Dead Döner (5 Minuten Stadt)

Ein Dienstag, nicht zu spät. Der Nettelbeckplatz liegt im allerletzten Sonnenlicht. Auf den Parkbänken bereits die ersten Biertrinker.

Im Dönerladen an der Ecke versorgen drei Mann den Wedding mit dem Abendbrot. Am Spieß genügend Fleisch noch für ein paar Stunden. Im Schaufenster dreht sich traurig ein halbes Dutzend Hühnchen. Bestlaune dagegen bei der Besatzung, drei fröhliche Gesichter, glänzend von Arbeit und Bratfett. Schnelle, tausendfach geübte Handgriffe, die immer gleichen Fragen, neu variiert, Lahmacun nur mit Salat, ja, und die Pommes mit was.

Dazwischen der schnelle Background-Check beim Kunden an der Theke: Arab? Iraner? Farsi? Der zweite Gast, ein Afrikaner, hat sich gerade auf Englisch eine Dönerbox bestellt.

Hot sauce?

Can I eat it?

Yes, yes, no problem!

Okay.

Four-ninety.

Da bricht über das harmonische Gelärme der Kriegszustand herein.

Bamm-bamm-bamm, drei schnelle Schuss in Folge, direkt vor der Glastür, dann kurze Pause, bamm-bamm, noch zwei hinterher.

Alles zuckt zusammen.

Der Afrikaner ist aufgesprungen, schaut aus ängstlichen Augen nach draußen, den Kopf tief zwischen den Schultern, die nächste Salve erwartend, die jeden Moment durch die Scheiben fetzen kann, dies alles hier zu beenden.

What is this?, ruft er.

Dead, sagt der Dönerverkäufer nur und zuckt die Achseln.

Dead?! Es ist fast ein Kreischen.

Real gun?, fragt der Afrikaner dann, mit bebender Stimme, konsterniert, dass die drei Mann hinterm Tresen schon wieder ganz normal weiterarbeiten, Dauergrinsen, einmal zum Mitnehmen, Salat alles, ja.

Real gun?, fragt der Afrikaner noch mal, er steht immer noch halb geduckt mitten im Raum.

No, my friend, lacht der Dönermann, no, no. Gas! Gas!

Und dann zeigt er, bevor der kostbare Moment der Zweitönigkeit verfliegt, auf die braunen Hähnchen, die sich ungerührt weiterdrehen, langsam und braun.

Dead, sagt der Dönermann, haha, dead.

(Der Tagesspiegel, Mehr Berlin: 5 Minuten Stadt)

»Reporter? Da sind Sie der neunte!«

Der Wedding, dieser geheimnisvolle Stadtteil, steckt voller großartiger Geschichten. Nicht immer aber haben die Weddinger Lust, sie zu erzählen. Eine kleine Lektion Demut im Musikhaus an der Müllerstraße.

Zum ersten Mal las ich von ihr im Spätsommer vergangenen Jahres. „Wegen Flöten“, stand über dem Artikel, „84-jährige Musikladen-Besitzerin niedergestochen“. Eine Polizeimeldung direkt aus dem Wedding, aus der Müllerstraße, wo die alte Dame, so stand es zu lesen, seit 65 Jahren ihre Musikalienhandlung führe. Der Täter war geflohen, mit einer Flöte und einer Ziehharmonika, die Geschäftsinhaberin fand eine Kundin später hinter dem Verkaufstresen, aus mehreren Schnitten blutend.

Ein paar Monate später kam die Rede erneut auf den Musikladen, die Besitzerin, so erzählte mir einer, der den Wedding sehr gut kennt, sitze im Winter im Kalten in ihrem Laden, weil sie sich die Heizkosten nicht mehr leisten könne.

Aber sie sei immer noch da. Das ist der Wedding, sagte er, genau das. Da muss man doch mal hin. Da muss man doch mal was drüber machen.

Den ganzen Artikel im Tagesspiegel lesen.

Kein Tor an der Plumpe!

Am Gesundbrunnen wurde Hertha BSC gegründet, aber der Fußball ist lange schon woanders hingegangen. Ein Hertha-Spiel in der alten Fankneipe, die sich kein Sky mehr leisten kann.

Es ist kurz nach halb sieben, als ein Typ in den Bierbrunnen kommt, den blau-weißen Schal nur halb unter dem Jackenkragen. Ein kurzer Blick ins Kneipeninnere, der Tresen ist rund wie ein Fußball, die Wand voller Wimpel und alter Mannschaftsfotos. Auf dem Fernseher läuft Videotext.

„Fußball wird hier nicht gezeigt?“, fragt er. „Nee“, antwortet einer am Tresen. Kurze Pause. „Wissen Sie, wo hier in der Nähe gezeigt wird?“ – „Im Offside.“ Vage Bewegung ins Irgendwo. „Ist da hinten.“

Es ist kurz nach halb sieben an einem Sonntag im „Bierbrunnen an der Plumpe“, Behmstraße, Ecke Badstraße. Im Olympiastadion ist gerade die zweite Halbzeit zwischen Hertha BSC und dem VfL Wolfsburg angepfiffen worden, Fußball-Bundesliga, 21. Spieltag, aber hier, im offiziellen Hertha-Fantreff, zwölf Kilometer östlich des Stadions, kriegt davon keiner was mit.

Das heißt, nicht ganz: Es läuft ja, wie gesagt, der Videotext, schwarze Maske vor stummem Röhrenbild.

Grau ist er der Fernseher und kastenartig und ziemlich klein, winzig eigentlich für heutige Verhältnisse. Darunter hängt ein Schild, darauf steht: „Wer die Wirtin kränkt, wird aufgehängt.“ Neben dem Schild baumelt traurig ein Stoffpüppchen, mit Strick um den Hals, auf dem Kopf eine Schiebermütze, von der Art, wie sie sie früher trugen.

Ganz früher also, als Hertha noch Meisterschaften gewann und nicht in der großen und schicken und kalten Arena in Charlottenburg spielte, sondern hier, einmal die Behm runter, an der nächsten Ecke, an der Plumpe, so sagten die Leute, die Schulter an Schulter standen auf den engen Tribünen, ohne Dach und direkt am Rasen, und wenn es regnete, zogen sie die Hüte tiefer ins Gesicht und schlugen die Kragen ihrer Mäntel hoch.

Den ganzen Artikel beim Tagesspiegel lesen.

Eine richtige Postbotin

Du willst die Post austragen, haben sie gefragt und gelacht, du, ein Mädchen, ein türkisches Mädchen? Na klar, hat sie gesagt, unsere Ministerin ist doch auch eine Frau, was ist schon dabei. Nazan Özbek lacht: Tansu Çiller, kennen Sie die noch?

1993 war das, die Türkei hatte eine Frau als Ministerpräsidentin, und der Wedding hatte eine türkische Postbotin. 1993, Nazan Özbek weiß das noch genau. Zahlen sind kein Problem. Auf die Briefe fürs Seniorenheim hat sie eben noch schnell die Nummern der Wohnungen gekritzelt, in dünner Bleistiftschrift, das spart ein paar Sekunden.

Ursprünglich, sagt Nazan Özbek, wollte sie Polizistin werden, aber das ging nicht, Schuld war ihr Pass, der damals noch türkisch war. So ging sie zur Post. Ihr Zustellbezirk hat die Nummer 10: Gerichtstraße, Ruheplatzstraße, Antonstraße, zurück auf die Ruheplatzstraße und dann rauf auf die ewig lange Schulstraße, das ist ihre Route. Immer vor sich herschiebend den Security-Zustellwagen, so nennt die Post das. Er sieht aus wie ein großer gelber Rasenmäher, darin sind Platz für drei Plastikkästen voller Briefe, zwei kleine Kästen sind das und ein großer, für die A4-Sachen.

Security, ein Name wie von einer Versicherungsfirma, wie ein todsicheres Versprechen, aber das Versprechen ist nur ein winziges Schloss an der Vorderseite. Vor ein paar Wochen, Nazan Özbek stopfte gerade wieder in einem Hinterhof Kuverts in die Schlitze, da haben sie ihr vorne die Klappe des Wagens aufgerissen und einen der Schlüsselbunde geklaut. Nur die Schlüssel, sagt sie, keine Ahnung, was die damit wollen.

Sie hat dann an die Hausverwaltungen geschrieben, aber bisher ist nichts passiert. Weswegen sie jetzt, in der Antonstraße, mal wieder darauf warten muss, dass ihr jemand aufmacht. Das sind die Minuten, die ihr nachher fehlen werden, Minuten, die für Esra gedacht waren, ihre Tochter. E, S, R, A, die Mutter buchstabiert es sorgsam, sie ist für mich alles. Wie mein Auge.

