»Händel hätte gesagt: Gut für dich!«

– In Wembley erklingt sie zum 21. Mal vor einem Finale: Die Champions-League-Hymne. Komponiert hat sie einst der Engländer Tony Britten. Ein Gespräch über die Kraft der Klassik, schwierige Textfindung und die Angst des Stefan Effenberg (11FREUNDE #139)

Tony Britten, 1992 beauftragte die UEFA Sie damit, eine Hymne für einen neuen, sonderbaren Wettbewerb namens Champions League zu komponieren. Hatten Sie mit Fußball damals überhaupt was am Hut?
Nicht wirklich. Ich war wenn überhaupt eher an Rugby interessiert. Über die Jahre habe ich dann aber doch einige Spiele gesehen, vor allem natürlich in der Champions League. Und was soll ich sagen: Sie sind die Besten. (lacht)

Welche Anforderungen stellte die UEFA an Sie?
Sie wollten definitiv etwas Klassisches. Etwas, das genügend Schwere hat. Und keinen Solisten. Damals waren die »Drei Tenöre« gerade sehr angesagt. Es war also schnell klar, dass es eine Art Choral werden würde. Aber es sollte auch nicht so klassisch sein, dass ein Massenpublikum wie beim Fußball abgeschreckt wird.

Die Basis für die Hymne bildete schließlich Georg Friedrich Händels Stück „Zadok the Priest“ von 1727.
Von Händel habe ich nur die aufsteigenden Streicher zu Beginn genommen – anders als das einige böse Zungen später behauptet haben. Mit den hohen Trompeten, die dann einsetzen, gab ich dem Stück einen ganz eigenen Sound. Die Musik war ziemlich schnell fertig, das ist eigentlich immer ein gutes Zeichen.

Und der Text?
Der dauerte etwas länger. Am Anfang hatten wir nur die Kernbotschaft: Es ging um die Besten der Besten. Eine Liga für sich. Also erstellte ich eine endlos lange Liste mit Superlativen, die ging über mehrere Seiten! (lacht) Die einzelnen Phrasen ließ ich mir wörtlich in die anderen UEFA-Sprachen übersetzen, ins Deutsche und Französische. Daraus bastelte ich dann den Text.

Einige Passagen, speziell die beiden Strophen, klingen für Muttersprachler ziemlich hölzern. Beispielsweise wenn es um »eine große sportliche Veranstaltung« geht.
Das haben mir damals schon die Übersetzer gesagt. Mir war das bewusst. Am Ende ist die musikalische Funktion der Worte aber mindestens genau so wichtig wie ihre Bedeutung. Am Ende musste ich die Musik entscheiden lassen.

Wie lange dauerte es von der ersten Idee bis zur Fertigstellung?
Nicht sehr lange, das war eine Sache von Wochen, höchstens ein paar Monaten. Die meiste Zeit haben wir dafür gebraucht, all die verschiedenen Versionen vorzubereiten. Vor 20 Jahren forderte noch fast jeder Fernsehsender eine andere Tontechnik. Die einen wollten Dolby, die anderen Stereo, die Russen wollten sogar noch Mono haben. Ich musste einen Mitarbeiter nur dafür einstellen, am Schluss stapelten sich im Studio meterhoch die Kassetten.

Händels Originalstück ist bis heute fester Bestandteil jeder englischen Krönungszeremonie. Gibt es da Parallelen zu einem Champions-League-Endspiel?
Die offensichtliche Ähnlichkeit ist: Es sind beides sehr strikt organisierte Feiern. Das erfordert Monate der Vorbereitung, egal ob bei einer Krönung oder einem Finale. Die Musik muss stimmen, jedes Element muss stimmen. Und es muss am Ende mühelos wirken.

Sie sind auch studierter Dirigent. Haben Sie Ihre Hymne je live aufführen können?
Oh ja. Unvergesslich war das Finale von Bayern gegen Valencia, im San Siro. Wir bekamen nach endlosen, typisch italienischen Verhandlungen die Erlaubnis, mit dem Chor der Mailänder Scala zu arbeiten. Das Stadion war brechend voll. Die UEFA-Offiziellen hatten große Angst, dass uns keiner zuhören würde. Ich stand mitten auf dem Rasen, die Spieler waren schon da. Direkt neben mir stand… Wer war nochmal Bayerns großer Raufbold damals? Stefan…

… Effenberg?
Genau der. Er stand vielleicht anderthalb Meter von mir entfernt. Und wissen Sie was: Selbst der sah richtig ängstlich aus, ganz blass. Als das Orchester-Playback begann, konnte ich überhaupt nichts hören, so laut war es. Gottseidank fiel das auch den Tonleuten auf, die drehten die Musik noch ein bisschen lauter. Der Chor musste einen halben Takt überspringen und wir bekamen gerade noch den Einsatz.

Ein Auftritt vor 75.000 Zuschauern. Einer ihrer größten Momente als Musiker?
Ja. Es war so wild und verrückt und großartig. Das Erlebnis für all die Fans im Stadion und die Millionen am Fernseher noch steigern zu können, war wirklich ein sehr schönes Gefühl.

Wenn Sie Ihre Hymne mit drei Adjektiven beschreiben müssten, welche wären das?
Das ist schwer. Mal sehen… Also: Erhebend. (kurze Pause) Zugänglich. Und… (längere Pause) sagen wir: inspirierend. Ich will nicht vermessen klingen, aber diesen Zweck soll sie erfüllen.

Warum funktioniert klassische Musik in diesem Fall besser als ein moderner Jingle?
Weil sie zeitlos ist. Sie ist eine Sprache, die die Leute verstehen. Wenn Sie einen zeitgenössischen Song schreiben, Pop, Rock, House, dann wird der in einem Jahr veraltet sein. Als die Champions League überall bekannt geworden war, forderten die Sender moderne Versionen der Hymne. Wir gingen also wieder ins Studio und nahmen eine Rock-and-Roll-Version auf, eine Funk-Version und eine Disco-Version. Da waren gute Sachen dabei. Aber keiner wollte sie am Ende haben. Alle entschieden sich für die Urfassung.

Haben Sie mal Beschwerden von Verfechtern der Hochkultur bekommen, weil Sie Händel missbraucht haben?
Wenn es sie gab, dann nicht direkt an mich. Ich finde auch, dass man aufpassen muss, Klassik nicht billiger zu machen, durch schlechte Sänger etwa. Aber ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass Georg Friedrich Händel gesagt hätte: Oh, gut für dich, mein Junge!

Erhalten Sie eigentlich auch im 21. Jahr noch Tantiemen, wenn die Hymne gespielt wird?
Ja, von der UEFA. Die übertragenden Sender bezahlen ja horrende Summen. Das bisschen, das für mich abfällt, nehme ich also keinem weg. Ich bin kein Millionär, doch es geht mir gut. Aber von dem, was die Fußballprofis kriegen, kann ich nur träumen.

Stell dir vor, es ist Derby…

– Hertha gegen Union, die Rivalität lebt in der vierten Liga fort – im ganz Kleinen. Ein Ortsbesuch

Es sind wirklich viele Polizisten da. Sehr viele Polizisten. Wannen, die am Falkplatz stehen. Wannen, die vor der Haupttribüne stehen. Wannen, die quer im Weg stehen. Ja, sogar: Ein Wasserwerfer. An allen Einlasstoren: Schwarze Uniformen über Schutzpolstern. Derbykleidung.

Hertha gegen Union. Charlottenburg gegen Köpenick am Mauerpark. Hat doch was, oder? Auch wenn es, hier in der vierten Liga, nur das kleine Derby ist, das der U23-Teams, „der Zweeten“, wie die Leute auf der Tribüne sagen.

Ein sind wirklich ein paar Fans gekommen. Vielleicht nicht so viele wie Polizisten, aber immerhin. Die Minuten vor dem Anpfiff. Zeit des Pop. Lana del Rey spielt Videospiele, Lykke Li folgt Flüssen. Hier folgt man den Blauen oder den Roten. Unten knippern zwei Hertha-Fans ein Banner an den Zaun. „Supporters U23“ steht drauf. Nach wenigen Sekunden nehmen die beiden es wieder ab. Dann hängen sie es falsch herum wieder auf. Die Schrift steht nun auf dem Kopf. Vielleicht ein Statement. Man wüsste gerne, wofür.

Der Stadionsprecher verliest die Aufstellungen. Applaus bei Herthas Nummer 30: „Andreas, Zecke, Neuendorf!“ Der Altmeister sitzt auf der Bank. Kann aber jederzeit kommen. Eine 37 Jahre alte Kampfansage.

Es plätschert dann so ein bisschen dahin. Irgendwann: Freistoß Hertha. „Ronnyyyyyy!“, brüllt einer los. „Ronnyyyyyy!“, antworten ein paar andere. Gelächter. Wer weiß, wo der Brasilianer gerade ist, hier ist er natürlich nicht. Union macht kurz darauf das 1:0. Wichtiger Treffer im Abstiegskampf. „Cottbus hat schon gegen Halberstadt verloren“, sagt einer auf der Tribüne.

Foul, ein Roter am Boden. „Scheiß Unioner!“, ruft ein Glatzkopf. „Hau ihm auf die Fresse!“ Kann man sehr gut hören im ziemlich leeren Jahnsportpark. „Genau! Immer ruff!“, antwortet ein Unioner. Gelächter. Gut zu wissen: Keiner nimmt hier irgendwen ernst.

