-Rückstand zustande kam, vielleicht doch zu viel Kraft gekostet habe: „Uns hat es an Konzentration gefehlt.“ Die dürfen die Laziali nun bündeln – nachdem sie am kommenden Donnerstag die leidige Pflicht in Madrid absolviert haben.

Ein Wiedersehen zum Jubiläum

– Kloses 80. internationaler Vereins-Einsatz bei Europa-League-Spiel gegen Atletico Madrid mit Diego

Berlin/Rom (dapd). Im Kabinengang des Römer Stadio Olimpico werden sich am Donnerstagabend zwei Spieler besonders herzlich begrüßen. Gemeinsam haben sie schon die eine oder andere Schlacht im Europapokal geschlagen: Miroslav Klose, Lazio Rom, trifft in der ersten K.o.-Runde der Europa League auf seinen alten Bremer Weggefährten Diego, Atletico Madrid.

Für Klose ist das Hinspiel in Rom sein 80. internationaler Einsatz. Zu einem Titel jedoch hat es bislang nicht gereicht, weder mit Kaiserslautern noch mit Bremen oder Bayern.

Ein paar Mal war der heutige Lazio-Angreifer immerhin schon nah dran. Mit den Bayern stand er 2010 im Champions-League-Finale gegen Inter Mailand, kam jedoch erst nach dem 0:1 ins Spiel und konnte die 0:2-Niederlage dann auch nicht verhindern. Zum Erreichen des Endspiels hatte er nur ein Tor beigetragen, dafür ein wichtiges: Den 2:1-Siegtreffer gegen Florenz, der am Ende den Ausschlag gab fürs Weiterkommen im Achtelfinale.

27 Treffer hat Klose bislang in den beiden europäischen Wettbewerben erzielt, die ja eigentlich drei sind. Denn als der junge Stürmer im Herbst 2000 seine ersten internationalen Spiele bestritt, hieß die Europa League bekanntlich noch UEFA-Cup. Mit zwei Treffern in Saloniki und einem blitzsauberen Tor beim 3:0 gegen Glasgow brachte der damals 22-Jährige seine Karriere beim 1. FC Kaiserslautern in Schwung. Erst im Halbfinale war gegen Deportivo Alaves Schluss. Wie sieben Jahre später auch mit den Bayern gegen Zenit St. Petersburg.

Als Kloses schlimmster Tag im Europacup darf aber jenes Halbfinal-Rückspiel mit Werder Bremen gegen Espanyol Barcelona am 3. Mai 2007 gelten. Nach dem 0:3 im Hinspiel schien Hugo Almeida mit seinem frühen 1:0 den Boden für ein weiteres „Wunder von der Weser“ bereitet zu haben. Dann flog Klose vom Platz. Gelb-Rot. In der 19. Minute. Wegen einer Schwalbe. Mit der Mischung aus seinem Übereifer und dem mangelndem Fingerspitzengefühl des Referees gewissermaßen eine Vorwegnahme seines Platzverweises gegen Serbien im WM-Spiel 2010.

Diego lobt Klose

Doch zurück in die Gegenwart. Diego, der damals gegen Espanyol ebenfalls auf dem Platz stand, ist mittlerweile also selbst in Spanien gelandet. Mit Atletico ist er allerdings noch nicht so recht in Tritt gekommen. In den letzten drei Ligaspielen gelang den Madrilenen nur ein eigenes Tor. In der mit Udinese Calcio, Celtic Glasgow und Stade Rennes durchaus gut bestückten Europa-League-Gruppe setzte man sich allerdings klar durch. Da tat sich Lazio deutlich schwerer, allerdings meist ohne Klose, der nur zu zwei Einsätzen über mehr als 45 Minuten kam.

