Sein Kampf

– Serdar Somuncu bearbeitet als zorniger Gegenpapst das System von innen – ein großer Künstler und brillanter Redner

Die allerersten waren die Ossis. Die ersten offiziellen Opfer des Hasspredigers, aus einer Laune heraus. Serdar Somuncu erzählt von dem Urlaubstag in Italien vor bald 20 Jahren, an dem er im Auto sitzend urplötzlich zu einer minutenlangen Tirade gegen die reisefreudigen Ostdeutschen ansetzt, die neuerdings den Westlern die Straßen verstopfen. Pointe à la Somuncu: „Meine Freundin hat sich fast vollgekotzt vor Lachen.“

Man darf das jetzt, bitte, nicht falsch verstehen. Plumpe Stammtisch-Hetze ist ja genau das, was der 44-Jährige nicht im Sinn hat, auch wenn ihm das mitunter vorgeworfen wird, von denen, die ihn nicht verstehen. Oder nicht verstehen wollen. Nein, hinter dem beißenden Spott gegen Minderheiten – Türken, Juden, Nazis, Schwule, Schwarze, Behinderte, egal – steckt bei Somuncu eine programmatische Provokation, die so viel mehr ist als die Laune eines gelangweilten Urlaubers.

Mit seinen kommentierten Lesungen von Hitlers „Mein Kampf“ wurde der gelernte Musiker und Theaterschauspieler ab Mitte der 90er Jahre einem breiteren Publikum bekannt, Zehntausende Kilometer Autobahn, unermüdliche Grassroots-Schufterei, insgesamt fast 1.500 Abende. Eigentlich ist es Somuncu selbst, der den großen Kampf führt.

Wogegen aber kämpft er?

„Es geht um Selbstbestimmung und Freiheit“, antwortet Somuncu mit feinem Lächeln. Er ist gerade mit dem Auto von Münster nach Berlin gefahren, er sollte erschöpft sein. Er sagt, hellwach: „Es geht um die Frage: Wie geht das moderne Individuum mit den Möglichkeiten um, sich selbst zu bestimmen? Oder leben wir doch noch in Diktaturen, obwohl wir denken, wir hätten alle Möglichkeiten, frei zu sein?“

Wer nur die Kunstfigur Somuncu kennt, den geifernden „Hassprediger“, der sich neuerdings gar als „Hassias“ zum diktatorischen Anführer seiner eigenen Pseudo-Religion aufgeschwungen hat, der mag von solch akademischen Ausführungen irritiert sein. Aber natürlich ist auch längst die Person hinter der Maske, der echte Somuncu, der breiten Öffentlichkeit bekannt. Seit Jahren taucht Somuncu, in Istanbul geboren, in Deutschland aufgewachsen, immer wieder in den deutschen Talkshows auf, bei Markus Lanz und Anne Will, meist zum Thema Integration. Dort besticht er mit rhetorischer Brillanz und scharfer Argumentation. Das Ziel aber ist das gleiche: Die Diktatur bekämpfen, egal wie man sie im Einzelfall nennen will, Bigotterie, politische Korrektheit oder Kapitalismus.

„Political correctness ist doch nichts anderes als versteckte Intoleranz“, so steht es im Begleittext des gerade erschienenen „Hasstaments“, der verschriftlichten Internet-Tiradenshow „Hatenight“. Indem er, als Künstler, Witze über Behinderte mache, sagt Somuncu, schließe er sie doch als erster überhaupt endlich ein in den Kreis der „Normalen“. Die ständigen Grenzüberschreitungen sind dabei keinesfalls sich selbst genug. „Es geht nicht darum, den Judenwitz zu machen, damit er stattfindet“, sagt Somuncu. „Es geht darum, den Judenwitz zu entmystifizieren davon, dass er nicht stattfinden darf.“

Somuncu entlarvt auch die Inkonsequenz des modernen Menschen, unser aller Inkonsequenz. Beschimpft die „saturierten Ökos, die den ganzen Tag Bionade saufen und nicht wissen, dass die längst von Dr. Oetker gekauft ist“. Fragt, warum alle bei Brüderle aufschreien, aber Dieter Bohlen in der DSDS-Jury alle sexistischen Zoten durchgehen lassen. Warum wir von Freiheit träumen und uns von Facebook auf Schritt und Tritt verfolgen lassen. Er selbst schließt sich ausdrücklich ein in diese Zerrissenheit. „Ich bin auch bei Facebook“, sagt Somuncu.

Er sprengt Konventionen, Genres und Erwartungen, mit Vorsatz, immer wieder. Alle drei, vier Jahre häutet er sich, er startet dann einen neuen Abschnitt, ein neues Programm, das gleichzeitig auf allem vorherigen aufbaut, auf der Entwicklung, die der Künstler zusammen mit seinem Publikum durchgemacht hat. Denn natürlich ist es kein Zufall, dass Somuncu nach „Mein Kampf“ und Goebbels‘ Sportpalast-Rede dann irgendwann die „Bild-Zeitung“ auf der Bühne seziert.

Auch gegen sich selbst setzt der Künstler immer wieder die Kreissäge an, die wir aus dem „Hatenight“-Logo kennen: „Ich muss mein Klischee immer wieder zerstören“, sagt er. Mit seiner Vergangenheit als Fernseh-Comedian im Quatsch Comedy Club und Co. hat er gebrochen. Nachdem er sich dem großen TV-Mechanismus unterworfen hatte, aus Neugier und natürlich auch wegen des Geldes, wurde er von der Maschine wieder ausgespuckt, weil er, ganz Somuncu, auch dort aus dem Rahmen fallen wollte.

Somuncu macht seitdem wieder das, was er am besten kann: Provokation durch Kunst, aber mit Unterbau. Denn ohne die zweite Ebene, den persönlichen Bildungsauftrag, wäre all das Geschimpfe und Tabugebreche ja sinnlos. „Ich will die Leute herausfordern, selbst zu denken an einem Theaterabend.“ Überforderung statt Unterforderung, Somuncus Ansatz basiert auch auf dem unerschütterlichen Glauben an die Neugier der Menschen. Schon dafür müsste man ihm einen Preis verleihen.

Mit fast 45 nun füllt Somuncu an zwei Abenden in Folge die Columbiahalle, ohne ein einziges Werbeplakat. Er ist in gewisser Weise angekommen, einerseits. Was er natürlich so nie unterschreiben würde. Er sagt, er sei Punk geblieben, obwohl er jetzt Pop ist. Darauf ist er stolz.

Andererseits fallen ihm mit zunehmender Karrieredauer die Häutungen immer schwerer. All die Rollen, die er gespielt hat, die Erwartungshaltung der Leute, die muss er immer wieder beiseite schieben, um sich treu zu bleiben. Somuncu hält kurz inne, dann sagt er: „Manchmal wünsche ich mir, wieder ein weißes Blatt sein zu können, ein Programm zu machen, bei dem es keine Rolle spielt, wer ich bin oder woher ich komme.“ Und dann lächelt Serdar Somuncu wieder sein feines Lächeln. Weil er weiß, dass das unmöglich ist. Selbst für einen wie ihn.

Luxus an der Pferdekoppel

– Nördlich des Mauerparks sollen 500 hochpreisige Wohnungen entstehen – Bürgervertreter fühlen sich von der Politik übergangen. Ein Besuch bei Empörten (erschienen im Tagesspiegel)

Es ist kurz vor sieben, als die Eskalation droht. „Es kann doch nicht alles an einer Wortmeldung scheitern? Was ist denn das für eine Art der Bürgerbeteiligung?“ Rainer Krüger, hochroter Kopf, ist außer sich, seine Stimme überschlägt sich fast. Rathaus Mitte, erster Stock, es tagt der städtebauliche Ausschuss des Bezirks. Dröge Sitzung. Doch bei TOP 5.3, „Mauerpark: Neuplanung Groth Gruppe“, laufen die Dinge aus dem Ruder. Die Nerven liegen blank.

Worum geht es? Scheinbar nur um eine Lappalie.

Der Vorsitzende sperrt sich gegen die Ausweitung der Redebeiträge. Nur zwei Bürgerinitiativen sind eingeplant, doch auch die „Freunde des Mauerparks“ möchten reden. „Wir sind seit über zehn Jahren aktiv“, ruft ihr Vertreter. Rainer Krüger von der „Bürgerwerkstatt“ solidarisiert sich. Es wird laut. Es wird gedroht. Der Ausschussvorsitzende sagt, er könne auch alle Beiträge verbieten lassen. Pfiffe. Buhrufe. Dann doch noch: die Lösung. Der Vertreter der „Piraten“, ein gemütlicher junger Mann mit überlegenem Lächeln und Sonnenbrille im Pullikragen, stellt seine Redezeit zur Verfügung. Aufatmen.

Worum also geht es?

Einfach gesagt: um die Bebauungspläne nördlich des Mauerparks. Auf dem Gelände, das drei Jahrzehnte Niemandsland zwischen DDR und West-Berlin war und seitdem mit den Baracken eines Schrotthändlers und eines Gerüstbauers auskommt, sollen ab Herbst 2014 über 500 Wohnungen entstehen.