Und dann ist Ronny plötzlich doch da. Unten am Zaun. Das Trikot mit der Nummer 12 spannt. Ronnys Körper ist eher birnenförmig. Ronny hat einen Rucksack dabei, daraus holt er Schal um Schal und knotet sie sich an die Unterarme. Irgendwann hat er an jedem mindestens fünf. Halbzeitpfiff. Ronny klatscht.

Pausen-Unterhaltung auf dem Klo: „Ey, nicht vordrängeln!“ – „Jaja, okay.“ – „Ehrlich, das ist U23. Hier fällste uff.“

Union ist auch danach besser, Herthas Abwehr ist weiter desolat, bald steht es 2:0. Ein alter Mann mit Arcor-Kappe ruft: „Wir steigen auf und ihr bleibt hier!“ Stille. Dann ruft er: „Wir fahren nach Bayern und ihr nach Ingolstadt!“ Ronny wedelt mit einem Deutsche-Bahn-Fähnchen. Er ist nur von hinten zu sehen. Aber er sieht traurig aus. Wie einer eben, der an einem Donnerstagabend in einem leeren Stadion sitzt und mit einem Deutsche-Bahn-Fähnchen wedelt.

Andreas Neuendorf zieht sich die Trainingsjacke aus. Es ist jetzt Zecke-Zeit. Er steht schon auf der Tartanbahn, da fällt das 3:0. Zecke streicht sich über den Scheitel. Er weiß, er ist keine Kampfansage mehr, er ist jetzt nur noch eine Durchhalteparole.

Sagt ein Vater zu seinem Sohn: „Wären wir mal lieber nach nebenan gegangen.“ Nebenan, in der Schmeling-Halle, spielen gerade die Berlin Recycling Volleys. Da ist immer was los. Klatschpappen und alles. Hier singen jetzt 50 Mann: „Eisern Berlin!“ Eine vorbei laufende Polizistin beschwert sich über den Kaffeepreis. Rechts starten die Maschinen vom Flughafen Tegel in den Abendhimmel. Links steht ein Baukran. Vielleicht, denkt man sich, kriegt jede Stadt dann doch die Derbys, die sie verdient.

Vater und Sohn packen ihre blau-weißen Schals in die Tasche und gehen nach Hause. Das Spiel ist aus. Die Fans wollen noch abklatschen. Man kann sie zählen. Es sind genau sieben. Die Spieler huschen schnell vorbei. Nur Zecke bleibt länger stehen. Er unterhält sich mit den Jungs vom verkehrten Banner. Ein paar Meter weiter steht Ronny. Er hat seine Hand durch den Zaun gestreckt und wartet geduldig.

»Happel guckte sehr, sehr böse«

– Walter Eschweiler (77) war einer der ersten Stars unter den Bundesliga-Schiedsrichtern. Ein Gespräch über die Gründerjahre der Liga, den Hass der Massen und den traurigen Stan Libuda (11FREUNDE #138)

Herr Eschweiler, was ist die wichtigste Eigenschaft eines Bundesliga-Schiedsrichters?
Gelassenheit. Ein Schiedsrichter muss auch in größter Hektik absolute Ruhe ausstrahlen. Das ist das Wichtigste. Und Menschlichkeit.

Menschlichkeit?
Man darf sich als Schiedsrichter nicht so tierisch ernst nehmen. Der Schiedsrichter ist dazu da, den Regeln Geltung zu verschaffen, in vernünftiger, menschlicher Form.

Wie macht man das?
Das geht schon los, wenn man sich das erste Mal im Kabinengang sieht und begrüßt. Seinerzeit gab es beim DFB die strikte Marschroute: Bei Anpfiff müssen die Trikots in der Hose und die Stutzen nach oben gezogen sein. Na, und dann kam ein Mann wie Paul Breitner…

… der langhaarige Rebell, der 68er…
Ich habe zum ihm gesagt: »Paul, tun Sie mir den Gefallen, stecken Sie es bitte rein, nur zum Anpfiff. Aber danach darf wieder alles sein wie vorher.« Das hat geklappt. Eine Sache der Einstellung.

Der Ton macht die Musik, ist es so einfach?
Meiner Meinung nach ja. Ich hatte natürlich noch den Vorteil als Rheinländer, die Situation mit einem netten, freundlichen Wort entkrampfen zu können.

Ein bisschen Selbstironie hilft?
Richtig. Die Zuschauer sind wirklich nicht gekommen, um den Schiedsrichter zu sehen. Sie wollen das Spiel sehen.

Sie pfiffen noch ganz in Schwarz. Haben die bunten Leibchen den Schiedsrichtern Autorität genommen?
Die Kleidung alleine macht es nicht. Es geht um das Auftreten.

Hilft ausreichende Körpergröße?
Das ja. Wenn Sie klein sind, haben sie es auf jeden Fall schwerer. Das ist ungerecht, aber so ist es.

Wie kamen Sie im Proletensport Fußball an als distinguierter Konsul vom Auswärtigen Amt?
Natürlich nicht nur positiv, das ist ja klar. Der Uwe Seeler sagte mal: »Diese Politiker aus Bonn, die sind nicht nur überbezahlt, die sehen auch ganz schön schlecht.« Als er aus drei Metern danebenschoss, sagte ich: »Ich kenne sogar Lizenzspieler, die ziemlich schlecht sehen.« Er lachte und gab mir die Hand.

Dennoch wurde aus Ihnen die »Diva vom Rhein«. Wie kam das?
Nach einem Spiel von Bayern München kamen die Reporter auf den Platz und es ging sofort in rüder Tonart los, warum dies und warum jenes. Ich sagte: Meine Herren, ich bin jetzt sehr verschwitzt. Warten Sie einen Moment, ich verkleide mich als Gentleman, dann können Sie mich alles fragen.

Das haben die ihnen übel genommen?
Der tiefere Sinn war, dass ich wusste, dass sie bald Redaktionsschluss hatten. Sie waren hartnäckig und folgten mir bis vor die Kabinentür. Ich schloss ab und sagte: Schieben Sie Ihre Fragen unten durch!

Können Sie sich an Ihr allererstes Bundesliga-Spiel erinnern?
Nein.

Wir helfen Ihnen. 20. August 1966, Dortmund gegen Düsseldorf, Stadion Rote Erde.
Oh, schön!

Das Tor für den BVB erzielte Siegfried Held auf Vorlage von Stan Libuda. War der so leicht aus dem Konzept zu bringen, wie alle sagen?
Ja, den musste man immer ein bisschen aufrichten, im Vorbeilaufen, dass das keiner merkt.

Das haben Sie übernommen?
Ja, sicher. Ich sagte ihm, dass es doch weitergeht, dass er sich nicht grämen soll. Ach, der Stan, der schaute immer so traurig.

Hat Libuda Ihnen Leid getan?
Schon, ja. Und wir wissen, was später mit ihm geschehen ist. Wissen Sie, die Spieler werden von allen möglichen und unmöglichen Leuten getreten, vom Trainer, vom Manager. Und wenn dann noch der Schiedsrichter kommt… nein!

Sie sind in über 150 Bundesliga-Spielen mit fünf Platzverweisen ausgekommen. Nach heutigen Maßstäben ein Witz.
Das würde heute auch noch gehen. Man sollte nicht zu früh mit den Karten beginnen. Sie bringen sich doch selbst in Zugzwang. Mein Bestreben war immer, mit vollständigen Mannschaften wieder vom Feld zu gehen.

Fünfmal Rot, da müssten Sie sich an jeden einzelnen erinnern können.
Ich erinnere mich an Rolf Rüssmann, das war im Spiel Fortuna Düsseldorf gegen Schalke. Der rief: Schiedsrichter, du dumme Sau! Für »dumm« hat er glaube ich vier Wochen, für »Sau« acht Wochen bekommen.

Zwölf Wochen für eine Beleidigung?
Aber ja, der hat reichlich bekommen, das wurde dann aber noch abgemildert. Und der andere, das war der Günter Neues, im Spiel Hamburg gegen Kaiserslautern…

… April 1979, richtig.
Da meinte der Toppmöller noch zu mir, der hätte mich nicht gemeint. Ich sagte: »Läuft denn hier sonst noch ein Schwarzer herum?«

Dann wäre da noch Klaus Winkler vom HSV, und Günter Sebert…
Ach ja, richtig! Stuttgart gegen Waldhof Mannheim. Das war Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Manfred Ritschel von Kickers Offenbach schmissen Sie schon in der 6. Minute runter.
Im Derby gegen Eintracht Frankfurt. Er war schon in der 2. Minute verwarnt und zog dann Jürgen Grabowski die Beine weg. Das war so schlimm, dass Nationaltrainer Helmut Schön nach unten kam, weil er dachte, die Beine sind gebrochen. Gott sei Dank war es nicht so.

Bei so was kannten Sie kein Pardon?
Ich habe mich direkt von ihm verabschiedet.

Die 60er und 70er Jahre war die Zeit der ganz harten Jungs.
In Kaiserslautern haben sie nach allem getreten, was sich bewegt hat. Rehhagel, Klimaschewski und wie sie alle hießen musste man schon beim Einlaufen das Passende sagen.

Als Drohung?
Ach was, als freundlicher Hinweis. Ich habe ja nicht das Recht, die Spieler anzuschreien.