Zwölf ist Esra im Mai geworden, aber sie geht schon in die siebte Klasse. Manchmal hilft Nazan Özbek ihr abends bei den Hausaufgaben, aber oft ist die Mutter auch einfach nur müde, total kaputt nach fast elf Stunden im Dienst. Vor halb sechs komme ich selten raus, sagt sie. Mehr als zehn Minuten dauert die Mittagspause eigentlich nie.

Heute hat sie um sieben Uhr früh damit begonnen hat, ihren Arbeitstag aus den gelben Boxen zu nehmen und in die Fächer mit den Hausnummern zu stecken. Rot, blau, gelb, jede Straße hat eine andere Farbe, nur die Schulstraße ist weiß, das ist schön, sagt Nazan Özbek, weiß, das ist meine Lieblingsfarbe. Zweieinhalb Stunden steckt sie Briefe, Magazine, Werbeprospekte in die engen Fächer, jeden Morgen, bevor es hinausgeht auf die Straße.

Vor dem Zustellstützpunkt Gerichtstraße, einem fünfstöckigen Backsteinbau, ist es da noch ruhig, der Wedding döst noch ein bisschen, aber drinnen ist längst alles wach, alles laut. Kisten stapeln sich zwischen zwei Meter hohen Trennwänden, die Gänge sind eng, ständig steht man im Weg, dürft ich mal, danke. Nazan Özbek steht in ihrem winzigen Bereich, eine kleine Frau mit dunklem Pferdeschwanz, sie trägt ein weites, postgelbes Hemd und eine dunkelblaue Hose mit großen Seitentaschen für die Einschreiben, Einschreiben werden immer am Körper getragen, alte Postregel. Aber vorher noch einscannen, einmal um die Ecke, schräg über den drei Scannern hängt ein Poster, darauf ist die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zu sehen und auch die türkische. Başarılar dileriz, steht dazwischen, das bedeutet: Wir wünschen euch viel Glück. Sieben türkischstämmige Kollegen hat sie hier, alles Männer. Ein paar Frauen gibt es auch, aber alle im Innendienst. Ich gehe raus, sagt Nazan Özbek, ich bin eine richtige Postbotin!

Sie hat sich auch mal für den Innendienst beworben, hatte extra einen EDV-Kurs gemacht, 1997 war das, ein Jahr lang, immer sonntags, Abschluss mit sehr gut, aber dann sagte der Chef, dass er doch niemanden brauche für drinnen.

Ihre Turnschuhe kauft sie immer eine Größe größer als normal, die Füße, sie werden dick mit der Zeit. Schwarz sind die Schuhe, nur das Nike-Zeichen auf den Fersen, das ist gelb wie die Post.

Um 9:24 Uhr lässt Nazan Özbek den Zustellwagen in den Lastenaufzug rumpeln. Oben auf dem Briefstapel eine H&M-Tüte mit einer silbernen Thermoskanne, in der nur Wasser ist, und ein Päckchen Tempos. Sie war krank gewesen, ein paar Tage, und als sie zurückkam, waren die meisten der roten Gummibänder weg, mit denen sie die Briefe zusammenschnürt, und auch die Aufkleber mit den Hausnummern hatte jemand von den Schlüsseln gerissen. Ich arbeite ganz schön sauber, sagt Nazan Özbek.

Um 9:53 Uhr hat sie die Laufhäuser an der Gerichtstraße schon hinter sich und parkt den gelben Wagen vor der Ruheplatzstraße 24. Laufhaus, so nennen sie bei der Post einen Aufgang, bei dem die Schlitze noch in den Wohnungstüren sind und nicht unten im Erdgeschoss. Dann müssen die Zusteller all die Treppen hoch, in den muffigen Altbauten. Allzu viele Laufhäuser liegen nicht auf Nazan Özbeks Route. Dafür ist sie länger als andere Strecken.

Rund 145 Aufgänge liegen vor dem Feierabend, jeden Tag, 1.719 Haushalte, Nazan Özbek hat extra noch mal nachgezählt, darunter drei Heime, an manchen Tagen sind das 7.000 Zustellungen. Und wenn die Leute in ihrem Bereich zu wenig Post bekommen, dann kriegt sie am Ende des Jahres ein paar Hausnummern dazu, acht waren es beim letzten Mal. Wieder ein paar Meter mehr für die Füße in ihren winzigen Nike-Schühchen. Schnell laufen sie zwischen den Stopps, man kann kaum Schritt halten.

Ich bin alleinerziehende Mutter, sagt Nazan Özbek, das ist die Antwort.

Mit zwölf ist Nazan Özbek nach Berlin gekommen, vor 30 Jahren also, aus Izmir, kennen Sie Izmir, fragt sie, es ist wunderschön dort. Aus der Türkei kam auch ihr Mann. Drei Wochen hatten sie, um sich kennenzulernen, ein Jahr nach der Hochzeit zog er zu ihr nach Deutschland. Die Geschichte von Nazan Özbeks Ehe ist kurz, sie erzählt sie zwischen drei Aufgängen, aber sie will nicht, dass sie in der Zeitung steht. Wegen Esra. Wie eine Blume, sagt die Mutter, so erziehen wir Esra. Kinderärztin will sie werden, die Tochter der Postbotin. Studier mal, hat ihre Mutter ihr gesagt, dann hat wenigstens eine von uns beiden studiert.

Ihre Eltern, Esras Großeltern, die haben früher bei Siemens gearbeitet, beide, ihr Vater als Dreher, die Mutter am Band, mit einem Lötkolben in der Hand und einer großen Lupe vor dem Auge, so winzig waren die Teile. Meine Mutter hat mir später sehr geholfen, sagt Nazan Özbek, ich musste ja immer arbeiten.

Im Hof der Volkshochschule stehen sie und rauchen, Deutschkurse ab 9 Uhr. Nazan Özbek hat nie einen Kurs gemacht, sie hat die Sprache in der Schule gelernt, wie alle Türken damals, quasi nebenbei. So wie sie sich das Kochen beigebracht hat, einfach zugeschaut hat sie der Mutter. Ich habe immer alles alleine gemacht, sagt Nazan Özbek, meine Eltern konnten doch so wenig Deutsch und hatten so viel zu tun.

Auf der anderen Seite der Kreuzung, vor dem italienischen Restaurant, grüßt sie im Vorbeigehen schnell noch einen Mann im Galatasaray-Trainingsanzug, auf Türkisch, ein kurzes Lächeln. Danke, die Po-hoost, ruft Nazan Özbek ansonsten in die steilen Aufgänge, wenn jemand endlich den Summer gedrückt hat. Und dann schnell weiter. Manchmal gibt’s nette Kunden, sagt sie, die drücken, wenn sie mich sehen.

Sie macht immer die gleiche Strecke. Das hilft. Wenn du anfängst, als Springer, dann kennst du die Routen nicht, du bist der Lückenbüßer, wenn ein Zusteller krank ist oder frei hat, sie setzen dich ein, wo du gerade gebraucht wirst. Insgesamt sieben Jahre war sie Springer, von 1992 bis 1997 und dann noch mal nach Esras Geburt, von 2003 bis 2006. Da ging sozusagen alles nochmal von vorne los.

Um 10:58 Uhr hat Nazan Özbek die Post fürs Bezirksamt zugestellt, dessen Eingang unter dem riesigen Baugerüst und den Staubplanen kaum zu erkennen ist, und biegt links in die Schulstraße ein. Ich kenne den ganzen Wedding, sagt sie, besser als Reinickendorf, wo ich wohne, Sprengelkiez, Brunnenviertel, Osloer, ich war hier schon überall unterwegs. Nicht überall war es so ruhig wie hier. An der Sprengelstraße damals, die Messer, die Jugendlichen, die haben sich gestritten, da hatte ich immer Angst, sagt Nazan Özbek, aber passiert ist nie was, zum Glück.

Und einmal stand vor einem Haus schon die Feuerwehr, aus dem ersten Stock kam dunkler Rauch, aber die Post, die haben die Leute an dem Tag trotzdem bekommen.

Ich bin Fisch, sagt Nazan Özbek, mit einem Bein schon im nächsten gefliesten Hauseingang, Fisch wie Albert Einstein. Fisch ist das einzige Sternzeichen, bei dem Männer und Frauen gleich sind. Geburtstag, sagt sie, habe ich am gleichen Tag wie mein Vater, Superzufall, oder? Zuverlässig, treu, großzügig, sagt Nazan Özbek, so sind die Fische. Sie wirft den letzten Brief in den Kasten. Auch sensibel, sagt sie leise.