„Luxuswohnungen“, präzisiert Rainer Krüger und schüttelt energisch den Kopf. „Nein“, sagt er, „diese Luxusvillenbebauung kann nicht die Lösung sein.“ Krüger, 73 Jahre alter Geografie-Professor im Ruhestand, feiner Schnurrbart, runde Brille, sitzt, nun ganz ruhig, am Esstisch seiner Wohnung am Falkplatz. Ein Neubau mit Traumaussicht. Schmeling-Halle, Fernsehturm, Zionskirche, Deutsche Welle. Nicht wenige würden auch das hier, nun ja, als Luxus bezeichnen. „Wir hatten sehr viel Glück, dass wir die bekommen haben“, sagt Krüger. Die Reichen haben in Deutschland immer das Gefühl, sich für ihren Wohlstand entschuldigen zu müssen, und ganz besonders die Reichen in Prenzlauer Berg. Das Haus war nicht mal fertig, da hatte unten einer schon einen Stein in die Fensterfront geworfen.

„Wenn ich hier hinziehe, möchte ich mich auch einbringen“, sagt Krüger, Sprecher der „Bürgerwerkstatt Mauerpark fertigstellen“. Er sagt: „Wenn die Gentrifizierungswelle einfach weiter in das Brunnenviertel schwappt, dann hat das mit sozialer Durchmischung nichts zu tun. Dann ist das eine Entmischung.“ Krüger spricht Gentrifizierung mit weichem G aus, wie im Englischen. „Die Menschen, die dort einziehen, die werden von ihrem Einkommen, von ihrem ganzen Lebensstil her, einen Dreck tun, sich irgendwie mit dem ärmeren Brunnenviertel zu verbrüdern. Ihr Blick wird nur in Richtung Prenzlauer Berg gehen.“

Das Brunnenviertel liegt, von Krüger aus gesehen, auf der anderen Seite des maroden, triefenden Gleimtunnels, in Wedding. Hier wohnen viele Migrantenfamilien. Hier verdienen die Leute generell weniger. Das Bauareal liegt auf Weddinger Grund. Hier beginnt sich der Bürgerprotest, zum Beispiel gegen die geplante neue Auffahrt an der Gleimstraße, gerade erst zu formieren.

Krüger engagiert sich schon seit 2010 gegen eine „massive Bebauung“ im Norden des Tunnels und für eine Erweiterung des Parks im Süden. Letztere ist wie erhofft beschlossen, Flohmarkt und „Mauersegler“ dürfen bleiben, Joe Hatchiban wird weiter sein Open-Air-Karaoke veranstalten können. Doch im Norden sieht die Lage aus Krügers Sicht weniger rosig aus. Die Poltik hat nun doch eine üppige Bebauung für rund 600 Wohneinheiten beschlossen. Der entsprechende Städtebauliche Vertrag wurde von der Senatsverwaltung eilig entworfen, von Mittes Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) noch vor der Sommerpause zur Vorlage gebracht und von der Groth-Gruppe im Dezember 2012 unterzeichnet.

„Eine Maulschelle vom Feinsten“, sagt Birgit Blank und dieser hübsche Berliner Ausdruck deutet darauf hin, worum es im Kern auch geht in dieser Angelegenheit: um das Verhältnis zwischen Bürger und Politiker. Von den Entscheidungsträgern in Mitte sei sie am meisten enttäuscht, sagt Blank.

Blank sitzt im großen Gemeinschaftsraum der Jugendfarm Moritzhof, für den sie sich seit 1993 engagiert. Seit 2000 steht der kleine Stadtbauernhof direkt an der Bezirksgrenze – zuhause sind hier unter anderem zwei Ponys, zwei Ziegen, drei Schafe und die Schweine Uschi und Peppi. An Sommertagen kommen an die 150 Kinder, sagt Blank. Und ab 2017 kommen die Reichen.

„Ich glaube nicht“, sagt Birgit Blank, „dass wir als Kollegen Lust haben, für reiche Eltern ein Projekt vorzuhalten, das sie kostenlos nutzen wollen, und die Kinder der Ärmeren können es dann in Marzahn überhaupt nicht mehr nutzen.“

Sie legt Bestimmtheit in ihre Stimme, doch es schwingt auch Unsicherheit mit. „Ich habe hier nicht 20 Jahre meines Lebens reingesteckt, um mich von Herrn Groth einfach wegschieben zu lassen.“ Die 45-Jährige wirkt erst einmal nicht so, als lasse sie sich leicht aus der Bahn werfen. Sie ist das Kämpfen gewohnt, hat Fördermittel erstritten, Spenden für den Grundstückskauf. Doch das hier ist offenbar eine neue Art der Bedrohung, sechs Stockwerke hoch. Blank schaut aus dem Fenster auf die Pferdekoppel. „Der Hahn kräht zu laut, das Pferd wiehert, der Geruch ist zu streng oder der Ziegenbock hat vor meinen Vorgarten geschissen – Nutzungskonflikte sind programmiert.“ Sie sieht sich schon von ihrem Grund und Boden geklagt, wie die Betreiber des „Knaack“-Clubs oder die anderen Gentrifizierungsopfer.

Nutzungskonflikte gab es auch früher schon. Der Kompostgeruch und die vielen Fliegen hatten Anwohner auf den Plan gerufen. Seitdem wird der Mist einmal wöchentlich mit einem Hänger abgefahren. Dennoch sagt Blank: „Wir haben hier eine große Akzeptanz.“ Und die sieht sie in Gefahr.

Als Puffer zwischen sich und den Neubauten hatte sie sich für ein „Grünes Band“ eingesetzt, es sollte ursprünglich von der Bernauer Straße bis zur Bösebrücke reichen, entlang des früheren Todesstreifens, doch das hat die Politik mittlerweile verworfen. Sie will jetzt wieder eine Bebauung nach Plan des dänischen Architekten Carsten Lorenzen. Neue Mehrheiten hatten sich plötzlich gebildet. Nun fehlt nur noch das abschließende Votum der Bezirksverordneten von Mitte. In der Ausschusssitzung erhalten die empörten Bürgervertreter keine Antworten. Die offenen Fragen würden im Laufe des Bebauungsplanverfahrens geklärt, teilt Baurat Spallek lapidar mit.

Birgit Blank führt zum Abschluss über ihren Hof. Uschi und Peppi grunzen wohlig im Stroh. „Herr Groth hat immer gesagt, er will uns besuchen“, sagt sie und streichelt eine der Ziegen. „Gekommen ist er nicht ein einziges Mal.“ Sie lacht bitter, als habe sie damit ohnehin nicht gerechnet.

„Die Zusage steht!“ Klaus Groth, 74 Jahre, dunkler Anzug, weißer Haarkranz, ist ein mächtiger Kerl mit energischer Stimme. Wenn man für ein Konversationslexikon einen Baulöwen zeichnen müsste, man könnte einfach Groth nehmen. Er spricht mit norddeutsch rollendem „r“ und lässt bei wichtigen Punkten seine Hand donnernd auf den Tisch fallen. Es ist eher eine Pranke. „Der Moritzhof ist für unser Quartier eine Bereicherung, das sage ich mit aller Überzeugung.“ Groth sitzt in seinem Konferenzraum, Blick auf den Kurfürstendamm, beste Lage. Vor ihm auf den Tisch die Bebauungspläne. „Die Bürgerwerkstatt will den Lorenzen-Entwurf nicht, das hat sie mehrfach erklärt. Aber er wurde vom Parlament beschlossen. Man schlägt uns, aber man muss die anderen schlagen.“ Er habe keine andere Möglichkeit, sagt Groth, als die Rahmenbedingungen der Politik zu erfüllen.

Groth sieht die Dinge gelassen. Er hat in Berlin schon zahlreiche Großprojekte bauen lassen, unter anderem die CDU-Zentrale am Tiergarten. Er weiß, dass die Politik auch diesmal in seinem Sinne entschieden hat. Ein Zurück ist schwer vorstellbar. Die Parkerweiterung im Süden hat im Dezember bereits offiziell begonnen, sie ist wiederum gekoppelt an den Städtebaulichen Vertrag. Und in dem steht seit Dezember Groths Name.

Groth ist den empörten Bürgern entgegen gekommen – ein bisschen. Er hat ein paar Baublöcke herausgenommen und gegenüber des Moritzhofs einen leicht erweiterten Eingangsplatz geschaffen. Ansonsten zieht sich der Löwe auf die geschützte Position des Ungefähren zurück. „Was heißt ‚ökologisch ausgerichtet‘?“, fragt er. Und auch ’soziale Durchmischung‘ habe ihm bisher keiner definieren können, „nicht mal der Senat oder der Bezirk“. Und Luxus? „Wenn man 3.500 Euro Verkaufspreis (pro Quadratmeter) in der Lage als Luxus bezeichnet, dann weiß ich nicht, was Luxus wirklich ist!“

Ganz genau weiß Groth dagegen, dass all diese hübschen Vereinbarungen in den Verträgen nur sehr allgemein formuliert sind. Konkretes Interesse einer Genossenschaft besteht derzeit nicht, bestätigt er. Und so werden die 300 geplanten Mieteinheiten entlang der Ringbahngleise im Norden mindestens 9,50 Euro nettokalt kosten. Groth sagt: „Es geht zum einen um die Berücksichtigung der Nachbarschaft, aber es geht vorrangig um die Leute, die in diesem Quartier wohnen werden und ihre Bedürfnisse.“

Klaus Groth streicht sich den Schlips gerade und lehnt sich zufrieden zurück. „Ich glaube“, sagt er, „wir haben eine ganze Menge machen können, um die nachbarschaftlichen Beziehungen zu begründen.“

Rache oder Blut

– Ägyptens Ultras und die Revolution (erschienen im 11FREUNDE-Sonderheft ‚Rebellen‘, März 2013)

Der Abend des 1. Februar 2012 muss schön gewesen sein, im malerischen Küstenort Port Said. Ende eines milden Spätwintertags an der Mittelmeerküste, 200 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Kairo. Langsam versinkt die Sonne. Dann wird es schwarz über Äygpten.