Wer waren weitere Spezialisten?
Bei Werder Bremen wussten Sie: Drei Meter vor dem Strafraum standen Höttges und Piontek. Wer da durch kam, war amputiert. Aber die waren clever, die haben mit Ball gegrätscht. Das war schwer zu sehen. Beckenbauer hat immer einen ganz großen Bogen um die gemacht, der wusste Bescheid.

Für Walter Frosch führte der DFB extra die Gelbsperre ein.
Nun gut, der Walter wollte mangelndes Spielverständnis und fehlende Technik ausgleichen. Oft visierte er schon in den ersten Minuten die Knochen an, dann habe ich ihm gleich gesagt: »Junge, lass das! Ich sehe es.«

Vorbeugende Maßnahmen.
Ganz wichtig. Ich erinnere mich an ein Spiel, da war Uwe Seeler gerade wieder gesund nach langer Verletzung. Und da hatten sie einen jungen Hitzkopf auf ihn angesetzt, den Namen weiß ich leider nicht mehr. Dem sagte ich: »Junger Mann, ich kenne Ihre Weisung. Lassen Sie es sein. Es gibt nur Ärger.« Der kam nach dem Spiel und hat sich bei mir bedankt. Das freut natürlich.

Welche Regeländerung der letzten 50 Jahre war die wichtigste?
Die Rückpassregel. Das war ja furchtbar, diese Zeitschinderei. Und als Schiedsrichter konnten Sie nichts machen.

Ihr Kollege Bernd Heynemann sagt, ein Schiedsrichter brauche vor allem ein schlechtes Gehör.
Da hat er nicht ganz unrecht. Auf dem Fußballplatz wird so einiges gesagt. Man muss sich nicht immer angesprochen fühlen.

Der Schiedsrichter hat oft das ganze Stadion gegen sich.
Ist doch egal. Ich dachte mir nur immer, wie viele nette Leute doch wieder da sind.

Aber wenn die Fans mal wieder die »schwarze Sau« hängen sehen wollten, muss Sie das doch beeindruckt haben.
Kein Problem. Erstens bin ich kein Fabeltier, zum anderen höre ich das gar nicht. Es hat doch keinen Zweck. In dem Moment, in dem Sie da zuhören, sind Sie von der konsequenten Linie weg. Die Gefahr, Fehler zu machen, ist dann riesengroß.

Ist Ihnen nie ein Spiel entglitten?
Nein, Gott sei Dank nicht.

Wie haben Sie sich auf die Spiele vorbereitet?
Erstens mal habe ich unter der Woche immer meine Kondition gepflegt.

Wie denn?
Ganz einfach: Laufen! Mindestens 20 Runden auf der Bahn. Die ersten 300 Meter laufen, dann 50 Meter spurten und die letzten 50 gehen, damit sich der vorolympische Astralkörper erholt.

Andere Kollegen wie Wolf-Dieter Ahlenfelder nahmen das mit der Fitness nicht so genau. Haben Sie auch mal vor dem Anpfiff einen genommen?
Nie. Ich rauche und trinke nicht. Deshalb kann ich zu jeder Dopingkontrolle gehen.

Geschichten wie die von Ahlenfelder, der eine Halbzeit nach 30 Minuten abpfiff, sind selten geworden. Thomas Metzen sorgte 2008 noch mal für Aufsehen, als er gleichzeitig zwei Gelbe Karten zeigte.
Das ist ja Zirkus, das geht nicht. Wir hatten damals ein ähnliches Beispiel. Horst Herden aus Hamburg hatte mal die Karten in den Strümpfen. Der wurde sofort bestraft vom DFB.

In Ihrem letzten Bundesliga-Spiel pfiffen Sie 1984 den Hamburger SV. Auf der Bank: Ernst Happel.
Der war nicht der allergrößte Freund der Schiedsrichter.

Wie hat sich das geäußert?
Indem er sehr, sehr böse guckte und grantelte. Aber da er Dialekt sprach, hätten Sie einen Dolmetscher gebraucht. Ich hab ihn zwar schon verstanden, weil ich in der Wiener Botschaft in der Ausbildung war, aber da kamen dann wieder die berühmten drei Affen zum Zuge.

Ist Jürgen Klopp in dieser Hinsicht der Happel von heute?
Ach, das ist an für sich ein ganz lieber, netter Mensch. Er lebt das Spiel. Und sein bester Freund ist eben der vierte Mann. Da wünsche ich mir manchmal etwas Gelassenheit, auf beiden Seiten. Mancher Offizielle springt ja herum wie ein Scharfrichter.

Die Coaching Zone ist heute penibel markiert. Läuft der Fußball Gefahr, an zu vielen Regelungen zu ersticken?
Sie mussten das leider machen, wegen der verschiedenen Temperamente. Sonst geht es wie mir mit Tschik Cajkovski. Der stand bei einem Spiel in Stuttgart plötzlich vor mir, mitten auf dem Platz. Ich sagte dem Kugelblitz, dass ich ihn lobend im Spielbericht erwähnen würde. Bei der nächsten Begegnung knurrte er: »Du bist Hund. Du können lesen und schreiben.«

Hat Ihnen nie mal einer einen flotten Spruch übel genommen?
Nein, ich habe die ja nie angegiftet. Das lief immer höflich und anständig ab, auch im vollen Lauf. Das geht. Ist eine innere Einstellung. Ich bin ja nicht deren Vorgesetzter.

Spricht Otto Rehhagel eigentlich wieder mit Ihnen?
Selbstverständlich. Der hat wegen mir mal drei Monate Berufsverbot bekommen. Er war in Offenbach derart aufgehetzt und rief: »Der Schiri ist bestochen.« Ganz laut, das hat die ganze Tribüne mitbekommen. Das kann man nicht mehr überhören.

Rehhagel warf Ihnen vor, Sie hätten gelogen.
Ach was, eine reine Schutzbehauptung. Hat doch jeder gehört. Ein halbes Jahr später trafen wir uns zufällig und haben uns ausgesprochen.

Rehhagel nennt sich gerne »Kind der Bundesliga«. Sie auch?
Ich sehe mich als Schiedsrichter für den Fußball, nicht mehr und nicht weniger.

Sie pfiffen noch für 72 D-Mark. Heute bekommen Bundesliga-Schiedsrichter 4200 Euro pro Einsatz. Wäre ein zweiter Fall Hoyzer zu vermeiden, wenn Schiedsrichter noch mehr Geld bekommen würden?
Das glaube ich nicht. Da ist ein junger Mann ohne große Basis in Amateurklassen nach oben geschossen worden, sprich: Jugendwahn. Man hat ja inzwischen eingesehen, dass das nichts bringt. Sie müssen eine gewisse Zeit unterklassig pfeifen, um sich das Rüstzeug zu holen.

Wäre solch ein Fall in Ihrer Generation denkbar gewesen?
Das ist eine hypothetische Frage. Aber ich denke, unter den FIFA-Schiedsrichtern nicht.

Sie sind Jahrgang 1935, haben Krieg und Zerstörung als Kind miterlebt.
Ich habe auch Schulspeisungen erlebt, weil es zu Hause nichts zu beißen gab. Das prägt.

Wie?
Man ist dankbar für jeden Tag, den man erleben darf. Ist es nicht eine wunderbare Sache, wenn Sie mit einer Pfeife große Spiele leiten dürfen, in vollen Stadien, überall auf der Welt?

Was wünschen Sie Ihren Nachfolgern für die nächsten 50 Jahre?
Ich wünsche ihnen, dass sie immer das nötige Glück haben, denn das braucht man. Dass sie optimal vorbereitet sind und dass sie wissen, dass sie eine dienende Funktion haben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und, bitte: Sie sollen sich nicht so tierisch ernst nehmen.

Tod eines Reisenden

– Christina Schien betrieb 17 Jahre lang eine kleine Kneipe am Treptower Park – bis die Deutsche Bahn ihr plötzlich kündigte. Während Schien mittlerweile in neuer Umgebung glücklich ist, steht die Immobilie auch drei Jahre später noch leer.

Am Abend, als der Bote kommt, steht Christina Schien am Tresen in ihrer Kneipe. Wo auch sonst? Es ist der 30. September 2009, gegen 19 Uhr abends. Ein Mittwoch. „Hugo der Reisende“, ein gemütliches Altberliner Lokal unten im S-Bahnhof Treptower Park, hat an diesem Abend nur ein paar Stammkunden zu Gast. Kneipen sind am Monatsende selten voll.

Als Christina Schien mit hastiger Hand den Umschlag öffnet, fällt ihr Blick gleich auf die fettgedruckte Betreffzeile: „Fristgerechte Kündigung“. Nach 17 Jahren beendet die Deutsche Bahn die Mietbeziehung in Maschinenschrift: „Bitte vereinbaren Sie einen Termin für die Rückgabe des Mietgegenstandes innerhalb der vorgenannten Räumungsfrist.“

Dreieinhalb Jahre später sitzt Christina Schien, 61 Jahre, kurze weiße Haare, am Esstisch ihrer Wohnung am Platz der Vereinten Nationen und schaut hinaus auf Berlin. Schiens Zuhause liegt hoch über dem Friedrichshain, niedrige Decke, alte Platte. Ihr Blick geht zum grau gewaschenen Horizont. Doch in Wirklichkeit ist sie jetzt wieder in ihrem Lokal, Brief in der Hand. „Sie stehen da“, sagt sie, „und verstehen die Welt nicht.“ Sie sei gerade fertig gewesen mit allem, „der Laden stand so, wie ich ihn haben wollte.“

Der „Hugo“, sie nennt ihre Kneipe immer noch wie einen verlorenen Sohn, ist mehr als ein Job, er ist ihr Lebensinhalt gewesen, von 1992 an, als sie das Objekt mit Blick auf den grünen Treptower Park von der Mitropa übernahm. Eifrige Nachwendejahre, Zeit des Aufbruchs. Auch für Schien, die Pfarrerstochter, geboren in Schöneweide bei Berlin, aufgewachsen in der Nähe von Schwedt, mit 19 zurückgekehrt in die Hauptstadt der DDR.