Dann rollt der gelbe Rasenmäher schon wieder übers Pflaster, immer die lange, laute Schulstraße hinunter. Wenn man jeden Tag draußen arbeitet, sagt Nazan Özbek, wird man auch fröhlich. Merken Sie, ich lache immer!

(erschienen im September 2013 auf Tagesspiegel.de)

Wilder, weiter, Wedding

Auf der Suche nach einem Stadtteil. (Der Tagesspiegel, Sept. 2013)

I. GRAU IST DIE STADT

Mit der Hässlichkeit geht es schon mal los. Dieser Beton. Dieser Asphalt. Die Müllerstraße: der Schering-Klotz. Das Bürgeramt. Karstadt! Das Finanzamt an der Osloer. Reinickendorfer, Badstraße, ganz egal, alles wenig besser. Graue Nachkriegstürme wachsen aus dem Alltag, an allen Ecken und Enden. Traumhafte Tristesse. Bald vielleicht als Fotostrecke auf Tagesspiegel.de: „Die hässlichsten Gebäude des Weddings“. Absoluter Klickgarant, Leserliebling, bestimmt.

Und dann biegt man um die Ecke, und dann wird es plötzlich Licht. Bitte was? Ein antiker Tempel, der da dem räudigen U-Bahnhof Pankstraße trotzt. Strahlende Schinkelkirche St. Paul. Vier Säulen für ein Halleluja. Heller Stein, hohe Türen. Schlichtheit. Schönheit. Aha? Ist das jetzt hier die Toskana? Man möchte ihn dann gleich noch mal einbestellen, den alten Christo, damit er das wunderschöne Giebelhaus verhüllt und den kantigen Turm gleich mit, ein bisschen Schutz vor all dem Smog, den die Kiez-Checker in ihren dicken dunklen Audis in die Luft ballern, wenn sie aus der zweiten Reihe vor den Gemüseläden ihre Kickstarts hinlegen. Unter vier Auspuffen geht ja eh schon mal gar nichts hier, eisernes Prollgesetz, Paragraf eins. Oder so.

Willkommen im Wedding! Nicht „in Wedding“, wie es sonst in dieser Zeitung so sachlich heißt. Nein, dieser Wedding ist ein „der“, ein Typ, und was für einer! Eure Abziehbildchen könnt ihr wegschmeißen, am Grenzübergang Bernauer oder wo immer ihr rüberkommt. Hinter jedem Klischee steht ein Weddinger, der ihm in den Arsch tritt.

Merken: Wer hierherkommt, braucht einen Grund. Die meisten aber schießen schnell quer durch, die verlängerte Stadtautobahn namens Seestraße, die schlangenartige B96 hoch oder runter, unterm Bayer-Kreuz hindurch zum Hauptbahnhof oder weiter in den schönen Westen. Fies und grau ist es links und rechts der Autofenster der Durchreisenden, die überall hinwollen, nur nicht hierher. Nicht leicht dagegenzuarbeiten, wenn man als jahrelanger Draufgucker beginnt einzudringen in dieses staubtrockene Biotop.

Wächst hier was?

 

II. STOLZ UND VORURTEIL

Wedding und Gesundbrunnen: 81 Jahre lang eigenständiger Bezirk, heute nur noch zweifacher Ortsteil. Gehört jetzt alles zum schicken Mitte, was natürlich an sich schon ein Spitzengag ist. Denn Schrumpfen, nicht Wachstum, ist hier großes Leitmotiv, vor 100 Jahren waren sie noch 350.000, die Weddinger, heute kriegen sie gerade noch 160.000 zusammen. Einst boten sie dem deutschen Fußballmeister Heimat, heute können sie sich, wenn sie wollen, noch viertklassiges Eishockey anschauen, beim Schlittschuh-Club Berlin, in einem Betonsarg von einer Halle, kalt wie das weiße Oval in der Mitte und mit ähnlich viel Kratzern, und manchmal kommen 100 Leute.

Und die Müllerstraße, der einstige Ku’damm des Nordens? Hier fahren die Rolltreppen der schicken Kaufhäuser von einst mittlerweile direkt ins Spielcasino. Arbeiterbezirk, Arbeitslosenbezirk, Armenbezirk? Ansichtssache. Die Zahl der Menschen mit festem Job (knapp 43 000 Ende 2012) ist fast dreimal so hoch wie die der Arbeitslosen (gut 15 000 im Juni 2013), teilt das Landesamt für Statistik mit. Ein Arbeitsloser pro tausend Quadratmeter Wedding. Ist das viel?

Verwirrende Infos wie diese nimmt man mit auf die Straßen, hinein in den Wild Wild Wedding. Mit der Videokamera sind wir zunächst unterwegs, kleines Filmchen machen zum Reinkommen. Unterwegs, um dumme Fragen stellen: Warum Wedding? Was ist der Wedding? Und dann erzählen einem die Leute, dass sie wahnsinnig froh sind, dass es überhaupt noch Sachen wie das Gesundbrunnen-Center gibt. Wenn’s dit nicht gäbe, wär’ hier jar nüscht. So reden sie, immer noch.

Man erwartet, dass die Deutschen über die sogenannten Ausländer schimpfen, und das tun sie dann auch ein bisschen. Man erwartet, dass die sogenannten Ausländer über die Deutschen schimpfen. Tun sie nicht. Stattdessen schimpfen sie über die lasche Polizei, den Dreck und die Kriminalität.

Vor dem Bürgeramt an der Osloer klagt ein bärtiger Mann darüber, wie die Behörden ihn verarschen und wie das überhaupt hier aussieht, wie ein Gefängnis, wie Nicaragua, jedenfalls aber nicht wie Deutschland.

Am Bio-Markt auf dem Leopoldplatz schwärmt eine reizende Französin vom „Mülti-Külti“. Und dann sind da noch die beiden Jungs mit ihren Basecaps, Müller-, Ecke Triftstraße, die halb cool, halb drohend an uns vorbeiwippen und – ohne stehen zu bleiben oder auch nur einen Tick langsamer zu werden – unseren Interviewversuch gleich mit der einfachsten, weil frechsten Gegenfrage kontern: „Video? Gibt’s da Geld für?“

Ja, Jungs, ihr habt es bitter nötig, das Geld, das es nicht geben wird. Aber wer nicht in dieser Stadt? Erst im August haben sie, hier an der Müllerstraße, auf eine 84-jährige Musikladen-Besitzerin eingestochen – für ein paar Flöten aus der Auslage.

Also, was jetzt? Kein Geld? Dann verpisst euch.

Der Inhalt des eigenen Portemonnaies, seit jeher der kleinste gemeinsame Nenner der Weddinger. Bettelarm nicht wenige, auch das so erfolgreiche Prime Time Theater, wo sie die herrlich durchgeknallte Bühnen-Soap „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ aufführen, seit 2004, gerade läuft Folge 86 („Döner-Donut-Dauerdienst“), und nirgendwo sonst nehmen sich Kartoffeln und Kanaken so auf die Schippe – Humor als effektivste Integrationsarbeit. Fördermittel aber gibt es keine mehr. Noch ein Grund, auf die „Prenzlwichser“ und das neureiche Gesocks von nebenan zu schimpfen. Stolz und Vorurteil, hier wie da.

Deutschlands berühmtestes Arbeitsamt steht übrigens auch im Wedding, Müllerstraße 16, Stammgast in der ARD-Tagesschau. Lange das Standardbild beim Thema Arbeitsmarkt, hinter Jan Hofer, Dagmar Berghoff und Co., wirklich wahr. Millionen Westdeutsche sahen es Monat für Monat: das eckige rote A auf rundem weißem Grund, die Treppe, die grauen Kacheln, den roten Türrahmen. Das Arbeitsamt, es ist natürlich längst ein Jobcenter, und letztes Jahr, an Hitlers Geburtstag, haben sie es mit Farbbeuteln und Steinen beworfen, um viertel vor zwei nachts.

Überhaupt: Von 20 Nachrichten, die zum Wedding über den Ticker laufen, findet man mitunter nur eine, die nichts mit Kriminalität zu tun hat. Es ist dann aber nicht klar, ob das mehr über den Wedding sagt oder mehr über das Bild, das die Medien von ihm zeichnen.

In dieser einen Meldung geht es übrigens um den Mauerpark, der längst schon zur Ikone des chronisch hippen Nachbarn Prenzlauer Berg geworden ist. Und der sich nun, 24 Jahre nach der Wende, endlich, endlich zum Wedding hin geöffnet hat. 24 Jahre. Allein das erzählt viel von den Grenzen, die noch durch diese Stadt verlaufen.