Vor dem Wiedersehen lobte der Brasilianer den Deutschen: „Ich kenne Miro gut. Er ist in der Lage, mit einer Einzelaktion die Partie zu entscheiden. Seine Dynamik und Schnelligkeit sind immer noch außergewöhnlich“, wurde Diego im „Corriere dello Sport“ zitiert, der Kloses Stellenwert für Lazios Europa-Ambitionen klar umriss: „Die Hoffnungen der Römer auf ein Weiterkommen klammern sich an die Treffer von seinem deutschen Ass. Klose ist Symbol, Vorbild und Ausnahmespieler einer hungrigen Elf in Liga und Europa.“

Da kann es nicht schaden, dachten sich wohl die Spanier, sich noch ein bisschen zusätzlichen Beistand zu sichern. Am Mittwochmorgen sicherte sich der Atletico-Tross daher im Vatikan eine Audienz plus Gruppenfoto mit Papst Benedikt.

Ein letztes Mal träumen

– Arsenals Aushilfsheld Thierry Henry trifft bei seinem Abschiedsspiel in Mailand auf seinen Gegenentwurf Zlatan Ibrahimovic

Berlin (dapd). Für die Fußballfans des FC Arsenal war es ein Traum. Vereinsidol Thierry Henry kehrte nach fast fünf Jahren beim FC Barcelona und den New York Red Bulls zurück, erzielte in sechs Kurz-Einsätzen seit Mitte Januar drei Treffer, davon zwei spielentscheidende. Doch am Mittwoch geht seine Rückkehr auf Zeit beim Team von Arsene Wenger zu Ende, dann muss er zurück in die USA. In der Champions League trifft der Franzose zum Abschied auf den AC Mailand und den Gegenentwurf zu sich selbst: Zlatan Ibrahimovic.

Henry ist ein Typ Spieler, von dem Fans träumen. Auch wenn nicht bekannt ist, ob er hin und wieder in Gunners-Bettwäsche schlummert, so wissen wir doch: Thierry Henry ist Arsenal-Fan. Das hat er auch am Samstag noch einmal gesagt, nach dem Premier-League-Spiel beim AFC Sunderland. Der Einwechselspieler Henry hatte zuvor in der 90. Minute den 2:1-Siegtreffer erzielt, mit einer akrobatischen Einlage nach Flanke von Andrei Arschawin. Zum Jubel war er mit einem breiten Grinsen hinter dem Tor an der Fankurve vorbeigejoggt.

Henry ist schon jetzt der perfekte Aushilfsheld

Nach dem Spiel erzählte der 34-Jährige noch einmal die Geschichte seines Traum-Comebacks: „Ich war in Mexiko im Urlaub, habe gechillt. Dann rief der Boss an und fragte, ob ich zurückkommen will.“ So einfach ist das. Der Boss, Wenger, freute sich natürlich über Henrys Treffer und forderte eine Wiederholung in Mailand. „Er hat die Story der Legende in der Meisterschaft fertig geschrieben. Ich hoffe, er fügt ihr in der Champions League am Mittwoch noch etwas hinzu.“

Doch auch wenn das nicht klappt, Henry hat seine Rolle als Aushilfsheld schon jetzt perfekt ausgefüllt. Von seinem ersten Einsatz, als er Arsenal gegen Leeds mit einem typischen Henry-Innenseitentreffer in die nächste FA-Cup-Runde schoss, bis zum Tor in Sunderland, seinem 229. für die „Gunners“ seit dem Sommer 1999, als er von Juventus Turin kam. Zwischendurch betonte Henry immer wieder, er sei nur da, um zu helfen. Stets lobte er die Mitspieler, wie am Wochenende, als er sagte, Arschawins Flanke sei einfach „zu einladend“ gewesen, um sie nicht zu verwandeln. Das nennt man wohl Bescheidenheit.

Ibrahimovic flog bereits achtmal vom Platz

Womit wir bei Zlatan Ibrahimovic wären. Der besitzt unzweifelhaft viele Eigenschaften, die für ihn sprechen, Torgefahr zum Beispiel. Demut gehört eher nicht dazu. Ibrahimovic protzt mit seinem Reichtum, macht sich gerne über Gegner lustig, spricht von sich selbst auch schon mal in der dritten Person, und reißt Sprüche, die viele als Arroganz auffassen. Kurzum: Der Schwede genießt einen zweifelhaften Ruf.