Das Meer ist keine 300 Meter entfernt vom Stadion, nur einmal quer über die vierspurige Hauptstraße und durch die geschwungene Anlage eines Urlaubsressorts, dann sieht man schon die Wellen, die geduldig an den Sandstrand schwappen. Um die Stunde, als in den Urlauberhotels für gewöhnlich das Abendessen aufgetragen wird, sterben in der Arena des Al-Masry Sporting Club die ersten Menschen.

Sie sind im Zug und in Bussen aus Kairo angereist, um ein Fußballspiel zu sehen. Sie sind Fans von Al-Ahly, dem größten, beliebtesten, erfolgreichsten Klub des Landes. Nun werden sie zertrampelt, von Ihresgleichen, zerquetscht an den von außen verschlossenen Eisentoren, erschlagen werden sie und erstochen. Über tausend Menschen werden verletzt. 74 kehren reglos nach Kairo zurück, spätnachts, verschnürt in weißen Säcken. Der jüngste von ihnen: Gerade 15 Jahre alt. Zurück bleibt ein Meer aus Schuhen, verstreut in den Gängen des Stadions. Männerschuhe, schwarz, braun, in hellen Farben auch. Die Schuhe der Toten.

Der 1. Februar 2012 hat schnell einen festen Platz unter den schlimmsten Stadionkatastrophen eingenommen, doch das führt in die Irre. Es ging nicht um Fußball an diesem Abend, nicht um die alte Rivalität zwischen Al-Masry und Al-Ahly, zwischen den Grünen und den Roten. Jedenfalls nicht in erster Linie. Es ging, das war den meisten sofort klar, um viel mehr. Es ging und geht auch um die Macht am Nil.

„Was sich in Port Said abgespielt hat, war politisch“, sagt James Dorsey. „Fußball in Ägypten ist per definitionem politisch. Eine Polizeimacht, die nicht an Sicherheit interessiert ist, ist per definitionem politisch.“ Dorsey ist Universitätsprofessor in Singapur und publiziert einen viel beachteten Blog über die „turbulente Welt des Nahost-Fußballs“. Auch er weiß nicht die Antwort auf die Frage, wer verantwortlich ist für den blutigen Februartag. „Die kennt wohl keiner“, sagt er. Seine Deutung: „Es ist wohl ein völlig außer Kontrolle geratener Versuch gewesen, die Ultras einen Kopf kleiner zu machen. Es wurde ein Bumerang.“

Die flackernden Fernsehaufnahmen der Katastrophe zeigen deutlich, wie passiv sich die wenigen Sicherheitskräfte verhalten, die sich im Stadioninneren befinden. Vor der Al-Masry-Kurve eine dünne Polizeikette, doch in ihr klafft ein Loch, durch das Hunderte Gewaltbereiter, Bewaffneter ungehindert strömen. Dunkler Schwarm der Jäger. Die Profis von Al-Ahly, rote Trikots, schwarze Hosen, hetzen wie getriebenes Vieh um das Torgestänge, flüchten sich in Todesangst in den Kabinengang. Hier wird Kapitän Mohammed Aboutreika später einen sterbenden Fan in den Armen halten und fragen: „Ist ein Menschenleben so wenig wert?“

Für die „Ultras Ahlawy“, wie sich der harte Kern der Ahly-Fans nennt, ist die Antwort klar. „Diese Leute sind furchtlos“, sagt Dorsey. „Wenn es sie ihr Leben kostet, dann kostet es sie eben ihr Leben. Es macht ihnen nichts aus, und die Polizei respektiert sie dafür.“ So geht die krude ägyptische Logik, vor und nach dem Sturz Hosni Mubaraks.

„Sie wollten uns bestrafen und exekutieren für unsere Beteiligung an der Revolution gegen die Unterdrückung.“ So formulieren es die „Ultras Ahlawy“ kurz nach der Tragödie in einem Statement. Sie geloben einen „neuen Krieg, um unsere Revolution zu verteidigen.“

Um das zu verstehen, was in Port Said geschehen ist, muss man zurück gehen, und zwar genau ein Jahr. Am 1. Februar 2011 schaut die Welt nach Kairo. CNN, BBC, Al-Jazeera berichten schon den ganzen Tag live vom Tahrirplatz im Herzen der Hauptstadt, auf dem sich seit Tagen Tausende Ägypter versammelt und verschanzt haben, mit dem Ziel, das Regime des Hosni Mubarak zu stürzen. Der wirft einen seiner letzten Trümpfe in den Ring: die Kavallerie. Männer auf Pferden und Kamelen sprengen in die Menschenmenge und knüppeln wie wild auf die Demonstranten ein. Die Menschen weichen zurück, panisch fliehen sie vor den trampelnden Hufen und den tanzenden Knüppeln. Unwirkliche, archaische Gewalt. Nach einigen Schrecksekunden aber geht das Fußvolk zum Gegenangriff über, einige der Reiter werden herunter aufs Pflaster gerissen und ihrerseits schwer verprügelt. Die „Kamelschlacht“, wie sie bald heißt, ein Schlüsselakt der Revolution. An vorderster Front mit dabei: Die Ultras von Al-Ahly, gestählt in jahrelangem Stadion- und Straßenkampf mit der Polizei. „Schwingende Knüppel und Tränengas sind für uns nichts Neues“, sagte ihr Sprecher hernach 11FREUNDE. „Es war ganz selbstverständlich, dass wir ganz vorne mit dabei waren, als die Menschen auf der Straße kämpften.“

Neben dem Nachwuchs der Muslimbrüderschaft sind die Ultras Ahlawy und ihre einstigen Rivalen von Zamalek die wichtigsten Gruppen beim Sturz Mubaraks. „Es gibt nur eins, was größer war als der Hass zwischen Al-Ahly und Zamalek“, sagt der Experte James Dorsey: „Der Hass auf das Regime.“ In den ersten Tagen erobern diese jungen Männer Tahrir, preschen vor, werfen Steine und retournieren Tränengas-Patronen, springen wieder zurück, dann wieder vor. Zermürbende Choreografie, immer wieder, bis die Bresche da ist. Vorbereitet sind sie ohnehin bestens, sie haben Zwillen, genügend Steine. Und Sodawasser zum Augenauswaschen. Verwundete transportieren sie auf Motorrädern ab. „Die Ultras haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Barriere der Angst zu durchbrechen“, sagt Dorsey. „Sie waren die Verteidigungslinie der Bewegung.“

Zwei Jahre später weht ihre Flagge noch immer auf dem Tahrirplatz, ebenso wie die von Zamalek. Ihr Kampf ist lange nicht vorbei.

Die „Ultras Ahlawy“ sind eine mächtige Organisation, und sie sind gut vernetzt. Ihre Facebook-Seite, „UA07“, Initialen plus Gründungsjahr, wird regelmäßig mit Nachrichten gefüttert, sie hat über 700.000 Likes. Das Profilbild im Januar 2013: eine schwarze Fläche. Darüber eine Faust mit brennender Fackel, die arabischen Worte „Al-qusas au al-dam“, das heißt: Rache oder Blut. Auf Englisch darunter, etwas weniger martialisch: „Justice or Revenge“. Der 26. Januar ist das Datum, auf das sie hinfiebern, dann werden die ersten Urteile erwartet gegen die Jäger von Port Said. Wie hart werden sie bestraft? Drei Tage vorher erklärt Staatspräsident Mohammed Mursi die toten Ahly-Fans zu „Märtyrern der Revolution“ und erfüllt damit eine der Forderungen der Ultras.

„Wir wollen keine Märtyrer sein“, hatten sie noch unmittelbar nach dem Sturz Mubaraks gesagt. Mit Port Said aber ändert sich alles. Schon in der Nacht nach der Katastrophe haben sie sich Rache geschworen, als die Überlebenden im fahlen Licht des Ramses-Bahnhofs von Zehntausenden empfangen wurden, die sich auf die Bahnsteige und auf Zugdächer quetschten. Nun singen die Ultras bei ihren Märschen durch die Straßen von Kairo: „Ich höre die Rufe der Märtyrermütter: ‚Wer gibt mir die Rechte meines Sohns?’“

Es geht den Ultras auch um Reformen, vor allem des Sicherheitsapparats. Es waren die Polizisten, die in Mubaraks System den einfachen Leuten in den Armenvierteln Kairos das Leben zur Hölle machen konnten. Sie waren das Gesicht, die Exekutive des Gewaltherrschers, und sie sind immer noch da in den Augen der Ultras, die die Zerschlagung der alten Machteliten fordern. Nicht nur vor Gericht, auch auf der Straße. Ende September 2012 stürmen sie die Redaktionsräume des TV-Senders „Modern Sport“ in der Kairoer Medienstadt. Ende November liefern sie sich blutige Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften, auf der prestigeträchtigen Mohammed-Mahmoud-Straße nahe von Tahrir. Muslimbruder Mursi ist ihr neues Ziel. Neues Gewand, altes Herrschaftsdenken? „Nieder mit Mohammed Mursi Mubarak“, rufen die Demonstranten. Die Ultras kämpfen sogar gegen den eigenen Verein, der als größter Klub Ägyptens ganz selbstverständlich verbandelt ist mit den alten Strukturen. Sie erreichen, dass Klubpräsident Hassan Hamdys Reisepass eingezogen, sein Konto eingefroren wird. In typischer altägyptischer Ämterteilung war er auch Chef der Werbeabteilung der staatlichen Zeitung „Al Ahram“. Sie erreichen, dass kein Fußball gespielt wird, solange der Prozess über die Verantwortlichen nicht zu Ende gebracht ist.