Im Norden des Mauerparks, auch das ist ein Teil von Gesundbrunnen, man mag es kaum glauben, wollen sie bald teure Wohnungen bauen, jetzt ist da noch ein Schrottplatz. Nur mit dem Protest sind sie westlich des Tunnels wieder ein bisschen spät dran gewesen; drüben, in Prenzlauer Berg, haben sie viel früher gegen die Bebauung und die Zuwegung mobilisiert. Man kommt sich ohnehin nur sehr langsam näher, in kleinen Grüppchen zunächst, wie bei den Radtouren von „Nächste Ausfahrt Wedding“, gestartet vor einigen Jahren von zwei neugierigen Prenzlauerbergern.

Aber langsam, langsam kommen sie rüber. Noch sind die Inseln, die die Kreativen im Wedding kultivieren, nur lose verbunden. Eine liegt sorgsam versteckt hinter einem Studentenwohnheim, unter mächtigen Eichen. „Hausbrauerei Eschenbräu“, steht auf der kleinen Leuchttafel, in Comic Sans, der Standardschrift für Gemeindeblättchen. Klar, man kommt nicht für die Verpackung her, sondern für den Inhalt. Fürs Bier. Und das, was ein gewisser Martin Eschenbrenner 2001 als studentischen Zeitvertreib begann und was heute ein 14-Personen-Unternehmen ist, schmeckt wie die Weddinger selbst: ungefiltert und eigen und bisweilen großartig.

Es tut sich wieder was im einstigen Brauereistadtteil Wedding, acht Stück waren hier mal angesiedelt, zur großen Zeit um 1900, von ihnen ist ansonsten übrig eine bröckelnde Brandwand an der Prinzenallee: Was trinken wir? Schultheiss Bier.

Aber legendär gesoffen wird natürlich nach wie vor, hinter vergilbten Gardinen und toten Pflanzen. Typen wie Bukowski, Lowry, Tom Waits hätte es hier gefallen, den großen Pichlern und Denkern, Bukowski allen voran. Hier würde er sitzen, im „Magendoktor“, im „Klammeraffen“, in der „Trümmerlotte“ oder einer der tausend anderen Kaschemmen, am äußersten Rand des Tresens, würde den billigsten Fusel saufen wie Wasser und irgendwann vom Schemel taumeln in die Nacht und sich an der nächstbesten Ecke mit dem nächstbesten Schläger anlegen – geprügelt vom Leben und ihm jede Nacht aufs Neue die Stirn bietend. Wenn es einen deutschen Bukowski gibt, in diesem Berlin des Jahres 2013, dann sitzt er jetzt irgendwo im Wedding und trinkt still vor sich hin. Wir werden erst in 30 Jahren von ihm lesen.

Die guten Trinkerstuben gab es schon immer, als der Himmel noch erleuchtet war von den Schloten der Eisengießereien, als die AEG hier produzierte und die BMAG, als Osram und Rotaprint Tausenden Arbeit gaben, harte Arbeit – und die macht immer am durstigsten.

 

III. EIN STADTTEIL ALS LABOR

Und heute? Taugt der Wedding oder das, was von ihm übrig ist, als Objektiv auf das große, unverständliche Ding Berlin? Für das, was hier schiefgelaufen ist und noch schiefläuft?

Zumindest kann man hier noch heute gut sehen, was aus Vierteln werden kann, wenn man sie in Versuchslabore umwandelt. Verkündet durch Bürgermeister Willy Brandt im März 1963, ab den 70ern dann durchgeführt: die Kahlschlagsanierung. Wie hässlich schon das Wort klingt. Ihr fielen unzählige Altbauten zum Opfer, das Brunnenviertel haben sie damals gleich ganz plattgemacht. Hier, im von der Mauer eingebauten „Tiefen Wedding“, dem allerletzten Zipfel West-Berlins, entstand, in Sichtweite der DDR, ein gigantischer Wohnquader neben dem anderen. Und kaum einer sagte was, auch damals schon, während in Kreuzberg die rührigen Bewohner Vergleichbares zu verhindern wussten.

Wer allerdings die alten Mietskasernen verherrlichen will, sollte sich erst anschauen, wie die Arbeiterfamilien so gehaust haben in diesen Löchern, im Mitte-Museum an der Pankstraße kann man das sehr gut tun, nur ein paar Meter vom Schinkeltempel und den Konterfeis der drei Brüder Boateng, gewachsen auf Beton, sponsored by Nike.

Nein, es waren auch früher schon keine schönen Zeiten, wenn du Arbeiter warst im Wedding, an den ersten Maitagen 1929 haben sie gleich Dutzende von ihnen abgemetzelt. „Roter Wedding“, das war fortan blutige Doppeldeutigkeit, von Erich Weinert in ein kommunistisches Kampflied gemünzt, von Ernst Busch später adaptiert. In dessen Version das bis heute nachhallende Versprechen: „Der Wedding kommt wieder!“

Der Rote Wedding, er marschiert nun schon länger nicht mehr, und doch gibt es plötzlich ein paar, die die alte Ansage einzulösen scheinen.

Behutsam treten sie auf, die Weddingworker, sie kennen sich alle untereinander, aber sie wollen nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Die Verschönerung wird nach den Erfahrungen anderswo in der Stadt immer öfter als schöner Vorbote gnadenloser Aufwertung gefürchtet, also tastet sie sich auf leisen Sohlen vor. Als dunkles Ungetüm am Horizont: die Gentrifizierung, das böse Wort, das keiner freiwillig in den Mund nehmen will. Ein zweites Kreuzkölln, ein zweites Prenzlberg gar, das wollen sie hier auf gar keinen Fall heranzüchten.

Und doch gibt es da schon diese Inseln im Meer, das Wedding heißt: Eine liegt auf dem Dach eines riesigen Kaufhauses und heißt Himmelbeet, eine andere gleich ganz im alten Fleischtheken-Ambiente: der Supermarkt an der Brunnenstraße. Büroplätze für Selbstständige, ein Café und Begegnungsraum für Kreative. Selbst die Telekom hat hier, mitten im schmuddeligen Brunnenviertel, schon Platz für Seminare gebucht. Über fast eine ganze Ladenzeile erstreckt er sich schon, doch jetzt soll erst einmal Schluss sein mit der Ausbreitung, sagen die Betreiber. Keine falschen Zeichen setzen, an die Bewohner, die Umgebung. Sollen erst mal auch andere kommen können.

Ausgeschenkt wird das trübe, kalte Bier des Martin Eschenbrenner übrigens auch hier, nur ein paar Meter weiter, im „Volta“, einem kleinen, feinen Konzeptrestaurant mitten in der rotbraunen Kachelhölle Brunnenstraße. Gastropub nennen sie das. Dort sitzt man sommers auf einem Holzpodest, auch so eine kleine Insel der Glückseligen, und daran vorbei laufen die Alteingesessenen mit ihren Lidl-Tüten und schauen mittlerweile nur noch ein bisschen verdutzt. Und ein paar Straßen weiter flattert ein handgemaltes Banner vom Balkon: „Gegen Luxuswohnungen, für Grünflächen“, und daneben das Ganze noch mal auf Türkisch.

Im Stattbad Wedding schließlich, vielleicht der angesagtesten Location dieses Nouvelle Wedding, betonen sie, dass sie sich vor allem als Kunst- und Kreativhaus sehen statt als Party-Location mit elektromagnetischer Anziehung für die ganze Stadt. Damit lässt sich zwar das meiste Geld einspielen, das aber wiederum stecken sie am liebsten in die Kunst, gerade war eine Skateboard-Ausstellung zu Gast. So läuft das hier. Es will keiner sein, was er nicht ist. Das Gegenteil also von dem, was südlich der Bernauer Straße, im überdrehten Mitte, den Lifestyle definiert. Willkommen bei den Anti-Hipstern vom Wedding. Und ein paar Meter die Gerichtstraße runter hocken die Hells Angels vor ihrem Laden.

Breitbeinig kann im Übrigen auch der Wedding sein. Hier gilt bisweilen nicht Rechts vor Links, sondern: Maul vor Stumm. Blök vor Glotz. Schrei vor Flenn. Faust vor Fleh.

 

IV. POLITIK UND IDYLLE

Also: Tut sich was?