In der Serie A ist er derzeit – mal wieder – gesperrt, weil er beim Spiel gegen Neapel einem Gegenspieler ins Gesicht geschlagen hatte. Es war bereits sein achter Platzverweis als Profi. In der Champions League darf er aber spielen. Und wird gegen Henry und Kollegen versuchen, seine sportliche Erfolgsbilanz auszubauen. Die ist im Gegensatz zu seinem Image makellos: 21 Treffer in 26 Pflichtspielen in dieser Saison, davon vier Tore in vier Champions-League-Einsätzen.

Henry selbst hat das San Siro in guter Erinnerung. Vor neun Jahren traf er dort für Arsenal zweimal – beim 5:1-Sieg gegen Inter. Nach dem Spiel am Mittwoch geht es dann zurück nach New York. Was bleibt ist ein wahr gewordener Traum. Oder um es mit Henrys Worten zu sagen: „Das war alles ziemlich unwirklich.“

Die Toten und die Folgen

– Waren ägyptische Ausschreitungen politisches Kalkül?

Berlin/Kairo (dapd). Zurückgeblieben ist ein Schlachtfeld: Zertrümmerte, blutverschmierte Sitze, aus den Angeln gerissene Sicherheitstore, einsame Kleidungsstücke auf der Laufbahn. Die Bilder, die internationale Fernsehsender am Tag danach aus dem Fußballstadion der ägyptischen Hafenstadt Port Said verbreiten, zeigen die erschütternde Ruhe nach der Katastrophe.

Das Spitzenspiel der ägyptischen Liga hat einen Kriegsschauplatz produziert. 74 Menschen verloren am Mittwochabend nach der Partie des heimischen Klubs Al-Masri gegen Al-Ahly Kairo ihr Leben, mehr als 200 wurden verletzt. Ägyptens erfolgreichster Fußballer formuliert am Tag danach die spontane Schlussfolgerung vieler seiner Landsleute: „Es hatte auf keinen Fall etwas mit Fußball zu tun, sagt Hany Ramzy der dapd.

Ramzy hat 125 Mal für sein Land gespielt, Al-Ahly Kairo ist sein Stammverein. „Das war vorher geplant“, sagt er am Tag danach. „Das Stadion war voll, es war ein wichtiges Spiel. Es war ein guter Anlass, etwas Schlimmes zu tun.“

Schon in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag war die Beileidskundgebung von Hunderten Menschen vor dem Vereinsgelände von Al-Ahly in einen lautstarken Protest gegen den regierenden Militärrat umgeschlagen.

Auch Experten führen mögliche Szenarien mit politischem Hintergrund an. Eines davon besagt, die Sicherheitskräfte hätten die Krawalle absichtlich geschehen lassen, um die Bedeutung der Polizei in der derzeit angespannten Lage hervorzuheben. Ein anderes, dass der Militärrat bewusst wenige Polizisten eingesetzt habe, um die Ultras von Al-Ahly zu provozieren und deren Glaubwürdigkeit öffentlich weiter zu diskreditieren. „Keine dieser Annahmen ist völlig an den Haaren herbei gezogen“, schreibt James M. Dorsey in einem Beitrag bei ForeignPolicy.com. Dorsey ist Universitätsprofessor in Singapur und betreibt das Blog „The Turbulent World of Middle East Soccer“.

Für Dorsey stellt die offenbar geplante Tragödie vom Mittwoch einen Wendepunkt seit dem Sturz von Präsident Husni Mubarak dar. Sie werde „militante, extrem politisierte, gewaltbereite Fangruppen weiter isolieren und die Rufe nach Recht und Ordnung verstärken“, schreibt der Experte.