Nur ein Spiel wird ausgetragen auf nationalem Level seit Port Said, am 9. September schlägt Al-Ahly das Team von ENPPI 2:1 im Supercup. Kapitän und Rekordspieler Mohammed Aboutreika ist der einzige Profi, der sich dem Boykott der Ultras anschließt. Aboutreika, in dessen Armen ein Ahly-Fan in Port Said gestorben sein soll, ist eine Ausnahme unter den Spielern, die Mehrheit positioniert sich nicht. „Die Ultras haben sich immer als einzige loyale Anhänger des Klubs verstanden“, sagt Dorsey. „Die Spieler waren Söldner. Die Funktionäre waren Regierungslakaien.“

Die Ultras Ahlawy erheben einen großen Anspruch bei der Ausdeutung der Revolutionsziele. Analog zu dem riesigen Banner vom Kairoer Derby, kurz nach ihrer Gründung im September 2007: „We are Egypt“, stand darauf. Sie sind ein Faktor, nach wie vor, auch und gerade auf der Straße. „Can’t stop Ultras“, erklären sie ihren Plakaten.

Und dann kommt der 26. Januar. Es wird ein weiterer blutiger Tag im nach-revolutionären Ägypten. 21 Todesurteile spricht das Gericht im Fall Port Said aus – das Fernsehen transportiert die Bilder live ins ganze Land. In Port Said und weiteren Städten brechen schwere Unruhen aus, es gibt Hunderte Verletzte, mindestens 30 Tote. Mursi verhängt den Ausnahmezustand. Die Ahly-Ultras feiern derweil mit Feuerwerk und Gesängen. Rache oder Blut. „Heute hat die Gerechtigkeit begonnen, aber sie ist noch nicht vollständig“, schreiben sie auf ihrer Seite. „Ruhm allen Märtyrern!“

»Sind Sie ein Held, Monsieur Mekhloufi?«

– Rachid Mekhloufi war ein Star in Frankreichs Fußball, doch er entschied sich, alles aufzugeben und für die Freiheit seiner Heimat Algerien zu kämpfen – mit dem Fußball. Vier Jahre tourte er mit der Auswahl der algerischen Befreiungsfront FLN durch die Welt, spielte in Osteuropa, China, und Nord-Vietnam. (erschienen im 11FREUNDE-Sonderheft ‚Rebellen‘, März 2013)

Monsieur Mekhloufi, lassen Sie uns eine Zeitreise machen.

Gerne.

Es ist Frühjahr 1958. Sie spielen in der französischen Liga bei AS Saint-Étienne, sind in den vorläufigen Kader Frankreichs für die WM in Schweden berufen. Gleichzeitig tobt in Ihrer Heimat Algerien ein Krieg gegen die französische Kolonialmacht.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich nach Frankreich nur als Fußballspieler gegangen bin, wie auch die anderen Algerier. Das erlaubte uns, der Anonymität zu entfliehen und dem Elend. Denn alle Algerier lebten im Elend. Dann wurde ich in die französische Nationalelf berufen, was ich natürlich nicht ablehnen konnte.

Fühlten Sie sich als Algerier, als Franzose oder beides?

Hören Sie, ich habe mich niemals als Franzose gefühlt, das Gleiche gilt für meine gesamte Generation. Ich bin aus einem Ort, der zum Märtyrerort wurde, er heißt Sétif, dort brachte die französische Armee 1945, am Tag des Waffenstillstands, 45.000 Menschen um. An diesem Tag verschrieb ich mich der Revolution.

13 Jahre später gaben Sie ihr gutes Leben als Fußballstar in Frankreich auf. Wie kam es dazu?

Zwei Männer aus meiner Heimatstadt kamen am Vorabend eines Spiels auf mich zu und sagten: »Morgen fahren wir zusammen nach Tunis.“ Ich sagte: „Alles klar, lasst uns gehen.«

Einfach so?

Einfach so. Das Einzige, was ich ihnen sagte, war, dass ich in der französischen Armee war und als Deserteur viel riskierte. Aber es war ein endgültiger Abschied. Es gab keinen Weg zurück, außer nach der Unabhängigkeit.

Sie zögerten überhaupt nicht?

Keine Sekunde! Für mich gab es gar keinen Zweifel, und ich denke für meine Kameraden auch nicht. Es war eine Entscheidung, die man schnell treffen muss – oder gar nicht. Als Fußballer aber fuhren wir ins Ungewisse, wir wussten nicht, ob wir überhaupt jemals wieder würden spielen können. Das war unsere einzige Sorge.

Die Vorbereitungen waren gänzlich im Geheimen abgelaufen?

Ja, der beste Beweis war, dass selbst der FLN in Tunis nicht wusste, dass wir kommen würden. Alles musste genau durchgeplant werden, da alle algerischen Fußballspieler von der französischen Regierung beobachtet wurden. Wenn irgendwelche Informationen durchgedrungen wären, hätten wir in der Falle gesessen.

Wie verlief Ihre Flucht und die der neun anderen Fußballer?

Es gab zwei Gruppen. Die eine fuhr von der Côte d’Azure mit dem Auto nach Italien. Unsere Gruppe floh über die Schweiz. In Genf trafen wir uns mit dem dortigen FLN-Korrespondenten, er nahm uns im Wagen mit nach Italien, von Rom nahmen wir ein Flugzeug nach Tunis.

Hatten Sie während Ihrer Flucht Angst?

Nein, nein. Wissen Sie, der FLN war überall in Europa. Sie hatten überall ihre Organisatoren. Als wir unseren Korrespondenten in Rom gefunden hatten, hielt er schon tunesische Pässe für uns bereit. Die Organisation war gut.

Sie gaben Ihre Karriere auf – und auch die Teilnahme an der WM, die wenige Wochen später in Schweden begann. Haben Sie das bedauert?

Gar nicht. Als ich in Tunis ankam, hatte ich die WM schon vergessen. Das mag Ihnen komisch vorkommen, ich war erst 22, aber, wie gesagt, das Massaker von Sétif hat mich sehr geprägt. Ich habe damals mit neun Jahren viele Dinge gesehen… Schrecklich! Ich habe wohl da schon verstanden, dass ich niemals ein Franzose sein kann.

Gab es nach Ihrer Flucht noch Kontakt mit Ihren früheren Kollegen in der französischen Auswahl?

Ja, den gab es, aber wissen Sie, ab der Minute, in der ich ging, schaute ich nicht mehr zurück. Ich verfolgte die Spiele der Franzosen nicht mehr, ich schaute mir nicht mal die WM in Schweden an. Alles was ich sagen kann, ist, dass ich mit Just Fontaine um einen Platz im Sturm konkurrierte, dem Mann, der bis heute die meisten Tore bei einer WM erzielt hat. Aber ich bereue nichts. Ich habe Stellung bezogen, und damit hat es sich.

Einige andere entschieden sich, in Frankreich zu bleiben.

Ja, einige blieben. Einige algerische Spieler wollten nicht gehen, weil sie noch ihr Studium beenden mussten.

Haben Sie Verständnis dafür?

Ja. Keiner wurde gezwungen, zu gehen. Einige entschieden sich zu bleiben.

Sie aber gingen. Fühlen Sie sich als Held, Monsieur Mekhloufi?

(lacht) Nein, nein. Die Helden liegen unter der Erde. Wir haben doch nur Fußball gespielt. Wir haben immer noch unseren Beruf ausgeübt. Wir waren privilegiert.

Sie repräsentierten die Befreiungsfront auf dem Fußballfeld.

Der FLN hat dieses Team natürlich nicht aus Liebe zum Fußball gegründet. Es ging darum, auf den Krieg in Algerien aufmerksam zu machen. Wissen Sie, zu dieser Zeit wussten selbst die Menschen in Frankreich gar nichts über den Krieg, weil die Regierung alles zensierte.

Gegen wen traten Sie als erstes an?

In Tunis veranstalteten wir das erste nordafrikanische Fußballturnier der Geschichte. Im April 1958 spielten wir gegen Libyen, Tunesien und Marokko. Wir haben gewonnen.

Wie organisierten Sie die Spiele? Die FIFA lehnte Ihre Elf ab.

Stimmt, aber die FIFA hatte nur im Westen Macht. Wir spielten im Nahen Osten, in Asien und Osteuropa, in den Ländern des Kommunismus.

Stimmt es, dass Sie mit Ho Chi Minh gefrühstückt haben?

Oh ja! Der vietnamesische Anführer lud uns zu sechs Uhr morgens ein. (lacht) Und er hatte nicht mal richtige Schuhe an. Er trug alte Reifen an den Füßen, die mit Schnüren zusammengehalten wurden! Es war ein großartiger Empfang von wunderschöner Einfachheit. Er sprach exzellentes Französisch und wir redeten über General Diap, der die französische Armee in Dien Bien Phu besiegt hatte. Er sagte uns: »Ihr habt uns im Fußball besiegt, wir haben die Franzosen im Krieg besiegt, und auch ihr werdet sie im Krieg besiegen.«

Ihre Waffe war der Ball.

Ja, wir haben in der ganzen Welt auf die algerische Sache aufmerksam gemacht. Und wir gaben nicht klein bei. In Polen wollten sie die algerische Flagge nicht hissen. Also weigerten wir uns zu spielen. Das war unsere Mindestvoraussetzung. Außerdem waren wir sehr gute Spieler, und unsere Spiele waren außergewöhnlich.

War es wichtig, die Spiele zu gewinnen und guten Fußball zu zeigen?