Jetzt hat sogar Steinbrück hier eine Wohnung bezogen, mitten in der Sprengelstraße. Bei Edeka ist er gesichtet worden, in weißem Hemd und offenem Sakko, willkommen, Möchtegernkanzler, ruft die Gemeinde, wir fühlen uns gleich viel sicherer. Ha, ha.

Dabei geht hier, wo vor dem Krieg die Kommunisten stets große Mehrheiten einfuhren, eh kaum noch einer wählen, am schlimmsten steht es um die Wahlbeteiligung in den Gegenden mit den meisten Migranten, am Nettelbeckplatz, im östlichen Brunnenviertel, rings um die Soldiner Straße, hier geht nicht mal mehr jeder Zweite zur Urne, manchmal nur jeder Dritte. Es ist wohl das konsequente Desinteresse derer, für die sich ihr Leben anfühlt, als habe sich noch nie ein Politiker dafür interessiert, seit sie hier sind.

Und doch, gerade hier, gibt es die Orte, an denen man glauben mag, dass zwischen Multi und Kulti tatsächlich ein Bindestrich ist. Das Carik Kuruyemis & Café ist so einer. Von außen sieht es aus wie ein einfacher türkischer Delikatessenladen, doch wenn du dich an den Körben und Auslagen mit all den Pinienkernen, Nüssen und süßen Baklava vorbeizwängst, in den Hinterraum, dann bist du plötzlich mittendrin. Das hier ist der Ort, wo ein junges Mädchen hereinkommt und strahlend zu ihren Freundinnen sagt: „Das ist voll wie in der Türkei hier.“ Hier ist auch der Ort, an dem ältere deutsche Pärchen sitzen, in Lederjacke und Rüschenbluse, als müssten sie gleich noch zum Preisskat, und aus ihrem dampfenden Kumpir löffeln und braun gegrillte Köfte kauen.

Und ja, es gibt ihn, den idyllischen Wedding, man kann ihn mit dem Fahrrad befahren, immer die Panke entlang, an altem Backstein vorbei bis hinauf zum seltsam entrückten Bahnhof Wollankstraße und weiter in den Pankower Bürgerpark. Es gibt ihn, den Rosengarten im Humboldthain, den Volkspark Rehberge, den Plötzensee, das erhabene Virchow-Klinikum mit seinem wunderbar ruhigen Innenhof.

„Wunderkammer Wedding“ – den schönsten Begriff hat unter Umständen Pedda Borowski gefunden, Maler, Illustrator und Design-Dozent an der IB-Hochschule. Er benannte sein Seminar nach den vollgestopften Raritätenausstellungen der Spätrenaissance, eben: Wunderkammer. Borowski hat seine Studenten einfach losgeschickt, in die Straßenschluchten und die Kneipen und die Parks. Sie sollten, wie damals die Besucher der Museums-Vorläufer, vor allem eines: staunen. Und lernen. Und sich verändern.

 

V. NUN KOMM DOCH ENDLICH!

Er kommt, der Wedding, raunen sie seit Jahren, oder kommt er noch nicht, jetzt kommt er aber, nein wirklich, jetzt muss er doch kommen!

Ja, Leute, wohin denn, bitte schön? Und überhaupt, was für eine schwachsinnige Forderung! Er war doch immer da und ließ mit sich machen. Ließ sich hin- und herwälzen, immer mal wieder umoperieren, auch mal mit dem stumpfen Skalpell. Aber sich bewegen, daran denkt doch der faule, fette Vogel Wedding nicht. Wohin denn auch? Er ist doch schon mittendrin. Wenn schon Aufbruch, dann eher so wie in der alten Liedzeile des seligen Jim Croce, völlig anderes Land, völlig andere Zeit: „If you’re going my way, I’ll go with you.“ Recht hast du, alter Freund.

Und dann wetzt man, ganz geschafft vom Schauen und Reden und Wundern, die Hochstraße hinauf, den S-Bahn-Graben zur Rechten, hastig tretend den vermeintlich schöneren Ecken dieser Stadt entgegen, und dann tut sich links auf einmal der Blick auf vor dunkelrotem Weddinghimmel, und mit dünnen Bauhaus-Lettern steht an schlichter Fassade: Hotel Citylight. Und man denkt sich nur: L.A., 50er Jahre, und sonst nirgendwo.

Man muss das alles nicht verstehen. Manche sagen: Man kann das alles nicht verstehen.

Wedding, was ist das?

Tja, keine Ahnung. Aber wir werden mal losziehen und sehen, was sich herausfinden lässt.

Sex, Drugs & Futebol

Er war Brasiliens erster Popstar, doch er verglühte rasch. Ein Flug über das kurze, irre Leben des Heleno de Freitas

Stumpf und schwarz sind die Nägel, die über das vergilbte Papier streichen. Magere Finger ertasten zitternd die Umrisse der Vergangenheit, die großen Lettern. »Heleno 1, Chile 0«, steht da geschrieben, oder »Heleno, das Juwel«. Die Krallen reißen am Papierrand, langsam, ritschhhhhh, ein sanftes Geräusch, ein Streifen löst sich ab, zerklüftete Kanten. Die dreckige Hand zerknüllt das Papier, führt es andächtig zum Mund. Kauen. Schlucken.

Wonach schmeckt die Vergangenheit? Wonach schmeckt der Ruhm? Wie schmeckt er, Heleno?

Welchen Geschmack hatte dein Leben? Und wie soll man, bitteschön, darüber schreiben?

Ein junger kolumbianischer Journalist namens Gabriel García Márquez hat es als Erster versucht. »Als Fußballspieler«, schrieb er, »schwankt Heleno de Freitas zwischen den Extremen. Aber er ist mehr als ein Mittelstürmer. Er gibt den anderen ständig Anlass, schlecht über ihn zu reden.«

»Hundert Jahre Einsamkeit« – das Buch, mit dem García Márquez später berühmt wurde, es hätte auch von Heleno de Freitas handeln können.
Von dem Mann, der hier seine Vergangenheit verschlingt, ohne übermäßige Gier. Streifen für Streifen. Minutenlang. Wie viele Minuten sind das gewesen, Heleno? Zehn? Zwanzig? Hundert? Bis an der kalkweißen Wand nur noch ein paar Fetzen kleben, unleserlich und hässlich.

Der Irre rülpst.

Hier also, Heleno, endet deine Geschichte – in Zimmer 25 der Casa de Saúde São Sebastião, Avenida São Sebastião, Barbacena, im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. In einem kärglichen Doppelzimmer.

Wer bist du, Heleno de Freitas? 1920 geboren, 209 Tore in 235 Spielen für Botafogo, die ersten beiden im April 1940. Profi auch in Argentinien, Kolumbien, dann wieder in Rio de Janeiro. Heleno: Sohn der reichen, weißen Oberschicht, ausgebildeter Anwalt, Doktor des Rechts gar. 1,82 Meter. Ein Riese damals. Gesicht wie ein Filmstar, Womanizer, Prinz von Rio, tags Unglaubliches auf dem Feld, nachts noch Unglaublicheres mit den Frauen, Hitzkopf, Bohemien, Brasiliens größtes Talent vor Pelé. Und der große, alles verschlingende Traum: der Traum vom Maracanã. 18 Länderspiele nur, und keine WM. Spitzname: der verfluchte Prinz. Und sonst? Drogen, viele Drogen, Alkohol, Girls, viele, viele Girls, und noch viel mehr gleißende Wut, ein Mann wie ein Vulkan, der Ausbruch, die Krankheit, das viel zu frühe Ende.

Wer bist du, Heleno?

Geschichte voller Fragezeichen, große, tragische Story aus einer Zeit vor dem Fernsehen, das immer alles erklären will. Geschichte aus dem goldenen Rio der Vierziger, der glitzernden Stadt der steilen Hügel und der tiefen Abgründe.

Filmmaterial gibt es also nicht. Gut so. Wir suchen hier keine Fakten. Wir suchen: Heleno.

Am Strand – wo sonst? – haben sie dich entdeckt, knöcheltief im weißen Sand, Apfelsinen mit den Füßen jonglierend. Dieser schmale Beau! Unwiderstehlich schon der Charme des Jungen, des Teenagers Heleno de Freitas.

Vom Sand weg verpflichtet ihn der Klub, fortan trägt der Junge den weißen Stern auf dem Herzen. Bald schon ist er selbst eine estrela, ein Star, eine Sensation in der Millionenstadt, die sich so sehr reckt und streckt in jener Zeit, da die Moderne Südamerika überspült.

Aber genug davon. Schauen wir unserem Helden ins Gesicht.