Bevor sie anfängt, ihre Geschichte zu erzählen, hat sie starken Kaffee gebrüht. Sie trinkt in kleinen Schlucken. Anfang 40 ist sie, als sie die Kneipe am Park übernimmt, die Kinder aus dem Haus, eine neue Aufgabe. Stück für Stück renoviert sie, zusammen mit ihrem Mann, Touristenschiffer bei der „Kreis und Stern“. Reißt die alten Pissrinnen heraus, verlegt Fliesen, verputzt und malert. Noch im Herbst 2004 erneuert sie die komplette Elektrik, rund 10.000 Euro Materialkosten, plus ein Vierteljahr Einbauzeit. Die schönsten Impressionen aus den Geburtsjahren des „Hugo“ hebt sie bis heute sorgsam in einem gebundenen Fotoalbum auf. Ein Familienalbum.

An die Bahn überweist sie Monat für Monat ihre Miete, ansonsten macht sie ihr Ding, wie schon zu DDR-Zeiten, als sie bereits eine „freie Kneipe“ betrieben hat, bloß weit weg vom ungeliebten System.

Ab 2002 läuft „Hugo der Reisende“, benannt nach der Figur mit Koffer direkt am Eingang, nur noch als Saisongaststätte, von Anfang April bis Ende Oktober. Eine Entlastung, die kalten Winter mit kaum Gästen sind vorbei. In den warmen Monaten, der Park übervoll, läuft das Geschäft dagegen gut, in der Kneipe und dem Imbiss nebenan. Der „Hugo“ gehört zum Park wie das alljährliche Hafenfest oder das Public Viewing während der WM 2006, das mehr Leute als je zuvor vor die Türen von Christina Schien spült.

Die Elektrik neu, der „Hugo“ rentiert sich, eigentlich ist nun alles perfekt. Bis zu dem Tag kurz vor Saisonende 2009, dem Tag, an dem der Bote kommt.

Einen Kündigungsgrund findet Christina Schien nicht in dem Schreiben. Sie kennt ihn bis heute nicht. „Ich wurde immer abgebügelt“, erzählt sie. „Ich habe keine Antworten bekommen. Am Telefon habe ich geweint, gedroht, eine Mischung von beidem, dass sie mal kommen und man sich Auge in Auge unterhalten können.“

Stattdessen werden Interessenten durch die Räumlichkeiten geführt. Dass ihre Kneipe neu ausgeschrieben ist, erfährt Schien so praktisch beiläufig. Mit der Zeit legt sie sich ihre eigenen Gründe für den Rausschmiss zurecht: „Ich denke, das war ein richtiger Schreibtischtäter. So wie der Chefsanierer sich die Lohnlisten ansieht und jeden vierten oder fünften streicht. In der Preisklasse lief das ab.“

Die Berliner Pressestelle der Bahn hält sich auf Anfrage im Ungefähren. Es habe „rechtliche Probleme“ gegeben, heißt es. Davon will Schien nichts wissen. Ihre These: Die Bahn habe zu deutlich höheren Konditionen neu vermieten wollen.

Die Bahn bestätigt, dass es damals einen konkreten Interessenten gegeben habe. Ein „schönes Konzept“ habe der vorgelegt, eine Mischung aus „Restaurant, Bar, Lounge, richtig schick“ – Name der neuen Lokalität: „Planwirtschaft“. Doch dann habe sich herausgestellt, dass das Objekt in schlechterem Zustand gewesen sei als angenommen. „Schimmel und Wassereinbrüche“ hätten Bauarbeiten vonnöten gemacht, die allerdings bis heute nicht begonnen sind. Für Schien kommt das nicht überraschend. Einsickerndes Wasser von den darüber liegenden Bahngleisen habe es im hinteren Kneipenbereich nach Regenfällen immer gegeben, sagt sie – eigens dafür habe sie sich einen provisorischen Abfluss gebastelt.

Der ehemalige „Hugo“ steht auch drei Jahre später noch immer leer. Schien sagt: „Die Bahn hätte ein Supergeschäft machen können mit mir. Ich habe eine Immobilie bezahlt und betrieben, die sie jetzt nicht mehr vermietet kriegt.“

Schiens Kündigung lief vertragsgemäß ab. Doch die Umstände, das Wortlose, haben Christina Schien tief getroffen – bis heute. Sie ist beim Gespräch merklich angespannt, irgendwann tupft sie sich Tränen von der Wange. „Wissen Sie“, sagt sie, „ich hatte das alles ein bisschen vermauert.“

Ihre persönliche Geschichte hat nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit immerhin eine versöhnliche Richtung eingeschlagen. Sie arbeitet wieder, als Tagesmutter für eine Familie in Prenzlauer Berg. Und hat sich verändert. „Es ist wunderbar, die Langsamkeit zu lernen“, sagt sie. „Früher war ich eine Hektiknudel ohne Ende, immer unter Spannung, nie fertig. Jetzt entdecke ich völlig andere Sichtwinkel.“ Täglich für das zweijährige Kind der Familie zu sorgen, erfüllt sie – anders als das die Kneipe bei allem engen Kundenkontakt je konnte. „Das ist mein fünftes Enkelkind“, sagt Schien und ihre Augen glänzen, vor Freude diesmal. Ihre beiden eigenen Töchter hätten ihr gesagt, sie sei ganz ausgeglichen und ruhig geworden.

Christina Schien stellt ihre Kaffeetasse ab und steht auf. Mit fester Stimme sagt sie: „Heute bin ich soweit, dass ich sage: Danke, liebe Bahn, ihr habt mich eigentlich befreit. Es tut immer noch weh, aber ich führe jetzt ein anderes Leben.“

Nase voll

– Ein Datingportal lädt zur Schnüffelparty – es kommen zwar fast nur Journalisten, ein Pärchen findet sich aber trotzdem

Die Party läuft noch nicht sehr lange, die ersten Tüten machen gerade die Runde, da hält Tanja plötzlich inne. Sie reckt ihre Nase in alle Richtungen. „Es müffelt.“ Sie schaut in die Runde. „Findet ihr nicht?“ Es stimmt. Es ist stickig, hier im Hinterzimmer. Sehr warm. Was an den ganzen Kameras liegen könnte, an den Scheinwerfern und Aufnahmegeräten, an der ganzen wuselnden Pressemeute.

Ein Altbau in Friedrichshain, Erdgeschoss. Ein junges deutsches Datingportal hat eingeladen, zur ersten Pheromon-Party Deutschlands, eine „Event-Sensation“, wie es heißt. Pheromone, das sei kurz erklärt, sind menschliche Duftstoffe. Das Prinzip des Abends: Die Teilnehmer stopfen gebrauchte T-Shirts in eine nummerierte Plastiktüte, andere Teilnehmer schnüffeln dran – und wo es besonders gut riecht (oder am wenigsten schlecht), dahinter soll der Traumpartner stecken. Der dann mittels eines Fotos entscheiden kann, ob er die nächsten Schritte einleitet. Kommt natürlich, wie jeder gute Trend, aus den USA.

Es sind wirklich viele Leute gekommen, das ist schon mal schön. Aber es sind fast ausschließlich Journalisten. Womit sich zum einen deren Arbeit erheblich erschwert. Typischer Dialog: „Und, was hast du schon so gerochen?“ – „Nichts, bin auch von der Presse.“ Den wenigen echten Teilnehmern macht es den Abend schlicht zur Hölle. Tanja hat schnell, Pardon, die Nase voll: „Ihr macht alles kaputt! Wir sollen hier den Mann fürs Leben erriechen und werden so belagert.“ Daher will sie in den Artikeln irgendwann nur noch Tanja genannt werden. Es gelingt ihr, sich aus dem Knäuel herauszuwinden, doch kaum dreht sie sich um, blinzelt sie in einen grellen Lichtkegel. Das N24-Team hat sie gestellt. „Und, hast du ihn schon gefunden? Na, deinen Traummann?“

Es ist keine ganz einfache Situation. Es schnürt einem den Atem ab. Also vor in den Empfangsraum. Vor der Sponsorenwand posiert eine Teilnehmerin mit blonden Ringellocken, Minirock und Stiefeln. „Be sexy!“, schreit sie der Hausfotograf an. „More sexy! More sexy!“ Die blonde Frau öffnet ihren Mund, schaut jetzt irgendwie lasziv, vielleicht hat sie das mal in einer Magnum-Eis-Werbung gesehen. Apropos: „Produkte zum Verlieben“, mit diesem Slogan wirbt der Veranstalter für seine Seite. Die Produkte, das sind die Männer. Die Frauen können sie in ihren Warenkorb legen. Die Liebe in Zeiten von Amazon.