Unsere Mannschaft war ihrer Zeit voraus, technisch waren wir so gut wie heute Barcelona. Die Palästinenser haben das gleiche versucht wie wir, aber weil sie kein gutes Team hatten und die meisten Spiele verloren haben, hörten sie wieder auf. So etwas funktioniert nur, wenn man die richtigen Ergebnisse und die richtigen Spieler hat.

Wovon haben Sie gelebt?

Die algerischen Behörden gaben uns Wohnungen in einem Neubaugebiet nahe Tunis. Wir verdienten 50 Dinar im Monat. Ich weiß nicht, was das heute in Euro wäre, aber es war mehr eine Geste als alles andere.

Es war nichts im Vergleich zu Ihrem Gehalt in Frankreich.

Ja. Aber dass sie uns überhaupt etwas gaben, war eine nette Geste.

Was haben Sie in dieser Zeit gelernt?

In den vier Jahren mit dem FLN wurde ich ein verantwortungsvoller Mann. Ich entwickelte mich persönlich, lernte viel dazu, nicht nur über Politik und Gesellschaft, auch über das Leben an sich. Ich lernte zu sprechen, wie ich heute spreche. Vorher war ich ein naiver junger Mann gewesen, der Fußball spielte. Fußballer hatten damals in Frankreich nichts zu sagen, man machte sich über sie lustig. Aber ich entwickelte mich auch auf dem Platz.

Inwiefern?

Ich veränderte meine gesamte Spielweise. Vorher war ich immer nur direkt aufs Tor gegangen. Indem ich in diesem exzellenten Team spielte, nur dadurch, dass ich meine Mitspieler beobachtete, wurde ich ein Stürmer-Organisator.

Sie lernten, den Ball mit den anderen zu teilen?

Ja, ich verteilte den Ball. Ich lernte, den Ball für andere Torschützen aufzulegen.

Wie erging es Ihrer Familie unterdessen, hatten Sie Kontakt zu Ihren Verwandten?

Dass meine Mutter gestorben war, hörte ich erst ein Jahr später. So etwas ist furchtbar. Sie hatte Diabetes, und ich fühlte mich mitschuldig, weil emotionale Schocks gefährlich sind für Menschen, die an dieser Krankheit leiden. Vielleicht, als sie hörte, dass ich aus Frankreich geflohen bin… (schweigt)

Was hörten Sie sonst aus der Heimat?

Einmal, ich glaube es war in Rumänien, kam ein Mann auf uns zu gerannt und rief: »Ihr seid unabhängig!“ Aber er hatte es falsch verstanden. Er meinte den Putsch der Generäle im Jahr 1961. Der arme Mann hat sich was anhören müssen von uns…

Wo erfuhren Sie von der echten Unabhängigkeit?

In Tunis. Wir hörten es von Politikern, Ben Bella, der künftige algerische Präsident, befand sich gerade in der Stadt. Einige ältere FLN-Spieler kehrten nach Algerien zurück, ich war erst 25 und ging nach Genf, um meine Rückkehr nach Frankreich vorzubereiten.

Sie gingen zurück nach Saint-Étienne. Wie wurden Sie, der Deserteur, aufgenommen?

Der Klubpräsident war mutig genug, mich zurückzuholen. Ich war besorgt, ich dachte, die Leute würden ihrem Ärger Ausdruck verleihen, doch als ich zum ersten Spiel ins Stadion einlief: Eisige Stille. Stellen Sie sich vor: 20.000 Menschen, und es herrschte Todesstille. Ich dachte: »Oh, Rachid, heute wirst du bezahlen.« (lacht)

Wie lief Ihr Comeback?

Das Spiel begann, und ich hatte den Ball. Ich machte irgendetwas, das ich noch heute nicht glauben kann, ich weiß nicht, was genau, jedenfalls passte ich den Ball genau zu einem Mitspieler und er traf. Die Leute jubelten und schrien »Rachid ist zurück!« Das Bild des alten Fellagha (Bezeichnung für algerische Freiheitskämpfer, d. Red.) löste sich mit einem Mal in Luft auf. Zurück blieb nur der Fußballer. Und dann begannen die wunderschönen Tage mit Saint-Étienne.

Und Sie, hatte sich Ihre Wahrnehmung der Franzosen durch die Kriegsjahre geändert?

Wir hatten ja nur das Bild der Franzosen in Algerien, nur gegen die waren wir. Sie waren böse, Rassisten. Sie schickten uns auf schlechtere Schulen. Nur dadurch, dass wir nach Frankreich gingen, konnten wir der Segregation entfliehen. Heute mag es in Frankreich rechte Parteien geben, die Rassisten sind und Araber nicht ausstehen können. Aber als ich 1954 nach Frankreich kam, waren die Franzosen dort immer nur sehr nett zu mir.

Was hat Sie all die Jahre im Exil angetrieben?

Alles, was wir brauchten, waren Spiele und Turniere. So blieben wir im Gleichgewicht. Manchmal hatten wir keine Perspektive, dann war es schwieriger. Aber wir spielten 84 Spiele. Und wir trafen auf Menschen und Völker, die nicht wussten, wo Algerien lag und was dort passierte. Wir machten Politik, besuchten Fabriken und diskutierten mit den Arbeitern. Es ging um viel mehr als Fußball, aber der Fußball half uns, weil wir ein großartiges Team hatten und die Leute sich für uns interessierten. Durch uns haben viele von Algerien gehört.

Heute leben Sie in Tunis, wie damals während Ihrer FLN-Zeit.

Nun, ich habe eine Tunesierin geheiratet. Ich hatte ja vier Jahre Zeit, mir eine auszusuchen… Heute lebe ich zwischen Tunis, Algier und Paris, wo mein Sohn lebt. In Algier besuche ich Freunde und arbeite mit dem FLN, die versucht, Fußballschulen aufzubauen. Und hier in Tunis lebe ich direkt am Meer, in einem Haus, das aussieht wie ein Boot. Können Sie sich das vorstellen?

I got the love!

– Der bemerkenswerte Soulsänger Charles Bradley gibt ein bemerkenswertes Konzert

Die Meute wird langsam ungeduldig. An die 200 Menschen quetschen sich in den engen Kellerraum, hier im „Fluxbau“ am Spreeufer nahe der Oberbaumbrücke. Draußen gluckert dunkel der Fluss, und Charles Bradley lässt auf sich warten. Nervöses Klatschen. Pfiffe. Ungeduld. Das Publikum: Jung, vielleicht Mitte, Ende zwanzig. Große Brillen, enge Hosen, knallroter Lippenstift bei den Frauen. Ein paar Afros. Und Mützen. Viele Mützen. Und Ungeduld. Es soll doch bitteschön pünktlich losgehen, selbst wenn der Eintritt frei ist.

Für einen Platz auf der Gästeliste musste man nur dem Radiosender FluxFM eine Email geschrieben haben. „Ja, ich will dabei sein, wenn Charles Bradley sein neues Album vorstellt“ oder so ähnlich. Die Antwort kam postwendend. Die, die nun dabei sind, sind sicher auch neugierig geworden auf Bradleys Geschichte, die keine gewöhnliche ist. 64 Jahre ist er schon alt, aber erst seit zehn Jahren Profi-Musiker. Vorher war er einige Jahre James-Brown-Double, Künstlername „Black Velvet“, davor Koch, davor Obdachloser. Jahrzehntelang war der Soulsänger Charles Bradly einer von vielen armen, schwarzen Amerikanern.

Bradley kommt nun auf die Bühne, grauer Rolli, Silberkettchen, funkelnder Ring. Die Menge johlt. „The Screaming Eagle of Soul“ nennen sie ihn, und der Adler schreit, kreischt gleich los mit einer Stimme, die einen packt wie mit Klauen. Mächtig, rauchig. B.B. King auf zwei Packungen Filterlosen.

Nach dem ersten Song die freundliche Bitte, doch das Echo vom Mikro zu nehmen. Völlig logisch: Dieser Mann braucht keine technische Hilfe. In jeden Ton legt er sein Leben. „I believe in your love“, singt er, mit halb geschlossenen Augen und schmerzvoll verzerrtem Gesicht. „I got the love“, singt er, „strictly reserved for you and me.“ Simple, scheinbar naive Botschaften, vorgetragen mit unbändiger Energie, jede Note ein Bekenntnis.

Dass dieser Abend überhaupt möglich ist, scheint Bradley ehrlich zu erstaunen, immer noch und immer wieder. Er will sich rechtfertigen: „Wisst ihr, ich spiele euch hier nichts vor“, sagt er zwischen zwei Songs. „Manche tun das. Aber ich habe es alles selbst erlebt.“ Die Monate auf der Straße, die zu Jahren werden. Den Tod seines Bruders, erschossen vom eigenen Neffen. Die Zeit des Zweifelns, des Versteckens. Erst jetzt, im Alter, lebt er sie aus, seine Liebe zur Musik, sein Gesangstalent, das er jahrzehntelang verheimlicht hat vor allen Fremden. Und 50 Jahre, nachdem ihn seine Schwester zu seinem ersten Konzert mitgenommen hat, James Brown natürlich, steht er vor diesen ganzen jungen Berlinern mit ihren Schlumpfmützen und sagt: „Ich bin euch unglaublich dankbar. Dafür dass ich hier sein darf. Ich danke euch dafür, dass ihr mit mir durch den Sturm gegangen seid!“

Einer hat ein Fenster geöffnet. Der Geruch des Flusses steigt in den Raum. „Ich fühle mich wie Otis Redding“, sagt Charles Bradley, „wie er da unten am Dock saß.“

Bradley singt seine neuen Soul-Balladen, sechs, sieben Stück, er schleudert sie in den Raum, begleitet nur von einer Akustik-Gitarre und zarter Perkussion. Längst schon ist das kein Gig mehr, es ist eine Messe.