Speziell die Ultras von Al-Ahly haben aus ihrer Unterstützung für die Revolution im Frühjahr 2011 keinen Hehl gemacht. In einem Interview mit dem „11Freunde“-Magazin rühmte sich ihr Sprecher, seine Gruppe sei während der Mubarak-Diktatur „die einzige wirklich existierende Opposition junger Ägypter“ gewesen. Bei den Protesten rings um den Kairoer Tahrir-Platz gingen die Ultras geschlossen und durch jahrelange Auseinandersetzungen mit der Polizei geübt gegen die Sicherheitskräfte vor. „Das war ein Krieg, und wir haben ihn gewonnen“, bilanziert der Sprecher der „Ultras Ahlawy“ in dem Interview aus dem April 2011.

Ist der tödliche Platzsturm also ein indirekter Angriff auf diese mächtige Fanbewegung gewesen, die auch nach Mubaraks Sturz für die Ziele der Revolution auf die Straße ging? Beobachter rechnen zumindest damit, dass die „Law & Order“-Befürworter nun Rückenwind bekommen – und die Fans an Einfluss verlieren.

Fest steht jedenfalls, dass der von den Ultras schon für gewonnen erklärte Krieg weitergeht – der Mittwoch war sein bislang traurigster Tag.

„Welchen Grund hat man, Menschen zu töten?“

– Hany Ramzy über die Ausschreitungen in Port Said: „Es hatte auf keinen Fall etwas mit Fußball zu tun.“

Berlin/Kairo (dapd). Der ehemalige ägyptische Nationalmannschaftskapitän Hany Ramzy geht nach den Ausschreitungen in Port Said mit 74 Toten von einer vorbereiteten Aktion aus. „Das Spiel ging 3:1 für Al-Masri aus. Welchen Grund hat man, nach einem Sieg aufs Feld zu rennen und Menschen zu töten?“, sagte der ehemalige Bundesliga-Profi der Nachrichtenagentur dapd in einem Telefongespräch. „Das war vorher geplant. Das Stadion war voll, es war ein wichtiges Spiel. Es war ein guter Anlass, etwas Schlimmes zu tun“, sagte Ramzy weiter.

Augenzeugen hatten nach der Gewalt am Mittwochabend kritisiert, die im Stadion anwesenden Sicherheitskräfte hätten nicht entschlossen eingegriffen. Ultras von Al-Ahly waren zahlreich und gut organisiert an den Demonstrationen und Straßenschlachten rings um den Kairoer Tahrir-Platz Anfang 2011 beteiligt gewesen.

Ramzy sagte, er wisse nicht, wer für die schlimmen Ausschreitungen am Mittwoch verantwortlich gewesen sei. „Ich weiß nur: Es hatte auf keinen Fall etwas mit Fußball zu tun. Aber wer hat das getan? Das ist das große Fragezeichen“, sagte Ramzy, der das Spiel in Kairo am Fernseher verfolgte. „Die Atmosphäre ist sehr seltsam. Jeder spricht über das, was gestern Abend passiert ist.“ Ramzy zeigte sich fassungslos über das junge Alter der 74 Menschen, die bei den Ausschreitungen ihr Leben ließen: „Die Toten sind fast alle zwischen 15 und 20 Jahre alt. 90 Prozent sind unter 20 Jahre alt. Wer wird dafür bezahlen?“, sagte Ramzy der dapd.

Ursprünglich habe er das Spiel zwischen Al-Masri und Al-Ahly am Mittwochabend im Stadion von Port Said verfolgen wollen, sagte der 44 Jahre alte Ex-Profi, der derzeit die ägyptische U23-Mannschaft als Trainer auf Olympia in London vorbereitet. Nur wegen einer Erkrankung seines Sohnes sei er in Kairo geblieben. Vier seiner Spieler hätten im Kader der beiden Teams gestanden, drei beim Gastgeber Al-Masri, einer bei Al-Ahly. Erst nach Stunden habe er sie telefonisch erreicht. „Die Spieler von Al-Ahly waren drei Stunden nach dem Spiel in der Kabine eingesperrt. Es gab Panik. Dann kam ein Militärflugzeug und hat sie zurück nach Kairo geflogen.“

Wie es sportpolitisch weitergehe, sei unklar, sagte Ramzy. Denkbar sei, dass die gesamte restliche Fußballsaison der ägyptischen Liga wegen der schlechten Sicherheitslage abgesagt werde. „Das wäre ein großes Problem für unsere Olympia-Vorbereitung“, sagte Ramzy.