Als nächstes wird ein schmaler junger Mann an die Wand gestellt, dünne Brille, kariertes Hemd. „Und, wie viele Fotos hast du schon so machen lassen?“ – „Drei.“ – „Und wonach riecht sie, deine Lieblingsfrau?“ – „Keine Ahnung, angenehm.“ – „Wie angenehm?“ – „Angenehm halt. Keine Parfümbombe oder zu viel Schweiß. So, dass man sich vorstellen kann, neben dieser Frau aufzuwachen.“ Das ist dann tatsächlich mal ein halbwegs schöner Satz. Doch der junge Mann muss schnell weg, er hat schon sehr viele Interviews gegeben.

Zurück in den Mittelraum, auf Ledersofas plaudern Bier trinkende Journalisten. Die ersten Facebook-Anfragen gehen raus. Informationen machen rasend schnell die Runde, das ist der Vorteil. So spricht sich schnell herum, dass die beiden schönen Menschen neben Tanja eigentlich Models sind, die sich das RTL-Team als Protagonisten mitgebracht hat. Praktisch. Er könnte so vom Typ her der Sohn von Detlef „D!“ Soost sein, ist eigentlich Tänzer. Seine Tattoos werden leider vom Muskelshirt halb verdeckt. Und sie ist die Sorte Frau, die sich ihre Haare schwarz färbt. Aus ihrem knallengen Büchslein ragt ein weißes iPhone-Cover heraus, mit ein paar funkelnden Edelsteinen drauf, immer mal wieder zieht sie es mit spitzen French-Nail-Fingern heraus. Der Kameramann ist dagegen einfach nur ein echter Profi. Sein Spezialgebiet: Rasend schnelle Schwenks. Von der Foto-Leinwand auf die Models. Und zurück.

Und dann wird’s ernst. Ein Indie-Typ mit Hut hat sich mit der Nummer des Models ablichten lassen. Das Team rüstet sich zum Angriff. Schwarzhaarige vorweg, dicht dahinter Reporter, Kamera-Profi und dann der stolpernde Tonmann, er kommt kaum hinterher. Es ist zu eng, zu laut, man kann leider nicht hören, wie das Gespräch so anläuft.

Tanja hat irgendwann genug. Sie zieht sich die Jacke an. „Gehst schon?“ – „Guck dir mal die Leute an“, sagt sie, „da spricht heute keiner mehr irgendwen an.“ Auf dem Weg nach draußen kommt sie an der Schwarzhaarigen und dem Hut vorbei, die sich tatsächlich immer noch unterhalten, die Kamera ist längst aus, der Beitrag im Kasten. Wie sie so dastehen, geben sie ein großartiges Pärchen ab. Der Singer-Songwriter und die Großraumdisko. Zu gerne würde man ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, ob und wie sie sich riechen können, zum Beispiel, aber das wäre nicht angebracht. Genug geschnüffelt.

Der Fußball-Botschafter

– Der Deutsch-Türke Mehmet Matur wirbt für mehr Integration auf Berlins Sportplätzen – ein Tag mit einem überzeugten Ehrenamtler

Mehmet Matur ist ein geduldiger Mann, das ist vielleicht das Allerwichtigste. Ein früher Mittwochnachmittag im „Haus des Fußballs“. Im Sitz des Berliner Fußball-Verbands tagt der Integrations-Ausschuss. Es geht um eine wichtige Sache, um den Sozialpreis, der an engagierte Klubs vergeben wird. Doch es ist wie so oft bei diesen Sitzungen: Es wird sehr viel geredet. Über die Preisverleihung, den Programmablauf, die Sitzordnung, das Catering, die Show-Acts, die Besetzung der Jury. In der Ecke hängt ein Plakat, darauf steht: „Wir leben Fußball. Bevor aus Frust Gewalt wird“.

Mehmet Matur sitzt ruhig da und hört zu. Er trägt eine strahlend weiße Trainingsjacke von Werder Bremen. Nicht nur Sympathie, ein Statement. Werder hat Ende März den DFB-Integrationspreis verliehen bekommen. Mehmet Matur ist im Berliner Fußball der wichtigste Mann in Sachen Integration, auch wenn er das selbst nie unterschreiben würde. 1960 in der Türkei geboren, mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen, sitzt er seit 2004 auf Betreiben von BFV-Chef Bernd Schultz im Präsidium. Der erste Migrant überhaupt. Als langjähriger Funktionär von Türkiyemspor kennt er auf Berlins Fußballplätzen so ziemlich alles und jeden. „Er ist sehr direkt und jemand, der stark den persönlichen Kontakt sucht“, sagt Schultz. Fast jeden Tag ist Matur unterwegs, zu Punktspielen und Klubheimen, 30 bis 40 Stunden die Woche, schätzt er. Alles ehrenamtlich.

„Meine Verwandten in der Türkei glauben mir das nicht.“ Die Sitzung ist vorbei, Matur steuert seine schwarze A-Klasse durch den Stadtverkehr. Dass jemand 30 Stunden die Woche arbeitet, ohne Geld dafür zu bekommen, das verstehen sie nicht. „Aber es ist ja keine Arbeit“, sagt Matur. „Ich setze mich ein, ich will dem Fußball dienen. Doch sie denken trotzdem, dass ich irgendeinen Vorteil verfolge, dass ich Bürgermeister werden will oder Abgeordneter.“ Matur lacht, aber er beschreibt da eines der Probleme, gegen die er ankämpft. Ihre Kinder spielen fast alle Fußball, aber es gibt nach wie vor zu wenige Migranten, die sich ehrenamtlich einsetzen. Immerhin: Ihr Anteil steigt, 2010 lag er deutschlandweit laut DOSB bei 13 Prozent, drei Jahre zuvor noch bei 7,2. Ein anderes Problem ist die Gewalt, oft aus Vorurteilen gespeist.

Matur ist Fußball-Botschafter, er wirbt für Verständnis und Annäherung, auf beiden Seiten. Dafür, dass die Weihnachtsfeier vielleicht stattdessen Abschlussfeier genannt wird, damit sich auch die muslimischen Mitglieder willkommen fühlen. Dafür, dass sich Migrantenvereine deutsche Namen geben, um sich zu öffnen, wie der Neuköllner Klub Galatasaray, der nun Rixdorfer SV heißt. „Ich wünschte, es wäre nicht so, aber der Name spielt eine Rolle“, sagt Matur. „Traurig, aber wahr“, viele seiner Sätze beginnen so oder so ähnlich.

Nach einer halben Stunde parkt Matur seinen Wagen in der Erkstraße. Hier, im Herzen von Neukölln, betreibt er mit seinem Bruder das „Butterfly Sporthaus“, seit bald 20 Jahren. In dem engen Büro hinter dem Verkaufsraum stapeln sich Schuhkartons, bis hoch zur Decke. An den freien Stellen: Vereinswimpel. Ankaraspor, Türkiyemspor, BSC Rehberge, und der rot-weiße Wimpel des BFV. Daneben die Autogrammkarte von Mesut Özil. Und gerahmte Fotos: Matur mit Prinz Charles. Matur mit Joachim Löw und Oliver Bierhoff. Auf dem Tisch liegt die aufgeschlagene „Fußball-Woche“.

Bei einem Tee umreißt Matur seine Lebensgeschichte, und mit jedem Satz wundert man sich mehr, dass er immer noch hier vor einem sitzt.

Matur erzählt von den Anfängen, den Schwierigkeiten. Wie er in Deutschland der Einfachheit halber zwei Klassen zurückgestuft wird, weil er kein Deutsch kann. Wie er trotzdem ein Jahr später eine Gymnasialempfehlung bekommt. Wie sein Vater, ein einfacher Mann, der selbst nur die Grundschule besucht hat, den Sohn trotzdem auf die Hauptschule schickt. Und: Wie ihn die Fußballmannschaft aufnimmt, Tura Hennef, er spricht den Namen noch heute aus als wäre er ein Himmelsgeschenk, der Trainer kauft ihm Schuhe und Trainingsanzug, weil seine Eltern jeden hart verdienten Pfennig für später sparen. Mit 16 muss er zunächst auf Wunsch der Familie wieder in die Türkei, doch Anfang 20 kehrt er alleine wieder nach Deutschland zurück, er vermisst die Freunde und, wie er sagt, „die Ruhe und die Ordnung“.

Es folgen der Umzug nach Berlin und elf Jahre bei der BVG. Es folgt: eine Desillusionierung. Matur ist nun der, der er in Hennef nie war: der Fremde, der „Eseltreiber“, wie sie ihn nun nennen. Mehmet Matur ist niemand, der böse Worte über andere Menschen verliert, aber die Namen derer, die ihn gekränkt haben, weiß er noch heute. Nach dem Türkei-Urlaub sagt eine Kollegin: „Die sind ja gar nicht so wie ihr.“ Maturs Blick bleibt sanft, scheinbar ungerührt, als er das erzählt, nur ab und zu fasst er sich schnell an den Hals, um den Reißverschluss seiner Jacke ein Stückchen weiter aufzumachen. Er erzählt von einem Spiel in Neustrelitz, bei dem seine Mannschaft mit Bier beworfen wird. Von dem Tag, als der türkische Botschafter ein Pokalspiel beim BFC Dynamo vorzeitig verlassen muss, auf Drängen seiner Sicherheitsleute. „Wissen Sie“, sagt Matur. „Ich habe mich damals in Hennef nie wie ein Fremder gefühlt. Aber heute spüre ich das, obwohl ich schon so lange hier bin.“

Als Matur die BVG verlässt, 1994, steht er vor der Wahl: Kapitulieren oder bleiben. „Ich bin Steinbock. Ich wollte mich wehren, nicht nur alleine, sondern mit anderen. Man sollte nicht durch den Willen von ein paar Idioten weggehen, nur aus eigenem Willen.“ Matur bleibt.