Mut ist dabei hilfreich. Die Konturen sind wie mit dem Messer gezogen, die Brauen eine einzige Bedrohung, tief und geschwungen und abschätzig, dicht zieht es sie zueinander, ganz eng. Nase: gerade und nach vorne drängend, wie der Schnabel eines Raubvogels. Heleno: ein Habicht mit gegelten Haaren. Der Scheitel ist ihm schnurgerade ins Haar gefahren, wie ein Blitz, wie eine Narbe. Und dann: die Lippen. Vor allem: diese Oberlippe! Kunstvoll geschwungen wie eine Cellozarge. Wie die Lippe einer wunderschönen Frau. Sorgsam verborgen dahinter die schiefen Frontzähne, die Fratze.

Ein Gesicht, das man nicht vergisst, irgendwo zwischen Bogart, Belmondo und Banderas.

In den dunklen Augen konzentriert sich alles. Mit Begierde blicken sie auf die Welt, aber auch mit Misstrauen und Verachtung. Die reine Melancholie. Schauen sie schon bis ins Maracanã?

»Ich weiß, was ich will«, sagen die Augen, sagt Heleno, »Tore, schmale Taillen, Cadillacs.«

Der Dandy hegt sein Image. »Ich bin mein Image, dahinter ist nichts«, wird er einmal sagen. Schützende Phrasen. Dabei ist er reich und gebildet. Heleno: der Playboy mit Zigarette im Mundwinkel und Goldkettchen am Handgelenk. Mit dem Clube dos Cafajestes, dem »Klub der Filous«, einer Clique junger Piloten, Banker und Ärzte, zieht er durch die Nächte Rios, setzt im Cassino Atlântica auf Rot oder Schwarz, lauscht den kreischenden Jazzkapellen und Swingorchestern und bringt die Töchter der Reichen um den Verstand. Bester Ort dafür: der Golden Room des Copacabana Palace, fünf Sterne direkt an der Strandpromenade, ein Palast aus italienischem Marmor, sieben traumweiße Stockwerke, Blick aus den hohen Fenstern auf das berühmte Wellenpflaster, den Sand, all die Schönheit. Das Palace, das erste Haus am Platze, wo die internationalen Stars einkehren, das ist Helenos wahre Heimat. Hier spielen sie ihm Abend für Abend seinen Lieblingssong: »My Foolish Heart«.

Auf dem Spielfeld tut er Dinge, die sie noch nie gesehen haben, nicht mal in Brasilien. Einmal stoppt er den Ball mit der Brust, 20 Meter vor dem Tor, lässt sich ins Hohlkreuz fallen, dass man es knacken zu hören meint, und läuft dann, den Ball unerreichbar auf dem Botafogo-Stern balancierend, bis ins Tor.

Nichts scheint unmöglich in diesen goldenen Tagen. Für Heleno wie für Rio. Der Weltkrieg endet, eine neue Architektur ist im Entstehen. Während Heleno mit dem weißen Stern auf schwarzer Brust der Meisterschaft, der Carioca, hinterherhetzt, die doch alle von ihm erwarten, mit der es aber nicht klappen will, hat er längst das viel größere Ziel im Sinn. Das Maracanã, das größte Stadion der Welt, das die Stadtväter für die Weltmeisterschaft 1950 bauen lassen. 200 000 Menschen! Sie alle werden ihm dabei zusehen, wie er die Seleção zum ersten Titel führt, werden ihm huldigen, wenn er sich den Jules-Rimet-Pokal über den Narbenscheitel schwingt. Es wird seine WM, und so spricht er auch von ihr, so prahlt er vor allen.

Eine Kostprobe der süßen Zukunft trägt er schon jetzt immer bei sich, in einem kleinen, braunen Fläschchen, das es in jeder Apotheke gibt. »Ah, dieser verteufelte Äther«, wird Drogenpapst Hunter S. Thompson seinen Anti-Helden Raoul Duke später sagen lassen. »Man verliert alle grundlegenden motorischen Fähigkeiten, verschwommene Sicht, fehlender Gleichgewichtssinn, taube Zunge. Dein Verstand wendet sich mit Grausen ab.«

Süß und betäubend wie der Äther ist auch die Copacabana, das Paradies der Versuchung. »Kleine Meerprinzessin« nennen sie ihre prunkvolle Bucht, und Heleno ist ihr Prinz. Milde blickt Christus, der andere Superstar, von seinem Hügel herab auf das größte Irrlicht der Stadt.

Helenos Tage scheinen mehr als 24 Stunden zu haben, morgens spielt er, wenn er Lust hat, Turniere am Strand, guckt sich schon mal die besten Mädchen aus, nachmittags trainiert er ein bisschen mit seinem Team, und abends – nun, abends beginnen die langen, langen Nächte von Rio.

Bei Botafogo lassen sie ihm, dem craque problema, Brasiliens erstem Skandalprofi, ohnehin alles durchgehen, die wüsten Beleidigungen der Kollegen, die durchzechten Nächte. Einfacher Grund: Sie brauchen ihn. Den spielenden Mittelstürmer. Den Supertechniker. Den manisch Ehrgeizigen. Den Irren.

Hat dich der Äther kaputtgemacht, schöner Heleno, oder war es das verdammte Maracanã? Die saudade, die große brasilianische Sehnsucht, verzehrt einen, wenn man nicht aufpasst. Sócrates, den anderen genialen doutor müsste man jetzt fragen können, doch auch der ist schon tot, noch so ein verfluchter Prinz, zugrunde gegangen an der Süße des Lebens, die er sich am liebsten mit Limetten und Eiswürfeln reichen ließ.

Der Caipirinha! Die Frauen! Du musst es dir nehmen, das Leben. Du darfst es nicht an dir vorbeigehen lassen, wenn du am besten Strand von Rio liegst, die weißen Mauern des Palace im Rücken, und wenn es in einem knappen Badeanzug steckt. Zwei Möglichkeiten: Mach sie zur Kunst, diese atemlose Schönheit, so wie später Vinicius de Moraes und Tom Jobim, als die junge Heloísa Eneida Menezes Paes an ihnen vorbeischwebt, das »Girl from Ipanema«. Oder stell dich ihr in den Weg und finde heraus, ob ihr Atem auch so süß schmeckt wie der Duft aus dem braunen Flakon – vielleicht noch ein bisschen süßer. Und das ist, natürlich, immer der Weg gewesen des gierigen Habichts namens Heleno.

Es ist ihm dabei allzu ernst. »Sie sagen, es ist nur ein Spiel, aber das Spiel ist doch das Leben!« So klagt, so wütet Heleno, der Besessene. Warum nur denkt keiner so wie er? Daran liegt es doch schließlich, dass sie immer noch keine Meisterschaft gewonnen haben. Woran sonst?

»Die Spieler sollten sich vor jedem Spiel eine Oper ansehen«, sagt er. Das ist doch der Fußball: eine großartige Inszenierung, eine Show. Und er ihr Mittelpunkt. Er fühlt sich allen überlegen, logisch, so ist er ja aufgewachsen, der Sohn des Plantagenbesitzers, der Privatschüler, der Anwalt. Natürlich aber hat keiner der proletarischen Banausen auf ihn gehört. Warum also erwarten sie, dass er einem schlecht gepassten Ball hinterherwetzt wie ein lausiger Straßenköter? Warum haben sie sich gegen ihn verschworen? Wenn er zwei Tore schießt, kassieren sie drei, sie neiden ihm seinen Ruhm, seine Kunst, seine Frauen.

Als Heleno, das Genie, den entscheidenden Elfmeter verschießt, der Botafogo die Meisterschaft kostet, geht er, zornbebend wie nie, auf die Teamkollegen los, sie haben es verbockt, wer sonst, am Ende sitzt er einsam unter der Dusche, neben ihm nur noch ein pitschnasses Ego.

»Gilda! Gilda!«, rufen ihm längst die gegnerischen Fans hinterher, und meinen: die neueste Rolle von Rita Hayworth, quasi: original drama queen. Sie haben den wunden Punkt erkannt: die Männlichkeit. Den Zorn. Das Ich.

Und dann sitzt ihm sein Präsident Carlito Rocha gegenüber. Heleno hört die Worte nicht, die aus seinem Mund kommen: »Du bist ein Star, aber wir verkaufen dich an Boca.« Wie? Boca?

Wie in Trance schleicht Heleno in die Kabine. »Da geht er«, ätzt einer der Nichtskönner: »Der, der vergaß, dass er nur ein Fußballspieler war.« Aber Heleno kann, muss auch hier noch einen draufsetzen. »Ich bin kein Fußballspieler«, zischt er, »ich bin ein Botafogo-Spieler.«

Woher die Wut, Heleno?