„Why is it so hard to make it in America?“ In einem der eindrücklichsten Songs stellt Bradley die Frage seines Lebens: Warum nur ist es so schwer, es in Amerika zu etwas zu bringen? „In Germany too!“, ruft einer aus der Menge, aber das klingt sofort falsch, fast wie eine Frechheit. Ist das Leben hier schwer, für junge, weiße Mittelklasse-Deutsche? Schwerer als drüben?

Bradley aber reagiert sanft: „Ja, du hast recht, Bruder“, sagt er, „die Leute haben es heute überall auf der Welt schwer. Weil es so schwer ist, auf die Seele zu hören.“ Die Menge raunt zustimmend. Und dann singt Charles Bradley davon, wie einfach es eigentlich sein sollte, es in dem Land zu schaffen, aus dem er stammt. Und singt die Zeile, die er selbst widerlegt hat: „Looks like nothing’s gonna change.“

Das Erstaunlichste aber kommt nach den Songs. Die letzten Akkorde sind kaum verklungen, da steigt Bradley hinunter zu seinem Publikum. Er beginnt, die Leute zu umarmen. Er will, so scheint es, wirklich jedem persönlich danken. Fängt vorne an, arbeitet sich nach hinten durch. Dutzende Umarmungen, jede einzelne fest und lange. Und die Menschen stehen schier Schlange, lächeln ihn mit großen Augen an, strecken ihre Arme aus, hier, mich auch! Sie reißen sich darum, diesen Mann zu drücken. Als hofften sie, dass etwas von seiner Zuversicht, seiner weisen Ruhe auf sie abperlt. Smartphones erleuchten den Raum. Bradley ist fast ganz hinten angelangt. Ein besonderer Moment, nicht nur für ihn, man spürt das. Die große Sehnsucht der Twentysomethings nach ein bisschen Nähe. Woher kommt die, wieso bricht sie jetzt so unvermittelt hervor? Die Seele kann man nicht liken, vielleicht ist es das.

Der Ring, der uns verbindet

Auf dem Weg über die Swinemünder Brücke kommen, langsamen Schrittes, die Zweifel. Eine Geschichte über die Ringbahn? Ehrlich? Im Kreis fahren, von A nach A also, ganz gemütlich, wenn jeder von A nach B hetzt? Nicht ankommen wollen, wo jeder doch gerade ankommen will? Eine Strecke so fahren, wie es sie eigentlich gar nicht gibt, weil sie niemand so erlebt: Den Ring einmal komplett – wer macht das schon, außer betrunkenen Kids in der Nacht zu Sonntag? Jetzt ist Berufsverkehr. Einsteigen, losfahren, aus dem Fenster schauen, zwischendurch immer mal wieder aussteigen.

Ein unzeitgemäßes, vielleicht absurdes Vorhaben. Einmal herum, eine Stunde, 37 Kilometer, 27 Bahnhöfe, sieben Bezirke. Eine Runde Berlin, gegen den Uhrzeigersinn.

Gleich zu Beginn wird es hässlich. Eingequetscht zwischen zwei Einkaufszentren bietet der Bahnhof Gesundbrunnen wenig mehr als Stein gewordene Zweckmäßigkeit. Ein Eingangsgebäude soll demnächst endlich hinzukommen, das Baugerüst steht schon, zuvor hatte sich nur ein mickriger roter Service-Bungalow auf dem Vorplatz verloren. Aber egal, auf, hinein!

„S 42 Richtung Ring, zurückbleiben bitte!“ Türen schließen. Destination: Wedding. Hier oben, zwischen Westhafen und Schönhauser Allee fand 2002 wieder zusammen, was die Mauer einst getrennt hatte. Zum „Ringschluss am Wedding-Day“ rückte die gesamte Berliner Prominenz an. Strahlender Klaus Wowereit. Ewig her. Längst gähnt wieder der Alltag im alten Arbeiterbezirk. Missmutige Gesichter beim Ein- und Aussteigen. Der Blick die Müllerstraße hinunter zeigt drei ewig rote Buchstaben. S. P. D. Kurt-Schumacher-Haus. Ein steinernes Relikt. Die Partei, die hier einst 70 Prozent und mehr einfuhr, haben bei der letzten Abgeordnetenhauswahl, Stimmbezirk 431, von 1 081 Wahlberechtigten noch ganze 91 gewählt.

Keine Zeit für Politik. Nach Ring, zurückbleiben bitte. Mütze aus, Schal lockern, warm werden. Einen ganz eigenen Geruch hat sie, diese S-Bahn, metallen, ein bisschen säuerlich auch, nicht zu verwechseln mit der muffig-warmen U-Bahn. A propos U-Bahn: Heller ist es hier als dort, weiter auch, man hat mehr Platz, und, klar, mehr Aussicht. Über Westhafen und Beusselstraße geht es zur Jungfernheide. Es dominieren große Flächen, hier wird gearbeitet statt gewohnt. Hellweg, Bühnenverleih, Güterwaggons. In der Wellblechwelt ein bisschen alter Backsteinprunk. Behala Westhafen, Gewerbelinie Ring. Beim Halt in Jungfernheide meint man, den Zug schnaufen zu hören. Großes Umsteigen, U7, nach Spandau und Rudow. Dann geht’s nach Süden, scharfe Linkskurve, und rechts tauchen die Märchentürme der Westend-Kliniken auf.

DER RINGBAHN-ROMANTIKER

Als erster Treffpunkt ist gewählt: der S-Bahnhof Westend, Spandauer Damm, Ausfallschneise, irgendwo zwischen Schloss Charlottenburg und Ikea. „Ich war immer ein Liebhaber der Verkehrsmittel“, sagt Jürgen Meyer-Kronthaler. Seit 25 Jahren schreibt der ehemalige Rias- und heutige Deutsche-Welle-Redakteur, „kurz jmk“, für die „Berliner Verkehrsblätter“, kurz „BV“. Eine der zwei großen Liebhaber-Zeitschriften im Berliner Raum. Im Ostteil sind zu Mauerzeiten noch die „Verkehrsgeschichtlichen Blätter“ entstanden, kurz „VB“. Für den Laien kaum zu unterscheiden. Im Lokal „Zur Haltestelle“ trinkt man Schultheiss vom Fass. Das Interieur: Asbach-Uralt-Leuchtreklame, Holzvertäfelung, Wagenrad-Kronleuchter, dunkle Gemälde in Goldrahmen. Unter der Decke: Rettungsring, Fischernetz und Gitarre – Freddy-Quinn-Ensemble. Hinterlegt ist das alles mit 105,5 Spreeradio. Wir sind, kurz gesagt, in einem dieser großartigen Altberliner Saufläden.

Das Leben von Meyer-Kronthaler, Jahrgang 1950, große randlose Brille, Seitenscheitel, Sakko über Pullunder über Hemd, ist ein Leben in und mit der Bahn. Erster Bänderriss, Ehrensache, beim Abspringen vom fahrenden Zug. Gute, alte Zeit. Meyer-Kronthaler erzählt von früher. Von den Knutschtouren der Nachkriegszeit, als Pärchen sich in die meist leeren Mutter-Kind-Abteile verkrochen. Von seinem Heimatbahnhof, Halensee, der früher noch so einen schönen großen Glasvorbau hatte. Und vom ursprünglichen Namen: „SS-Bahn!“, sagt Meyer-Kronthaler und lehnt sich zurück. Klug gesetzte Kunstpause. „Kurz für Stadtschnellbahn.“ Puh. Das alte Kürzel spuckte der Volksmund im Laufe der Vierziger recht schnell wieder aus. Darauf ein großer Schluck.

„Können Sie mal die Luft aus den Gläsern lassen?“ Schwieriges Thema jetzt: die S-Bahn nach dem Krieg. „Schon allein aus Daffke hab ich die genommen“, sagt Meyer-Kronthaler. Denn die Elterngeneration boykottierte „Ulbrichts Stacheldrahtbahn“ nach 1961. Betrieben wurde sie weiterhin von der Reichsbahn, gefahren von linientreuen DDR-Bürgern. Die S-Bahn, ein Kuriosum des Kalten Kriegs: „Ein maroder, rumpelnder, total überalterter Wagenpark“, sagt Meyer-Kronthaler. Als die Stones-Fans 1965 die Waldbühne verwüsten, werden auf der Heimfahrt die Züge gleich mit zerlegt. „Die S-Bahn war Freiwild, da war viel Kalter Krieg dabei auf beiden Seiten. Jeder Gullydeckel war politisch.“

Die während der Teilung verfallenen Ringbahnhöfe wurden nach 1990 Stück um Stück wieder aufgebaut, die Strecken saniert. Trotz der andauernden S-Bahn-Krise, die auch Meyer-Kronthaler alias jmk in seiner Zeitschrift kritisch begleitet, ein versöhnliches Fazit vom Liebhaber: „Die Ringbahn ist doch ein wunderbares Symbol für die Vereinigung. Die Menschen in Ost und West haben in den gleichen Zügen gesessen. Es war ihre gemeinsame S-Bahn.“ Schöner Schlusssatz.