Ein Blick auf die Uhr. „Wir müssen los.“ Wieder ins Auto und den kurzen Weg hinüber zum Columbiadamm. Hürtürkel gegen Tennis Borussia, Punktspiel in der Berlin-Liga. Keine ganz normale Partie, TeBe bringt viele Fans mit, im Vorfeld hat es außerdem wohl ein paar zweideutige Facebook-Botschaften gegeben. Hürtürkel steht ohnehin im Fokus, seit der Klub im letzten Jahr wegen antisemitischer und rassistischer Äußerungen bei einem Spiel mit Punktabzug bestraft wurde. Matur sagt: „Der Verein hat eine gute Reaktion gezeigt, mit der Polizei kooperiert, Spieler und Trainer zu Anti-Gewalt-Kursen geschickt“.

Aber eine Fahrt ins Stadion ist immer eine Fahrt ins Ungewisse, nicht nur was das Ergebnis angeht. Matur ist angespannt. „Ich habe Magenkrämpfe“, gesteht er. „Ich hoffe, dass der Tag gut zu Ende geht.“

Es ist ein milder Abend. Vor dem Stadioneingang stehen zwei Polizei-Wannen. Drinnen sind die Fangruppen geteilt, mit rot-weißem Absperrband und kleinen Pappschildchen. „Heim“ steht rechts, „Gast“ links. „Das ist schon mal gut“, sagt Matur. Er schüttelt viele Hände. An einem Stehtisch begrüßt er eine Frau. Neben ihr steht ein Rentner. Schnauzender Rentner: „Warum seid ihr so teuer geworden?“ Matur schaut ihn an. „Wieso wir? Ich gehöre nicht zu Hürtürkel. Ich komme vom Berliner Fußballverband.“ Grimmiger, schweigender Rentner. Matur sagt: „Ich habe meinen Eintritt gezahlt, wie alle anderen.“ Beim Weitergehen schüttelt er leicht den Kopf.

Der Eintrittspreis sorgt für Unmut. Zehn Euro verlangt Hürtürkel zunächst, später dann nur noch acht. Auch das nicht gerade wenig für ein Sechstligaspiel. Gut 50 TeBe-Fans weigern sich, zu zahlen, und verfolgen das Spiel lieber von draußen, durch den Zaun.

Es bleibt alles friedlich. Das Spiel ist schon zur Pause entschieden, Hürtürkel führt 4:1. Nur kurz wird es hitzig, aber es ist nur der ganz normale Frust der Verlierer, man schüttelt sich schnell wieder die Hände. Die zweite Hälfte plätschert dahin. Sommerabendstimmung. Auf der Tartanbahn spielen ein paar Kinder. Die Fans hinterm Zaun singen ein paar halb-ironische Gesänge. Dann ist Schluss. Mehmet Matur trinkt noch einen Tee. Gegessen hat er in der zweiten Halbzeit auch endlich was. Der Magen ist wieder okay. Ein guter Abend. Ein normaler Abend. Es ist jetzt dunkel, aber die weiße Werder-Jacke ist noch weithin zu sehen.

Mützen und Glatzen

– Zum Kampfabend in Neukölln kommen nicht nur Eingeweihte, sondern auch Szenemenschen – auf der Suche nach Härte und Helden im „Huxley’s“

Keine Stunde mehr bis zum Kampf, und Ivan hat ein Problem. Das verdammte Antibiotikum! Ivan hält sich die offene Hand vor den Hals. „So dick war der. Mandelentzündung. Konnte bis vor kurzem kaum schlucken.“ Zwei Wochen kein Training, den Körper voll mit Arznei. So soll er gleich in den Ring steigen, gegen einen kurz geschorenen Fighter mit grimmigem Van-Damme-Blick.

Warum macht der das? Das ist die eine Frage, die sich stellt. Wer schaut sich das an, das ist die andere. Aber eins nach dem anderen. Ivan, 28, gebürtiger Russe, mit 16 nach Deutschland, KfZ-Mechaniker, siebenjähriger Sohn, spricht mit ruhiger Stimme. Zur Begrüßung gibt er die Rechte und legt die Linke noch sanft oben auf den Handrücken. Auf der Straße würde man ihn mit seiner dünnrandigen Brille nie für einen Boxer halten. Seine Ringbilanz: Zwei Niederlagen. „Aber das waren beides gute Kämpfe“, sagt er, Lächeln, glänzende Augen. Er sagt: „Wenn das Publikum danach aufsteht und dir applaudiert…“

Um die 500 Leute dürften es sein im „Huxley’s“ in Neukölln. Sonst spielen hier Indie-Bands. Heute aber: „Heroes Fight Night“, organisiert vom Ringside Gym Berlin. Das Publikum sieht erst mal szenetypisch aus. Die Schlange vor dem Klo hat ein breites Kreuz. Hier haben die Pullis Kapuzen und die Hosen viele Taschen.

Zu sehen aber auch: Parkas. Knallenge Jeans. Und, vor allem, Mützen. Sind also auch mit dabei: Die bärtigen Kiezschlümpfe. Ist schon mal interessant. Die Macbook-Generation entdeckt ja schon seit einer Weile die Gyms der Stadt für sich, trommelt unter dem Schlagwort „Freizeitboxen“ auf Sandsäcke ein.

Im „Huxley’s“ sind vor allem Kämpfe im Thaiboxen und im K-1 zu sehen, einer Kickbox-Variante. Man schlägt und tritt sich also, kurz gesagt. Muay Thai ist in Thailand Nationalsport, dort fast mehr Zeremonie und Tanz als Kampf. Auch hier in Berlin-Neukölln ist das wippende Ritual vor Beginn obligatorisch. Während der Runden greller Sound, klingt wie Schlangenbeschwörer-Musik. In der Luft der scharfe Geruch des Körperöls. Schienbeintritte und Drehschläge sind erlaubt, dennoch dauert es lange bis zur ersten blutigen Nase. „Ihh, ich kann da nicht hinsehen“, sagt leise jemand auf den Stehplätzen. Die meisten schweigen.

Brutaler wird es dann beim einzigen „Mixed Martial Arts“-Duell des Abends. Im MMA kehrt die Szene zu ihren Wurzeln zurück, es wird so unerbittlich gekämpft wie vor 2.500 Jahren. „Ultimate Fighting“ nennen sie das. Die Handschuhe sind ein Witz, polstern kaum die Knöchel. Erlaubt ist fast alles, auch Schläge gegen am Boden Liegende. Führende deutsche Sportpolitiker verweigern die Anerkennung als Sport, TV-Übertragungen sind in Deutschland verboten. Kämpfe enden praktisch immer vorzeitiig. So auch hier. Keine 30 Sekunden sind vergangen, da liegt der eine zuckend am Boden. Mit einem Würgegriff hat ihm sein Gegner den Hals zugedrückt, bis zur Ohnmacht.

Wer nach Klischees über die Szene sucht, wird auch an diesem Abend fündig. Haare hat man in manchen Teams eher keine, dafür umso mehr Tattoos. Oben im Ring bearbeitet gerade ein glatzköpfiger Kämpfer, „102 austrainierte Kilo“, wie der Hallensprecher stolz ausruft, einen 124 Kilogramm schweren Tschechen, der immer wieder wie ein Wolf knurrt.

Und dann klettert Ivan in den Ring, Dreitagebart, pechschwarze Haare, vorher hat er noch beschwörend mit den Handschuhen über die Ringseile gestrichen. „Applaus für Ivan Stafitshuck!“ Er ist jetzt ein anderer, der sanfte Blick ist weg, die Brauen tief, die Augen starr zu Boden. Volle Konzentration. Adrenalin frisst Antibiotikum. Ivan kämpft gut, er ist entschlossen und zäh, steckt die Tritte seines Gegners weg, lässt sich nicht in die Ecke drängen. Er hat schon immer gekämpft, hat er vorher noch gesagt, „damals in Russland, da war das überlebenswichtig.“ Man merkt jetzt, was er meint.

Nach dem letzten Gong reißt Ivan die Arme schräg nach oben, er sieht jetzt tatsächlich aus wie die ewige Kämpfer-Ikone Rocky hoch oben auf seinen Museumsstufen. Ganz oben zu sein, der Held für einen Abend, für einen Moment, darum geht es dann wohl. Großer Applaus. Ivan hat endlich einen Kampf gewonnen.

An der Bar ordert eine junge Frau Bier und Schnaps. Eher Indie, eher Kiez, auch wenn sie keine Mütze trägt. Sie wippt im Takt der Elektrobässe. Gute Laune, unverkennbar. Und, wie ist es so? „Am Anfang war es noch ein bisschen lahm von der Crowd her, aber jetzt geht es ganz gut ab.“ Die Klitschkos schaue sie ab und an, aber das hier ist ihr erster Kampfabend. Gefällt ihr gut. „Der Kampf Mann gegen Mann, ein bisschen auch die Brutalität, klar. Und das Event, diese Energie der Masse.“ Seit der Fußball-WM 2006 suche sie die immer wieder. Auch das Boxen hat also seine Eventfans.