Und auf wen?

Argentinien jedenfalls wird ein Desaster, das erste von vielen. Zum Training erscheint der Prinz von Rio im langen Wintermantel, schweinekalt ist ihm. Die anderen schütteln nur den Kopf. Die Dämonen, er trifft sie jetzt, in dem kalten Land mit der harten Sprache, immer öfter. Frau und Kind hat er daheim gelassen, der Einsamkeit begegnet er mit neuen Exzessen. Natürlich verkehrt er auch hier in den besten Kreisen. Selbst Evita Peron, die schöne First Lady, soll ihm verfallen sein, ihm und seinen wunderbar traurigen Augen.

Bei der Heimkehr ein Jahr später hat ihn seine Frau verlassen, für einen Teamkollegen, seinen besten Freund. Helenos Reaktion, mitten im Prunk seines Apartments: »Dann verkaufe ich diese Bruchbude und ziehe ins Copacabana Palace, wo ich hingehöre.« Stattdessen schießt er sich im nächsten Rausch erst einmal selbst in den Fuß, er will wie John Wayne ein Streichholz zwischen seinen Zehen treffen.

Wohin nun? Vasco da Gama erbarmt sich seiner, Heleno ist hier nur noch ein Spieler wie jeder andere. Die Meisterschaft, ein schwacher Trost. Die Familie kaputt, Kontakt zu seinem Sohn ist ihm verboten, und auch die Copacabana ist eine andere geworden. Der Hotelpalast wird jetzt von drei Seiten überragt von immer neuen Hochhäusern, acht, zehn, zwölf Stockwerke hoch. Die Stadt am Strand wächst immer schneller, will immer höher hinaus, sie strebt dem steinernen Jesus entgegen. Das Maracanã ist fast fertig, bald beginnt die WM, doch Nationaltrainer Flavio Costa denkt nicht daran, sich ein Problem namens Heleno in den Kader zu holen.

Es folgt eine weitere Flucht. Nach Kolumbien, ein Land am Rande des Bürgerkriegs, in dem unverhofft die lukrativste Liga Lateinamerikas entstanden ist. Die Rebellenliga. El Dorado, so nennt sie sich. Wie passend. Eine glitzernde Scheinwelt inmitten des Chaos. Eine Welt, wie gemacht für unseren Heleno.

»Ich kann Wunder tun«, verkündet er gleich bei seiner Ankunft. Und der 22 Jahre alte Lokaljournalist García Márquez schreibt fleißig mit. An guten Tagen stellt Heleno die anderen Stars in den Schatten, darunter einen gewissen Alfredo di Stéfano. An schlechten …

Die große WM findet ohne ihn statt. Und Brasilien verliert das entscheidende Spiel gegen Uruguay 1:2 – ein 1:1 hätte zum Titel gereicht. Vom Siegtreffer des Alcides Edgardo Ghiggia, der an diesem 16. Juli 1950 das riesige Stadion zum Schweigen bringt und eine Nation in den Schockzustand versetzt, erfährt Heleno de Freitas, Ex-Held im Exil, erst am folgenden Tag aus der Zeitung. Noch einmal bricht sich der bittere Zorn Bahn. Mit ihm wäre das nicht passiert, unmöglich, ausgeschlossen. Er ist ja keiner, der auf Unentschieden spielt! Der wütende Prinz zieht in die süße Nacht, trinkt, raucht, vögelt, und fasst dann, die Sinne noch halb betäubt, neue, noch einmal die ganz großen Pläne. Er wird zurückkommen und es allen noch mal zeigen. Doch was sich dereinst der kranke Ali gegen Larry Holmes vornehmen wird, kann auch 30 Jahre früher nicht klappen.

Sein Arzt schüttelt nur den Kopf. »Heleno«, sagt er, »du musst auf dich achten. Auf deine Gesundheit. Du bist krank. Du musst aufhören zu trinken und zu rauchen. Und, wenn möglich, auch mit dem Fußball. Am besten jetzt gleich.« Da wütet Heleno mehr als je zuvor. Der Syphilis soll er sich beugen? Heleno de Freitas spielt nicht im Maracanã? Undenkbar. Er wird, ein letztes Mal noch, seinen Willen bekommen. Am 4. November 1951, anderthalb Jahre nach Ghiggias Tor, läuft endlich auch Heleno de Freitas in das riesige Oval ein, als Spieler des América FC. Kein WM-Finale, ein kleines Zweitrundenspiel der regionalen Meisterschaft. Es gibt ein Foto von diesem Tag, es zeigt einen Mann mit aufgedunsenem Gesicht und Doppelkinn. Das einst hochmütige Lächeln grotesk verzerrt. Schlimmer noch: Die Augen sind stumpf. Sie schauen ins Nichts.

Nach 25 Minuten ist alles vorbei. Heleno de Freitas fliegt wegen Beleidigung vom Platz. »Nur noch ein Fall fürs Hospiz«, schreibt das »Jornal dos Sports« tags darauf, mit dunkel grausamer Vorahnung. Kein 31-Jähriger hat sich da über den Rasen geschleppt, sondern ein alter, zerstörter Mann. Die Antiklimax einer Karriere.

Nach dem Desaster von Maracanã fällt alles zusammen. Mit dem Fußball ist es vorbei. Zwei Jahre lang kommt Heleno, schon schwerkrank und immer wirrer, bei seinem Bruder Heraldo unter, spielt manisch Backgammon gegen dessen Kinder. Gewinnen lässt er sie nicht, kein einziges Mal. Spät in den schlaflosen Nächten schleicht er dann in ihre Zimmer und zieht ihnen die Decken zurecht. Dass ihnen kalt wird, ist seine größte Sorge. Tagsüber erzählt er stundenlang von dem gleichen Riesen, der Bäume mit bloßen Händen ausreißen kann.

Ganz am Ende, in seinem kargen Zimmer in dem gekalkten Bau an der Avenida São Sebastião, ist Heleno de Freitas, der einstige Superstar, nur noch ein hagerer Mann mit strähnigen Haaren und starrem Blick, ein Skelett von 30 Kilo, mit nur noch einem Zahn im Mund. Ein knapp 40-Jähriger im Körper eines 80-Jährigen. Ein Stern, verglüht wie die abertausenden Continental, die er aufgesaugt hat wie das Leben.

Oh, Heleno. Während du in deinem weißen Zimmer mit letzter Kraft die Vergangenheit hinunterwürgst, ist draußen, am Strand, bereits ein neues Brasilien entstanden. Ein neuer Soundtrack, ohne den Pomp der Vierziger. Nur noch eine Gitarre und ihre Stimme brauchen sie nun, die Kinder der Reichen, für ihre neue Musik, die sie Bossa nova nennen. Sie haben etwas, das du, Heleno, so dringend gebraucht hättest, schwer zu sagen, was genau, vielleicht Selbstironie, vielleicht Gelassenheit. Vielleicht einfach ein bisschen Glück. Niemand zieht jetzt mehr die Augenbrauen so tief. »Was meinst du damit, ich bin dir zu schräg?«, so singen sie sanft, ein bisschen desafinado sein, das ist doch ganz normal. Sie sind es nun, die die schönsten Girls ins Bett kriegen, hoch oben in den steilen Wohnungstürmen. Und nun wird auch die Seleção Weltmeister, die Brasilianer lassen den Fußball zum ersten Mal kinderleicht erscheinen, wie eine simple Fingerübung auf der Gitarre, und ein 17-jähriger Bengel namens Pelé ist ihr neuer, ihr ganz großer Star.

Und nur ein Jahr darauf stirbt Heleno de Freitas, an einem klaren Novembertag, in einem sehr weißen, sehr einsamen Haus an der Avenida São Sebastião.