Ramzy, der zwischen 1994 und 2005 insgesamt 228 Bundesligaspiele für Bremen und Kaiserslautern absolvierte, spielte als Jugendlicher und als Jungprofi bei Al-Ahly Kairo.

Mozart findet sein Glück

– Fußball-Jahr 2011: Thomas Broich scheiterte in der Bundesliga – und blüht in Australien auf

Berlin/Brisbane (dapd). Seinen Anruf aus Australien beginnt Thomas Broich gleich mit einem lauten Lachen. „Da habt ihr ja eine tolle Warteschleife!“, sagt er. „Mozart! Extra für mich, wie?“ Über den Mozart kann Broich mittlerweile lachen. Und das, obwohl am Mozart seine Karriere in Deutschland zerbrochen ist. Vor anderthalb Jahren war Thomas Broich ganz unten. Er floh nach Australien. Und fand dort sein Fußballglück.

Ende 2011 ist Thomas Broich in seiner neuen Heimat ein gefeierter Star. Er blickt auf das erfolgreichste Jahr seiner Karriere zurück, hat kürzlich mit seinem Team australische Sportgeschichte geschrieben – 36 Spiele in Folge ungeschlagen. Viel wichtiger aber: „Er hat da unten ein Stück weit seinen Frieden gefunden.“ Sagt Filmemacher Aljoscha Pause, der die Anti-Karriere des heute 30-Jährigen begleitet und auf 120 Minuten Film konzentriert hat.

Doch bevor es um die Gegenwart gehen kann, stellt sich die Frage: Was lief schief in der Vergangenheit?

Plump gesagt hat sich Broich ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt. Als Jungprofi stilisiert er sich als „kickender Philosoph“, so beschreibt er es heute selbst, er liest in der Kabine Reclam-Heftchen, hört klassische Musik – und hat seinen Spitznamen schnell weg: Mozart. So lange es sportlich läuft, er in Gladbach als „neuer Netzer“ gefeiert wird und Köln zum Wiederaufstieg verhilft, geht die Nummer gut. In den Tiefs, die immer öfter kommen und länger werden, setzt sich dagegen eine unheilvolle Spirale in Gang.

Schon zu Beginn habe er bei Broich zwei Seiten beobachtet, sagt Pause, der in acht Jahren ein enger Freund geworden ist. Einerseits den „ganz kessen, intelligenten, eloquenten und sehr humorvollen, schelmenhaften Typen“. Andererseits einen „nachdenklichen, zurückhaltenden und vorsichtigen“ Menschen. Zwischen Naivität und Selbstüberschätzung pendelnd habe er sich selbst das Leben schwer gemacht.

Entscheidend auch die Trainer: Mit knurrigen Autoritäten wie dem Holländer Dick Advocaat kommt Broich nicht klar, unter milderen Coaches wie dem Schweizer Hanspeter Latour blüht er auf. Immer mit dabei: das Mozart-Image. Der will nur schön spielen. Der kann den Druck nicht ab. Broich kontert das, indem er sich noch mehr auf sein Selbst zurückwirft. Er zieht in eine WG, macht Musik, raucht und sumpft, macht auf unverstandenen Künstler. „Ich bin selber bereitwillig in die Falle getappt“, sagt er heute.