Ganz hinten im Saal steht Ivan. Der Rocky von Neukölln hat gleich zwei Adrians mitgebracht. Die Mutter seines Sohns hat ebenso mitgefiebert wie eine weitere Ex-Freundin. Eine aktuelle gibt es nicht, stellt Ivan klar, „sonst könnte ich nicht so viel trainieren“. Lachender, erleichterter Kämpfer. Und oben, zwischen den Seilen, steht schon der nächste Kurzzeitheld, funkelnder Pokal, Schweißglänzen, Siegerfoto. Auf seiner Hose steht „Tiger“.

Timos Traum

– Er spielte in einer Elf mit Thomas Müller – ein Jahr später war Müller Deutschlands Held, und Timo Heinze hörte mit dem Fußball auf. Eine Geschichte von Aufstieg und Fall (11FREUNDE, Tsp.)

Es gibt diese eine Szene, eine, von der kleine Kinder träumen und, ja, auch Erwachsene. Das große Stadion, Flutlicht, volles Haus. Auf dem Feld: Die besten Fußballspieler Deutschlands. Den Ball abfangen, in der eigenen Hälfte, und nach vorne sprinten, in den freien Raum, den Ball vor sich hertreiben, Haken schlagen, ein, zwei Gegner stehenlassen, schon dicht am anderen Strafraum. „Hier ist Heinze“, sagt Kommentator Bela Rethy, „ein 22 Jahre alter Außenverteidiger.“ Es ist der Satz, den wir alle mal hören wollten, über uns.

Die Menge in der Münchner Arena raunt, Timo Heinze könnte jetzt schießen, gleichzeitig sieht er, wie der Stürmer Miroslav Klose seinen Weg kreuzt. Eine blitzschnelle Entscheidung. Heinze spielt den Ball geradeaus in die Lücke, doch Klose läuft weiter nach rechts, ein einfaches Missverständnis. Der Ball trudelt ins Leere.

Und dann dieses Foto, entstanden nur ein paar Monate später. Die Ersatzbank. Junge Menschen mit tiefen Brauen. Auswechselspieler sehen selten glücklich aus. Doch Timo Heinze, ganz rechts, leerer Blick, Zähne auf der Unterlippe, sieht aus wie einer, der sich fragt: Was mache ich hier? Er sieht aus wie ein Verlorener.

Der Fußball ist ein rasendes Business, das ist ein Klischee, aber über Timo Heinze ist es wahrhaft hereingebrochen. Er hat den Traum gelebt, unser aller Traum, er war Jugendnationalspieler, Kapitän der Bayern-Reserve mit Anfang 20, auf dem Sprung nach oben. Vielleicht nach ganz oben. Und dann spuckte ihn die große Maschine wieder aus. Sein Spurt bei Oliver Kahns Abschiedsspiel blieb der einzige Moment auf der ganz großen Bühne. Heinze hat es nicht geschafft. In einem Sport, der nur in Gewinner und Verlierer einteilt, hat er verloren. Darüber hat er ein Buch geschrieben, „Nachspielzeit: Eine unvollendete Fußballkarriere“, erschienen Ende letzten Jahres. Eine Selbsttherapie. Eine Abschiedshilfe. „Das Buch war ein Glücksfall“, sagt Heinze. „Wenn ich das nicht alles aufgeschrieben hätte, wäre ich sicher noch nicht so weit.“ Nicht so weit mit der Trauerarbeit. Mit dem Entzug.

Denn der Fußball ist wie eine Droge für die, die sich ihm verschrieben haben. Nur wer sich ihm ganz und gar hingibt, wer alles andere vernachlässigt, der kann es überhaupt zu etwas bringen. Davon wieder loszukommen, ist irrsinnig schwer, manche schaffen es nie, man muss sich nur all die traurigen Ex-Profis anschauen, die Tag für Tag in den Sportsendungen herumsitzen. Timo Heinze musste noch viel früher als die meisten loslassen, was es nicht einfacher macht. „Es tut inzwischen nicht mehr weh“, sagt Heinze, „ich habe abgeschlossen.“ Aber er sagt diese Sätze vorsichtig, wie jemand, der von der ersten großen Liebe berichtet, die immer die bedingungsloseste ist, weil sie noch keine Enttäuschung kennt.

Fußball ist ein einfaches Spiel, sagen die, die keine Ahnung haben. Es ist ja gerade die Einfachheit, die den Sport so schwer beherrschbar macht. Der Mensch ist nicht einfach. „Ich war schon immer ein Kopfmensch“, sagt Heinze, und was eine nützliche Eigenschaft sein kann, wenn es gut läuft, verkehrt sich in der Krise schnell ins Gegenteil: „Um ehrlich zu sein, ich war immer ein Spieler, der das Vertrauen brauchte, um dann gute Leistungen zu bringen“, schreibt Heinze. „Wenn ich mich in meiner Situation unwohl fühlte und die Anerkennung des Trainers vermisste, fiel meine Leistung rapide ab. Einem Thomas Müller zum Beispiel wäre das niemals passiert.“

Müller. Er hat das Vorwort zu Heinzes Buch geschrieben, natürlich kein Zufall. Er hat zusammen mit Heinze bei Bayerns zweiter Mannschaft gekickt, noch 2009 stehen sie zusammen auf dem Feld. Ein Jahr später beendet Heinze frustriert seine Karriere, und Müller wird der jüngste WM-Torschützenkönig aller Zeiten.

Heinze redet nur gut über Müller, sie sind Kumpels von früher, er bewundert ihn für seine Art, die er „schizophren“ nennt. Damit meint er: dass Müller, der intelligente, beredte Kerl, auf dem Platz ein anderer wird, wie auf Knopfdruck. Die Last der Gedanken wegwischt, die vergebenen Chancen, die Erwartung der Zuschauer. Das ist Müllers größte Gabe. Er hat es geschafft, obwohl er viel zu dünn ist, eigentlich, und viel zu hölzern. Über seinen Treffer im Champions-League-Finale gegen Chelsea schrieb die „Süddeutsche Zeitung“: „Die Bayern hatten den Schlüssel gesucht, und am Ende hatte Thomas Müller die Tür einfach eingetreten.“ Ein unmögliches Tor, ein hässlicher Aufsetzer, man musste zweimal hinsehen, aber der Ball war drin. So einer ist Müller. Ein Gewinner. Als er ausgewechselt wurde, verloren die Bayern noch.

Auch Heinze ist lange ein Gewinner im Sinne des Systems, er spricht ein bisschen so wie Müller, hat das gleiche breite Grinsen, mit zwölf Jahren wird er von den Bayern-Scouts entdeckt, er durchläuft alle Jugendteams, absolviert zwei Dutzend Länderspiele bis zur A-Jugend. Dann, das Abitur gerade gepackt: der erste Knick. Leistenbruch, beidseitig, eine normale Verletzung, zumal bei Fußballern. Doch nach der Operation schmerzen die Narben, es gibt Komplikationen, eine Not-OP. „Das war der erste Riesenschlag“, sagt Heinze heute, „wenn man so will, war die Verletzung der Anfang allen Übels.“ Am Ende wird Heinze wieder fit, doch es dauert ein Jahr. Ein verlorenes Jahr. Eine Ewigkeit, gerade in dem Alter. Doch Heinze kämpft sich zurück, spielt bald für die Bayern-Reserve und wird von Trainer Hermann Gerland schließlich sogar zum Kapitän gemacht. Es scheint nur noch ein ganz kleiner Schritt zu sein. Der Traum ist fast Wirklichkeit. Und dann geht alles binnen weniger Wochen dahin. Warum?

Es gibt keine Antworten, nur Faktoren. Zum einen ist da die Erinnerung an die Verletzung, die erste Begegnung mit dem möglichen Scheitern. Zum anderen wird Heinze vom Coach auf die Bank gesetzt, plötzlich, ohne große Begründung. Das ist nicht gut, aber das passiert. Gerland ist alte Schule, ein grimmiger Schweiger, aber ein absoluter Fachmann. Heinze sagt: „Die Entscheidung war hart, aber sie hat mich extrem aus der Bahn geworfen. Wie ich damit umgegangen bin, war alles andere als optimal. Ich konnte das nicht mehr ausblenden und mich aufs Wesentliche konzentrieren.“

Das Scheitern ist jetzt immer präsent, der Kopf ist Timo Heinzes größter Feind. Warum er, warum schon wieder solch ein Rückschlag? Wozu ist das gut, was hat das Schicksal mit ihm vor? Fragen über Fragen, die ihn lähmen. Selbst wenn er mal wieder spielen darf: „Was geht im Kopf des Trainers jetzt vor? Wird er mich gleich auswechseln? Sitze ich dann in nächster Zeit wieder nur auf der Bank? Und wie soll ich dann einen guten Verein finden?“ Unnütze Fragen, weil es keine Antworten gibt. Timo Heinze hat den Glauben an sich selbst verloren.

Es geht, fast zwangsläufig, bergab. Die Bayern verlängern seinen Vertrag nicht. Heinze fällt nun doch noch durchs Sieb, wie so viele vor ihm. Am letzten Trainingstag läuft er mit einer Videokamera noch einmal die Gänge an der Säbener Straße ab. Als müsse er sich selbst überzeugen, dass dies alles Wirklichkeit war. Dass er, der Bayern-Fan, elf Jahre bei seinem Lieblingsklub hatte spielen dürfen.