Doch unten auf dem Bahnsteig hat jmk, ewiger Bahnfahrer, noch einen Spruch parat. Er schaut missbilligend beim Entwerten zu, sagt: „Django stempelt nicht. Django hat Monatskarte.“

Gute Laune bei der Weiterfahrt. Die ganze Ringbahn-Romantik ist ja schon ansteckend, am Bahnhof „Messe Nord / ICC“ überfällt einen gleich der Gedanke: Wie viel schöner war doch der alte Name. Witzleben! In den Blick komm: das gemeinsame Erlebnis Ringbahn. Die Rituale: Das Wegziehen des Rucksacks vom Nebensitz, wenn sich jemand setzen will. Die stummen Codes. Das Aneinander-vorbei-Starren. Die müde Stille im Feierabendverkehr. Das Abfahrtssignal, unverkennbares „Döö-dööööö-dööp“, verewigt von Elektro-DJ Paul Kalkbrenner im Film „Berlin Calling“. Zurückbleiben bitte, Nostalgie und Spinnereien abschütteln, vorbei geht es am Flaggenmeer der Messe und dem silbernen Kongressding, vorbei am Westkreuz, das ohnehin nur zum Umsteigen taugt. Schnell weiter jetzt! Vorbei an Halensee, Pronto Autoservice, Natursteingalerie, immer neue riesige Brachflächen und das immer neue Staunen darüber, wie viel Platz diese Stadt noch hat.

Die Bahn ist jetzt fast leer. Hohenzollerndamm, Heidelberger Platz, die Häuser verändern sich, werden älter, massiver. Hier hat die Stadt plötzlich Giebel. Bürgerliches Berlin. Vor den wuchtigen Gründerzeitdomizilen, entlang der Stadtautobahn aber auch: endlose Graffiti-Galerien. Fette, bunte Buchstaben, hastig nebeneinandergequetscht. Ringbahn, Abenteuerspielplatz der Heranwachsenden. Das Licht der Öffentlichkeit meidet die Sprayerszene, ist nachtaktiv. „Trainwriting“, das Bemalen von Zügen, das ist das ultimative Wagnis für die Gruppen, es ist gefährlich, die Aktionen in Depots oder auch an Bahnhöfen sind perfekt durchgeplant – wie ein Bankraub. Das Adrenalin ist dabei fast so wichtig wie gute Farbe. Bei Youtube kann man leicht die entsprechenden Videos finden, produziert von den Crews mit narzisstischer Akribie. Üblicher Ablauf: Vermummte Gestalten stürmen aus dem Gleisbett, die Dosen in Umhängetaschen, dann stäubt schon die Farbe, teils beidhändig wird die Grundierung auf die Waggons gemalt. Ein paar Umrisse, fertig. Die Anwesenheit des Zugführers stört keinen. Was soll er machen, allein gegen zehn? Die Crew ist längst weg, bevor die Polizei auftaucht.

Hinter dem Bundesplatz geht es ein Stück hinauf zum Innsbrucker Platz. Der Blick weitet sich. Nie war er bisher größer, der graue Himmel über Berlin. Am Schöneberger Gasometer geht es in sanfter Kurve wieder hinunter, zum Südkreuz, bunte Wände all the way.
Zwischenstopp bei der Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin“

DIE POLIZISTEN

„Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Wenn wir als Uniformierte mal einen Sprüher erwischen, dann sind die schon strunzdoof.“ Ralf Brunner, Bundespolizei-Hauptmeister, Stromberg-Bärtchen, kleine Augen hinter der Brille, sitzt im engen Pausenraum seiner Wache, tief unten im Bahnhof Südkreuz. Zwischenstopp bei der Ordnungsmacht. Kopfschüttelnd setzt Brunner seinen Kaffee ab. „Das sind große Crews, 20 Mann, die gehen in die Bahn rein, texten alles zu, und wenn der Bahner kommt, malen sie den auch noch voll. Die kennen da nichts.“ Die Strecke zwischen Bundesplatz und Ostkreuz, das ist Brunners Revier, und das seines Partners Norman Förster. Der ist im Team der Mann für die lockeren Sprüche. So wie: „Der Beamte wird nach oben mit Mütze begrenzt.“ Allgemeine Heiterkeit.

Weniger Heiterkeit dagegen bei der Jagd auf Sprüher, die erledigen andere, zum Beispiel die Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin“. Brunner und Förster dokumentieren meist nur. „So frech“ seien die Sprayer geworden, sagt Förster, 43, gegelte kurze Haare, breites Lachen, dass sie sogar die Zugkehre direkt neben der Wache bemalten. „Bis wir da sind, haben wir nur noch ein schönes Bild vor uns.“

Ansonsten sind es hauptsächlich „alte Bekannte“, die die beiden auf ihren Einsätzen am südlichen und östlichen Ring treffen, sagen sie, meist jugendliche Mehrfachtäter. „Die diskutieren wahnsinnig gerne.“ Hin und wieder müssen sie auch eine der beliebten Ringbahnpartys auflösen, Bier auf Bollerwagen, ein paar Dutzend Kids, Musik. Der Ring ist eine Szene für sich, unter der Woche Pendlerbahn, an Frei- und Samstagen Partyzug und Club-Zubringer. Ohne Bierflasche in der Hand fällt im Sommer selbst die Zivilstreife auf. Und ab zwei Uhr nachts kommt dann die Zeit einer ganz bestimmten Tätergruppe. „Diebstahl zum Nachteil Schlafender“ heißt es im offiziellen Polizeisprech, wenn die dösenden Helden der Nacht in der Ringbahn ihrer Habseligkeiten beraubt werden. Insgesamt aber sei der Ring sicher. 2012 wurden 3 028 Delikte verzeichnet, davon 634 Diebstähle – bei gut 300 000 Fahrgästen an Werktagen.

Förster und Brunner trinken ihren Kaffee aus großen Tassen und erzählen in entspannter Haltung. Oberboss Joachim Gauck schaut derweil mit mildem Lächeln von der Wand aus zu. Gute Story: wie sie einmal einer abreisenden türkischen Familie den Koffer mit Reisepässen wiedergebracht haben – gefunden von einer türkischen Familie in Neukölln. Oder der liebeskranke Gymnasiast vom Bundesplatz, den sie nach gutem Zureden wieder aus den Gleisen begleiten konnten.

Plötzlich aber sitzen die beiden kerzengerade da, Augen weit offen, und halten sich an den Taschen ihrer Schutzwesten fest. Bedrohung der Gedanken. „Der Tote hier oben“, sagt Förster und senkt den Blick. Letzter Juni, ein Mann springt seinem Rucksack hinterher ins Gleisbett, die einfahrende Ringbahn sieht er nicht. Hilflose Retter. „Der hat geschrien, aber wir konnten auch nichts machen.“ Förster schüttelt den Kopf. „Selbst die Feuerwehr nicht, die haben noch zwei Stunden versucht, ihn zu befreien. Aber die konnten den Zug ja auch nicht wegdrücken.“ Brunner beugt sich wieder nach vorne, sagt: „Man spricht mit anderen darüber, klar. Aber man lässt es nicht an sich heran.“

Oben auf dem Bahnsteig dann, beim Fototermin, rollt ausgerechnet ein zugesprühter Zug hinter den Polizisten ein. Sie können, müssen wieder lachen, besser hätte sich selbst Förster die Pointe nicht ausdenken können.

DER LOKFÜHRER

„Wollen Sie noch mit?“, fragt der Mann im blauen Wollpulli, mit einem Bein im Führerhäuschen, drei rote Streifen auf der Schulterklappe, Mikrofon in der Hand. Begrüßendes Lächeln. Klaus Rühmann, „Baujahr sechsnfuffzich“, aktuell praktischerweise genauso alt, lädt ein in sein zweites Zuhause. Mitfahrt im Führerstand, Baureihe 480, Berlin-West, ausgeliefert 1987. Vor Rühmann: braune Armaturen, runder Tacho, bunte Knöpfe und der doppelte Schubregler in Messing, links Tempo, rechts Bremse. Rühmann, das wird sofort offensichtlich, hat hier ein Zimmer mit Panoramaausblick, kein Vergleich mit den wenigen Fetzen Berlin, die hinten am hundsgewöhnlichen Fahrgast vorbeifliegen. Hier vorne ist der Horizont breit, fast 180 Grad. „Diese Freiheit“, sagt Rühmann und beschleunigt, „das ist es. Ich bin alleine, keiner redet mir rein.“ Nicht dass er ein Eigenbrötler wäre, im Gegenteil. Die täglichen Begegnungen mit den Reisenden sind ihm wichtig. Ein kommunikativer Mensch wie er ist hier richtig. „Wir sind nun mal Dienstleister, schon immer gewesen.“

Auch Eisenbahner war Rühmann schon immer. Mit seinen Geschwistern spielte er Bahnhofsabfertigung, schon als Kind in der zugigen Altbauwohnung in der Hauptstadt der DDR. „Die S-Bahn ist meine S-Bahn, schon immer gewesen“, sagt Rühmann. Er fühlt sich verantwortlich, er ist es. „Deswegen tut mir das in der Seele weh.“ Was? Nun, das, was in diesem Text bisher kaum Thema war: die Verspätungen, die Ausfälle, die Beschwerden. Mit einem Achsbruch ging es im Mai 2009 los, seitdem ist die S-Bahn in der Krise, die Kunden murren, noch immer fahren nicht so viele Züge wie laut Verkehrsvertrag vorgesehen. Für die Zeit ab Dezember 2017 ist das „Teilnetz Ring“, auf dem Lokomotivführer Rühmann gerade mit knapp 70 Sachen unterwegs ist, öffentlich ausgeschrieben. „Ich bin ja selber davon betroffen“, sagt Rühmann über den Ruf der S-Bahn, die einst der Stolz der Berliner war. „Wir machen täglich unsere Arbeit, so gut es geht. Aber wir sind abhängig von anderen. Wir wollen rollen und wir können nicht rollen.“ Das Leiden des Lokführers.