Im Sommer 2010, nach sieben Jahren Bundesliga, ist aus dem einstigen Hoffnungsträger auf Augenhöhe mit Lahm, Schweinsteiger, Kuranyi und Podolski ein gefrusteter Endzwanziger geworden, beim Abstiegskandidaten Nürnberg aussortiert. In den Wochen und Monaten zuvor habe er sich nur noch „bleiern und steif“ gefühlt, sagt er. „Ich war unfassbar schlecht.“

Sein Mitspieler Dario Vidosic vermittelt den Kontakt zum australischen A-League-Klub Brisbane Roar, wo dessen Vater Co-Trainer ist. Broich sagt zu. Je weiter weg von der Bundesliga, desto besser. Obwohl die Saison erst im August beginnt, fliegt der Fußball-Auswanderer schon im Mai nach Australien. „Er ist sehr intensiv in sich gegangen“, sagt Pause. Als er mit seinem Klub in die erste, kleine Krise gerät, ist Broich dennoch drauf und dran, erneut den Selbstzweifeln zu verfallen. „Bis ich gemerkt habe, der ganze Druck und die negative Art kommen von innen.“

Broich wird das Herz seiner Mannschaft, sein Trainer gibt ihm das Gefühl, unverzichtbar zu sein. Er spielt guten Fußball, vielleicht seinen besten. Mit dem befreit aufspielenden Deutschen eilt Brisbane Roar von Sieg zu Sieg, schließt die Runde als Erster ab.

Doch im „Grand Final“, dem alles entscheidenden Spiel um die Meisterschaft am 13. März, geht plötzlich nichts mehr. Das Tor der Central Coast Mariners ist wie vernagelt, 0:0 nach 90 Minuten. Und vier Minuten vor dem Ende ist der Underdog 2:0 vorne. Dann folgen Momente, die es im Fußball selten gibt – egal, wo er gespielt wird.

In der 117. Minute leitet Broich einen Querpass mit einer blitzschnellen Drehung weiter, der Brasilianer Henrique verkürzt. In letzter Minute, keiner im Stadion sitzt mehr, flattert noch einmal eine Broich-Ecke in den Sechzehner, direkt auf den Kopf des wuchtigen Erik Paartalu und von dort zum Ausgleich ins Netz. Im Elfmeterschießen gewinnt Brisbane Roar seine erste Meisterschaft und Broich den ersten Titel seiner Karriere.

„Das war ein Wunder, ganz klar“, sagt Broich rückblickend. „Es war schon alles vorbei.“ Schicksal? Broich zögert. „Ich denke eigentlich nicht so“, sagt er dann, „aber das hatte schon schicksalhafte Züge. Wir hatten es uns sowas von verdient. Es hat einfach sollen sein.“

Regisseur Pause hätte sich kein besseres Ende für seinen Film ausdenken können, der wenige Tage später in Berlin Premiere feiert. Heimkehrer Broich ist nervöser als je vor einem Fußballspiel, versinkt im Laufe der Vorstellung immer tiefer in seinem Kinosessel. „Es war schon heftig, die eine oder andere Aussage von früher zu verdauen“, sagt er. „Manchmal dachte ich: ‚Nein, das hast du nicht wirklich gesagt, oder?'“ Am Ende gibt es tosenden Applaus für „Tom meets Zizou“, benannt nach Broichs größtem Vorbild, Zinedine Zidane. Der große französische Fußballkünstler war mit 30 Welt- und Europameister und Champions-League-Sieger.

Und Thomas Broich, 30 Jahre, Australien, ist glücklich.

Das dritte Tor

– Englands WM-Held Geoff Hurst wird 70 Jahre alt

Berlin (dapd). Hurst? Wembley! Wenige Namen sind mit einem Ereignis so eng verknüpft wie der von Geoff Hurst mit dem Tor zum 3:2 im WM-Finale von 1966. Er ist der Mann, der den Ball in der 101. Minute über Hans Tilkowski an die Latte donnerte und damit die hartnäckigste Debatte der Fußball-Geschichte auslöste. Er bescherte England den einzigen großen Titel in der Sportart, die auf der Insel erfunden wurde. Und, fast nebenbei, ist der Stürmer von West Ham United bis heute der einzige, dem drei Tore in einem WM-Finale gelangen. Am Donnerstag wird Geoff Hurst 70 Jahre alt.