Es folgt noch ein enttäuschendes Jahr beim Münchner Vorortklub Unterhaching, dann beendet Timo Heinze seine Karriere, mit 24. Als Thomas Müller sein erstes Champions-League-Finale spielt, ist Heinze gerade auf Bali, seinen Rucksack hat er dabei. Eine Flucht vor den Gedanken, eine Flucht ins Selbst. Endlich eine Reise ohne Trainingsplan. Eines Tages spielt er wieder Fußball, am Strand, mit Engländern, Holländern, Spaniern. Backpacker-Weltauswahl. Sie spielen wieder wie früher, wie die Kinder, nur aus Spaß, nur für sich. Für Heinze ein wunderbarer Moment. Er sagt: „Das Spiel an sich ist wunderschön.“

Heinzes neues, zweites Leben: Sportstudium in Köln, sechstes Semester. Vielleicht wird er danach Sportpsychologe, sagt er, „ich kann da sicher einiges weitergeben“. In seiner Freizeit spielt er Futsal, das ist eine komprimierte Variante des Fußballs. Kleinerer Ball, kleineres Feld. Es geht um Technik, um Ballbehandlung, um Schnelligkeit. In Deutschland interessiert sich kaum einer für Futsal. Timo Heinze sagt: „Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden.“

Gludernde Lot (5 Minuten Stadt)

In den Schlaf dringen dumpfe Explosionen. Wumm. Pause. Wumm. Erst einmal nichts Ungewöhnliches hier im Grenzgebiet zwischen Wedding und Prenzlauer Berg. Der benachbarte Gleimtunnel ist ja nicht nur um Neujahr beliebter Ort für halb legale Sprengungen. Schallt doch so schön. Und war das nicht gerade ein Heuler? Eine Partymeute feuert auf dem Heimweg noch ein paar Kracher ab. Oder nicht? Beim nächsten Blinzeln tanzt Blaulicht auf der Schlafzimmerdecke, von der Straße dringen Rangiergeräusche nach oben. Okay, also mal schauen. Leicht genervtes In-die-Küche-Schlurfen. Küche ist taghell. Unten steht die Feuerwehr. Im Tunnel brennt ein Auto.

Auch klar nun, woher der Krach kam, denn gerade knallt es die Heckscheibe weg, Flammen schlagen aufs Dach. Routiniert und mit der Aussichtslosigkeit angemessener Nicht-Hektik werden Schläuche ausgerollt. In meinen Ohren plötzlich – ein Traumrest? – die stammelnde Stimme von Edmund Stoiber: Die gludernde Lot! Die lodernde Flut!!! Ganz ruhig, Ede, denke ich, und: Schon klar, dass der Hektiker es nie hierhergeschafft hat, in die Hauptstadt der Lässigkeit. Schwarzer Rauch dringt aus dem Tunnel. Der Wagen brennt noch ein bisschen vor sich hin. Scheint ein Mercedes zu sein. Also wohl wieder eine dieser Anti-Yuppie-Attacken. Na ja. Nun ist das Feuer aus. Zurück ins Bett. „Was war?“, fragt die Freundin. „Ach nichts“, sage ich und küsse sie auf die Stirn, „unten ist nur ein Auto explodiert.“ (5 Minuten Stadt, Tagesspiegel)

A grandios Apfelkuchen

– Fußballprofis tun sich mit Twitter wahnsinnig schwer – es sei denn, sie sind nicht echt (Tagesspiegel, Sport)

Es war ein Dienstagmorgen, und Robin Dutt hatte beste Laune. „500 Follower!“, schrieb er stolz bei Twitter: „Bei 1.000 krempele ich den DFB um.“ Ganz klare Ansage, garniert noch mit dem Schlagwort „#revolution“. Entsetzte Gesichter wird es an der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise, im Hauptquartier des Deutschen Fußball-Bunds, dennoch kaum gegeben haben. War natürlich nicht der echte Dutt. Und auch der humorige Kommentar zu Roman Weidenfellers Geburtstagsfoto, „We have a grandios Apfelkuchen gebacken“, stammte leider nicht vom DFB-Sportdirektor.

Nein, das Profil @Robin_Dutt ist ein Fake, es wird von einem der vielen anonymen Spaßmacher betrieben, die sich im Netz tummeln. Und Profile pflegen, die scheinbar Joachim Löw, Oliver Kahn oder Michael Ballack gehören. Wer sich nicht so gut auskennt, der kann sich zunächst einmal leicht in die Irre führen lassen – denn die Profilfotos sind echt, die Namen meist auch, Ausnahmen wie „Loddar Maddäus“ bestätigen die Regel. Immer zahlreicher werden sie, die falschen Fußball-Promis im Internet, und nur der geübte Nutzer entlarvt sie schnell: Ihnen fehlt das hellblaue Gütesiegel mit dem Häkchen hinter dem Namen, mit dem Twitter die echten Profile bekannter Menschen hervorhebt.

Wer nun ein bisschen in dieser Subkultur herumstöbert, dem Bundestrainer tief in die Mundart blickt oder mit Fredi Bobic in die Kabinengeheimnisse des VfB Stuttgart einsteigt, der ertappt sich irgendwann bei dem Gedanken, dass es doch eigentlich ein bisschen schade ist. Wäre es nicht eine Freude für alle Beteiligten, wenn tatsächlich der echte Kahn twittern würde: „Ich bin zu geil, ich bin zu geil, ich bin zu geil für diese Welt!“ Oder wenn Bayerns Jérôme Boateng, von dem man ansonsten noch nicht allzu viel Selbstironisches vernommen hat, seinen Hintergrund mit den „Bild“-Fotos der sommerlichen Lobby-Bekanntschaft Gina-Lisa Lohfink bestücken würde wie es sein unechtes Pendant @ChezRomeBoateng ganz lässig tut?

Ein ziemlich utopisches Szenario, zugegeben. Man müsste sich dafür schließlich nicht nur den Autorisierungseifer von Klubs und Verbänden, sondern auch die hysterischen Reaktionen vieler Medien wegdenken, die jeden noch so kleinen Satzfetzen aufklauben und nach ihrem Gusto breitschlagen.

In England ist man der Utopie jedoch ein ganzes Stückchen näher. Hier twittern aktuelle und ehemalige Profis häufiger und tendenziell weniger steif. Und manchmal sogar mit einigermaßen Witz. Ex-Nationalspieler Robert Huth beispielsweise hat in über zehn Jahren auf der Insel offenbar einiges an landestypischem Humorverständnis aufgenommen. Seine Selbstbeschreibung bei Twitter lautet: „Innenverteidiger für Stoke City. Ziemlich kleiner Kopf für solch einen mächtigen Kiefer.“ Und als Teamkollege Ryan Shawcross Anfang des Jahres einen neuen Vertrag unterschrieb, freute sich Huth über „garantierte fünf Eigentore pro Saison für die nächsten sechs Jahre“. Natürlich, bitte mal alle kurz entspannen: ein Spaß!

Und wenn nicht, sind hübsche Kontroversen inbegriffen: Dem emsigen Twitterer Rio Ferdinand brachte eine diffamierende Nachricht gegen Ashley Cole in der Rassismus-Kontroverse um John Terry eine happige Geldstrafe durch die FA ein. Und in welch Abgründe man mittels Twitter-Kurznachrichten binnen Minuten stürzen kann, bewiesen erst Mitte Januar Dietmar Hamann und Joey Barton, die einen bald legendären Streit ausfochten, in dessen Folge Hamann sich „Koksnase“ und sein Leben einen „Autounfall“ nennen lassen musste.

Ungeachtet aller Geschmacklosigkeiten ist all das immer noch deutlich unterhaltsamer als die Belanglosigkeiten, die die meisten deutschen Fußball-Profis in der Regel veröffentlichen. Sie scheinen irgendwo zwischen den strikten Auflagen ihrer Geldgeber und dem eigenen diffusen Mitteilungsbedürfnis gefangen. Heraus kommen dann neben Reklamehinweisen auf das neue Schuhmodell des Sponsors meist Tweets wie „5:2 – das hat Spaß gemacht“ (Mesut Özil) oder „Guten Morgen 🙂 Good Morning :)“ (André Schürrle).

Doch offenbar gibt es selbst dafür einen Markt. Özils „News“ lesen immerhin knapp 1,3 Millionen Menschen mit. Für diejenigen jedoch, die sich gerne an frühere, zotige Zeiten erinnern, sei auf das Profil von Peter Neururer hingewiesen, das zwar gefälscht ist, aber komplett auf authentischen Zitaten des Alttrainers basiert. „Karriere, Leben – bei mir ist alles irre“, liest der Fan dort und lechzt und schreit sofort wieder reflexhaft nach den Typen, den echten, den wahren, all den Bonbon-Ristics und Mundart-Steppis, die es doch früher haufenweise gab. Und weiß doch, dass sie nie mehr wiederkommen werden. Vielleicht ja auch gut so. Aber vielleicht hilft dieses aus der Zeit gefallene Beispiel auch, nicht alles immer so wahnsinnig ernst zu nehmen, ein Stück zurückzukehren vom Hype, von der Hysterie zu etwas mehr Normalität und Gelassenheit. Denn schon Neururer wusste: „Spieler sind kein Material, sondern Menschen.“