(erschienen 2013 in 11FREUNDE Spezial „Fußball und Pop“)

Aufschrei! (5 Minuten Stadt)

Idylle Prenzlauer Berg. Schlenderzone Stargarder Straße. Familienspaziergänge. Händchen haltende Pärchen. Kinder auf Laufrädern. Gegenüber an der Eisdiele „Hokey Pokey“ zahlen die Menschen bereitwillig 1,60 Euro für die Kugel. Wohlstands-Happiness, das Leben: ein buntes Aquarell. Auf den Trottoirs: Vintage-Stühle, darauf: Vintage-Menschen, essend, trinkend, redend. Angeregte Gespräche. Vor einem Café, hier: orangefarbenes Gestühl, dreht es sich gerade um die „Aufschrei“-Debatte, deren Initiatorinnen kurz zuvor mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurden. Haben im Internet auf Frauenfeindlichkeit und sexuelle Belästigung hingewiesen. Und die Welt hoffentlich ein bisschen weniger sexistisch gemacht. Gute Sache, logisch, darauf ein Schlückchen Cappucino und ein beruhigter Themenwechsel. Gerade will man wieder anheben, da dringt ins allgemeine Vögelgezwitscher ein seltsames Störgeräusch. Näher kommender Beat. Es macht: Bumm-bumm-kah, bu-bumm-bumm-kah. Wird jetzt ziemlich schnell ziemlich laut. Genervte Blicke den Gehweg herunter. Doch statt der erwarteten tiefer gelegten Sportkarre nur ein sich nähernder Adoleszent im grauen Schlabbershirt, plärrendes Handy in der hohlen Hand. „Du guckst mich an“, kann man nun den schnellen Sprechgesang hören, während der Jüngling, Sneaker, schwarze Turnhose, Pausbacken, dumpf vorbeistampft. „Du guckst mich an“, rappt es also zwischen den Wurstfingern hervor, „ich hab Style und das Geld, heute bin ich all das, was euch Fotzen so gefällt.“ Leicht mit dem Kopf nickend pflügt der dicke Junge zu dieser grandios beschissenen Bordstein-Weisheit durchs Kinderwagen-Ghetto, vorbei an irritierten Blicken, sein Shirt wackelt dazu lustig überm Hüftspeck. Zurück lässt er nach einer Schrecksekunde: belustigte Gesichter. „Wie geil“, sagt jemand ironisch und fängt dann an, über etwas völlig anderes zu reden. (Tsp.)

Das andere Finale

– Wembley, Ende Mai 2013 – das wichtigste Spiel des Jahres: Crystal Palace gegen Watford! (11FREUNDE #140)
– nominiert f. Longlist des Henri-Nannen-Preis 2014 (Reportage)

»The size of the prize«, sagt Ian Holloway und schüttelt sachte den haarlosen Kopf, »schaut euch nur an, was auf dem Spiel steht.« Weiterreden muss er nicht, alle haben die Zahl seit Tagen im Kopf: 120 Millionen. Eine monströse Zahl ist das, die in Britischen Pfund, der härtesten Währung der Welt, an den Gewinner dieses einen Spiels überwiesen wird.

Wir sind in Wembley, an einem lauwarmen Tag Ende Mai. Glänzend die große Arena, und voller Menschen. Mehr als 82.000 sind gekommen, stolz tragen sie ihre Farben, knallgelb leuchtet die Kurve im Osten, tiefrot die im Westen. Dazwischen passt nur ein dünnes schwarzes Tuch – Farbverläufe gibt es heute nicht. Win or lose, das sind die Optionen, nichts sonst. Es ist also alles genau so wie zwei Tage vorher, als die Bayern hier gegen Dortmund angetreten sind. Nur dass es diesmal, bei Watford gegen Crystal Palace, dem Team von Trainer Holloway, wirklich um etwas geht.

Es geht: um den dritten Aufstiegsplatz in die Premier League. Und um ebenjene 120 Millionen, die er mindestens mit sich bringt. Vor allem Fernsehgeld, die reichste Liga der Welt hat vor kurzem den größten Übertragungsdeal der Geschichte abgeschlossen, selbst das schlechteste Team wird nächstes Jahr gut 60 Millionen aus dem TV-Pool erhalten – plus noch einmal knapp 60 Millionen an so genannten Fallschirm-Zahlungen, die Absteiger automatisch erhalten. Das schönste Worst-case-Szenario der Welt. Achja, und der Verlierer, der kriegt gar nichts – oder, in heimischer Währung: fuck all.

Und doch lächelt Holloway nun, da unten auf dem Rasen, sie spielen »God save the queen«, die Glatze des Trainers glänzt in der Sonne, 80.000 singen, ein englischer Moment, ein großer Moment vor einem großen Spiel, und deshalb lächelt auch der Italiener Gianfranco Zola, der Coach des FC Watford. Beide wissen: Solche Tage sind selten im Leben eines Trainers, egal ob er Zola, Holloway oder Ferguson heißt.

Die ganze Reportage bei 11FREUNDE lesen.

Randalieren wie ein Boss (5 Minuten Stadt)

– Tagesspiegel, 5 Minuten Stadt

Sommerabend in Mitte, die Bar an der Ecke: richtig voll. Viele Leute draußen. Man trinkt: Moscow Mule. Man trägt: Hemden, Markenschuhe, Seitenscheitel. Man spricht: Englisch, Spanisch, ein bisschen Deutsch. Vor Holzbänken und Klapp stühlen: ein Laufsteg namens Torstraße. Und dann: Reifenquietschen. Hupen. Köpferecken. Ein Typ, weißes Hemd, Hornbrille, Rauschebart, steht mit seinem Fahrrad quer auf dem Damm, astreine Taxi-Blockade. Typ brüllt, steigt ab, will zur Autotür. Taxifahrer hat darauf keine Lust, rauscht ab. Radfahrer gemächlich hinterher. Gelangweiltes Publikum. Keine zwei Minuten später: Return of the Bartmensch. Heizt die Straße wieder herauf, freihändig, falsche Richtung, Geisterfahrt. Auf der Schulter: eines dieser Verkehrshütchen, rot-weißer Kegel. Und kurz vor der Bar: Abwurf. Schweres Plastik knallt auf Asphalt, Pylon jetzt mitten auf der Torstraße. Künstlerpause. Dann nächster Akt: Der Bart nun ein paar Meter weiter auf dem Gehweg, unverändert aggressiv im Maßhemd, zwei Meter, hundert Kilo, bebender Bart. Eine winzige Frau redet auf ihn ein, schubst ihn zurück. Die Menge guckt. Große Show. “ Wenn er die schlägt, hau ich ihn kaputt“, sagt einer. Unruhe. Nahende Eskalation. Doch das Fräulein beruhigt den Irren. Er lehnt an der Hauswand, abgekämpft. Interessiert schon keinen mehr. Schlürfschlürf. Lecker. Kurze Nachfrage beim Kellner, belustigtes Gesicht. “ Ach der, das ist mein Chef. Eher ein normaler Abend für ihn.“

The Zipperlein (5 Minuten Stadt)

(Tsp., Juni 2013) – S-Bahnhof Messe Nord. Die Menschen sitzen missmutig auf Bänken und starren in den Regen. Nächster Zug in sechs Minuten. Sonntagabend-Blues. Auch bei einer Rucksacktouristin, vielleicht 30 Jahre alt, dunkle Haare, klitschnasse Füße in Flipflops. Willkommen im Berliner Sommer. Kommt ein alter Mann den Bahnsteig herunter, Stock in der Linken, mit der Rechten hinter sich herziehend: einen leeren Einkaufstrolley, Typ Kartoffelporsche. Lässt sich jetzt ächzend neben die Backpackerin fallen. Kurze Pause. Ganz kurze Pause. Dann: „Na, wo komm Sie denn her? Wie? Ah, no Deutsch, hm? Where you from?“ Sie ist aus Costa Rica, sagt sie. Findet der alte Mann gut, vermutlich weil: exotisch, weil: ganz weit weg. Er erzählt vom letzten Urlaub am Meer, vor 30 Jahren. Von Stränden, Booten, Hafenbars. „Na, da war wat los!“ Lachender alter Mann. Nickende Touristin. Absolut kein Deutsch sprechende Touristin. Egal. Alter Mann erzählt aus seinem Leben. „Normal nehm‘ ich den 139er, wissense, aber der fährt bloß von zehn bis sechse. Morgens neunsechsnfuffzich der erste. Also jetzt schon nicht mehr.“ Er zeigt auf seine Armbanduhr. Halb sieben. Die Costa-Ricanerin nickt. Sie schaut hoch zur Minutenanzeige. „1 min“ steht da. Alter Mann, auf ein letztes: „Tun Sie mir einen Gefallen, bitte?“ – „Sorry?“ – „Bitte werden Sie nicht alt, okay?“ – „Alt?“ – „Hmmm… be old, you know?“ – „?“ – „Wer alt ist, ist gestraft. Ist so. Then come the Zipperlein. Verstehense? Der Rücken, die Gräten.“ Mühsam, aber mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht zieht sich der alte Mann an seinem Stock hoch, ganz krumm steht er da, mit seinem Karohemd, seinen Hosenträgern und der Cordhose über dem Bauch. Er sagt: „Good stay, ja?“ Dann geht er ein paar Schritte, langsam, ganz langsam, der einfahrenden Ringbahn entgegen.