Zehn Minuten sind gespielt in der Verlängerung im Londoner Wembley-Stadion, die Gegner und Außenseiter Deutschland nur durch den Last-Minute-Treffer von Wolfgang Weber erreicht hat. Das Spiel wogt hin und her, beide Teams wollen die Entscheidung. Nun ein schneller Angriff der Engländer über die rechte Seite, von wo Alan Ball aus vollem Lauf scharf an den Fünfmeterraum flankt. Hurst reagiert am schnellsten, stoppt den Aufsetzer und schießt aus der Drehung – schon dass er den Ball in dieser Lage am Fünfmeterraumeck überhaupt derart gefährlich aufs Tor bekommt, ist eine Leistung für sich. Tilkowski streckt sich vergeblich – und Wembley hält den Atem an.

Weil Schiedsrichter Gottfried Dienst zögert, will jede Seite eine für sie vorteilhafte Entscheidung beschwören. „Hei! Nicht im Tor! Kein Tor!“, ruft ARD-Kommentator Rudi Michel. Und schiebt nach einer kurzen Pause ein leise zweifelndes „Oder doch?“ hinterher. „It must be a goal! I would have thought that went in!“, schickt derweil der BBC-Radiokommentator Brian Moore über den Äther. Wie wir wissen, bekommt er Recht. Dazwischengeschaltet wird vom zweifelnden Schweizer Referee der „russische“ Linienrichter, Tofik Bachramow, den die Engländer danach lieben, die Deutschen verachten.

2004 wird auch Geoff Hurst zugegen sein, wenn in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, Bachramows wirklicher Heimat, eine Statue zu Ehren des Linienrichters enthüllt wird. Verständliche Dankbarkeit: Hätte Bachramow auf Diensts Frage nicht so entschlossen genickt, wer weiß, wie dieses Endspiel ausgegangen wäre, und welchen Platz Geoff Hurst heute in der englischen Sportgeschichte einnehmen würde. So aber ist sein Ruhm in der Heimat auf alle Zeiten gesichert, 1998 schlug ihn die Queen zum Sir.

Was hinter all den Kontroversen fast verblasst: Bis heute hat keiner außer Hurst drei Tore in einem Endspiel geschafft. In der ersten Halbzeit hat er Helmut Hallers 1:0 ausgeglichen, in letzter Minute macht er endgültig alles klar. Kritiker wenden ein, dass auch das 4:2, Hursts dritter Treffer mit der letzten Aktion des Spiels, zumindest kuriose Begleitumstände hat. Dienst hat die Pfeife schon im Mund, lässt dann aber doch noch den letzten englischen Angriff ausspielen. Während Hurst alleine auf Tilkowski zustürmt, tummeln sich bereits einige feiernde Fans in der deutschen Hälfte. Legendär werden die begleitenden Worte von BBC-Mann Kenneth Wolstenholme: „There are people on the pitch, they think it’s all over. (Hurst trifft.) It is now.“

Das Finale von Wembley ist dabei erst das achte Länderspiel des 24-jährigen Angreifers. Das Ende seiner Nationalmannschaftskarriere kommt sechs Jahre später, natürlich in Wembley gegen Deutschland. Die 1:3-Viertelfinal-Niederlage bei der EM 1972 ist sein letzter Auftritt für die „Three Lions“. Ein Tor gelingt ihm diesmal nicht. Nach 60 Minuten wird der WM-Held ausgewechselt.

Nach dem Ende seiner Profi-Laufbahn, die er 1976 in den USA ausklingen lässt, wird Hurst Trainer, ist aber zumeist nur in der zweiten Reihe zu finden – unter anderem als Assistent von Nationaltrainer Ron Greenwood. Dem Erfolg, den er einst mit seinem Hattrick herausschoss, läuft das englische Team seitdem hinterher. Und so steht der Name Geoff Hurst nicht nur für das Ende der langen Titellosigkeit, sondern auch für den Beginn des nächsten englischen Traumas.