Das Fahren an sich ist immer schon das Gleiche gewesen, links Schub, rechts Bremse, Signale beachten, zurückbleiben bitte, doch drumherum ist alles anders. Als Klaus Rühmann anfing, 1976, war er Angestellter der Reichsbahn und steuerte seine Züge durch ein anderes Land. Leichtere Arbeit damals, mehr Züge, kleinere Strecke, weniger Stress. Klarer sozialistischer Ablauf, Berufsverkehr von fünf bis sieben und wieder von drei bis fünf. „Dann war Ruhe.“

Am weiten, weiten Tempelhofer Feld vorbei rauscht der Zug, auf seinem ewig gleichen und immer anderen Weg, Richtung Neukölln. „Berlins größter Fernsehdienst – durch ihr Vertrauen“: Brandwandwerbung aus einer verlorenen Zeit.

Eines Morgens kommt der DDR-Bürger Rühmann ins Betriebswerk Grünau – und keiner ist da. Alles sitzt in der Kantine, schart sich um einen Kollegen, der neben einem Sixpack Kindl hockt und mit großen Augen von drüben erzählt. „So habe ich mitbekommen, dass die Mauer weg ist“, sagt Rühmann, strahlendes Lachen. „Die Tage und Wochen danach, das war krass, eine tolle Zeit.“ Rund um die Uhr sind sie gefahren, die Züge rappelvoll, die Menschen feierten die Freiheit, die Rühmann da vorne immer schon erahnt hatte.

Nicht alles ist seitdem anders, aber einiges besser geworden. Im totalitären System ging der Einzelne unter. „Wenn du einen überfahren hast, bist du weitergefahren.“ Ihm selbst sei das zum Glück nie passiert. Heute ist Rühmann als Teamleiter verantwortlich für 70 andere Lokführer. Wenn etwas passiert, macht er sich auf den Weg. Wie oft passiert etwas im Jahr? Keine Zahlen von Bahnseite. Von Klaus Rühmann aber jetzt die Versicherung: „Die Kollegen sind nicht alleine.“ Und: „Wir sorgen dafür, dass sie wieder ins Rennen kommen.“

Mit Rühmann vorne im Zug rauscht die Stadt schnell vorbei, 80 Kilometer pro Stunde fährt er jetzt, echte Berliner Geschwindigkeit. „Kennen Sie den Passauer Dom?“ fragt Rühmann, während der Zug am Ostkreuz langsam zum Stehen kommt. „ 500 Jahre Bauzeit – als man vorne fertig war, fing man hinten schon wieder an zu renovieren. Da wird immer ein Baugerüst dranstehen. Das ist für mich Berlin.“ Einen, der noch nie hier war, würde er einfach mitnehmen auf eine Runde, erklärt Rühmann abschließend. „Komm mit!“, würde er sagen. „Ich zeig dir mein Berlin!“

Nur noch das letzte Viertel Ring ist übrig, das Viertel der großen Alleen: Frankfurter, Landsberger, Greifswalder, Prenzlauer, Schönhauser. Vom Friedrichshain hinauf auf den Prenzlauer Berg. Kaputte Baracken, glänzende Hotels, spiegelndes Velodrom. Von den Schlachthöfen an der Storkower Straße ist kaum etwas übrig, wo früher Rinder versteigert wurden, ist nun ein Radhaus. Immer wieder auch die Irren auf den Bahnsteigen. Reden, brabbeln vor sich hin, die hilflos Betrunkenen, am hellichten Tag. Der Ring ist wie ein Magnet für sie, vielleicht, weil er ihrem Leben entspricht. Einsteigen, endlos fahren, und nie ankommen.

Ich zeig dir mein Berlin. Welches Berlin eigentlich – ist das die Frage? Vielleicht aber ist es auch bereits die Antwort. Denn unter Umständen ist ja gerade dies das Besondere: dass jeder sich sein Berlin immer wieder neu erkämpfen kann, neu erkämpfen muss, die Reisenden, stumm oder grölend, missmutig oder ausgelassen, der Lokführer, immer die surrende Freiheit im Kopf, die schunkelnden Party People, die Beamten, die Irren und die Sprayer. Brunner und Förster, Rühmann und jmk. Am Ring kommen sie alle zusammen und trennen sich wieder – Tag für Tag aufs Neue. Wem gehört Berlin, wem gehört der Ring?

Nun, wem nicht?

DER DICHTER

Der Mann in der Daunenjacke, zerzauste blonde Haare, schaut aus eisblauen Augen. „Möchten Sie ein originelles Gedicht hören?“ Omit nennt er sich, „so heißt mein Name rückwärts“, sagt er. Obdachlos ist er nicht, anders als die Motz-Verkäufer, mit denen er meist verwechselt wird. Eine „psychiatrische Vergewaltigung“ hat er dafür hinter sich, wie er sagt, angezettelt vermutlich von seinem Vater, so genau weiß das Omit nicht mehr. Seine kleinen Verse trägt er auf handgeschriebenen Zetteln mit sich. Jeden Tag ist er am Ring unterwegs, morgens halb acht, abends halb acht, obwohl ihn die Bahner nicht haben wollen. Er zahlt die tägliche Verkaufsgebühr von 30 Euro nicht. Doch unverdrossen führt er seinen Kampf gegen die Windmühlen des Alltags, der Vernunft.

Eine junge Frau in dickem Wollschal ist interessiert. „Ich liege neben den Versuchen“, hebt Omit an, „überlebenslang – hinaus, zwischen den Händen und Beinen, meines Tages, ohne Sein. Denn auch dieses Lied ist wie ein Ring, jedes Mal, wenn es gelesen wird, passt es sich perfekt der Situation an.“ Die Frau im Wollschal will nicht zahlen. „Okay, danke“, sagt Omit, lächelt und steht auf. An der Tür kommt sie ihm nach. „Aber du hast voll die schöne Stimme, du solltest Märchenerzähler werden.“ Beim Aussteigen schaut der Dichter prüfend in den Himmel. „Märchenerzähler, warum nicht? Originelle Märchen, ja, vielleicht sollte ich mal Märchen schreiben.“

Abschied von Omit. Am Ende soll es nun noch einmal in die Kneipe gehen. „Molle und Korn 2,50 Euro“, so die klare Ansage auf einer Tafel vor der Gaststätte „Nordring“. Stargarder Straße, Ecke Greifenhagener. Hier hörte der Ostring einst auf. Im Niemandsland zwischen dem S-Bahnhof Schönhauser Allee (DDR) und S-Bahnhof Gesundbrunnen (BRD) kamen fünf Menschen ums Leben. Heute ist alles schön bunt. Eine Eisenbahnerkneipe inmitten von Antikläden, Pizzerien und Babyshops.

Hinter dem Tresen ist das Reich von Heiner, Schnurrbart, Pullover, gerötete Haut. Hinter seinem Rücken das Schild: „Legt euer Geld in Alkohol an – wo sonst gibt es 40 %?“ Gleicher Muff wie in der „Haltestelle“, eine halbe Ringumdrehung weiter westlich. Beruhigend, dass beiderseits der Mauer die gleichen Kneipen überlebt zu haben scheinen. Von den rot-gelben Zügen, die hier an jeder Wand hängen, will Heiner nichts wissen. „Ach, die S-Bahn, die hat ja so viele Minuspunkte, die letzten Jahre waren ja unter aller Sau, na hallo!“ Heiner guckt grimmig. „Nee, mit der S-Bahn hatten wir noch nie was zu tun!“ Warum genau die Kneipe dann heißt, wie sie heißt, und aussieht, wie sie aussieht, ist an diesem Abend nicht mehr herauszufinden. Heiner tanzt lieber zu Nena. „Irgendwie, irgendwo, irgendwann.“ Draußen liegt dunkel die Stadt, und der Barmann bringt es auf den Punkt: „Hauptsache, der Hahn läuft!“

Der Korn verwischt den Rest des Abends. Hassgeliebter Ring, hassgeliebtes Berlin, wieder und wieder aufs Neue, Runde für Runde, jeden Tag. Dies war ein langer. Zeit, nach Hause zu fahren. (Tagesspiegel)

Ick könnt mir dauernd küssen!

Am Anfang steht direkt eines dieser klassischen Berliner Probleme. Den ausgemachten Treffpunkt, das „Süße Café“ in der Grüntaler Straße, gibt es nicht mehr. „Vor sechs Wochen bin ich noch dran vorbeigelaufen“, sagt Steffen Greschner. Kurzes Achselzucken und der schnelle Alternativvorschlag: Die Eckkneipe „Zum Dicken“, 50 Meter weiter. Dort angekommen sagt Greschner: „Genau darum bin ich gerne in Berlin.“ Anfang Januar hat er zusammen mit seiner Mitstreiterin Anja Prüfer das Blog „Unnützes Berlinwissen“ ins Leben gerufen. Die Seite macht sich gut, bei Facebook hat sie nach drei Wochen bereits mehr als 300 „Gefällt mir“-Angaben.

Besucher können sich an kleineren und größeren Geschichten über die Stadt erfreuen, sie lernen zum Beispiel, dass Berlins kleinstes Haus in der Kreuzberger Oranienstraße steht und das Vorbild für das Brandenburger Tor in Athen.

Und dass die Berliner Ortszeit eigentlich 6:22 Minuten hinter der Mitteleuropäischen Zeit hinterherhinkt. Offizielle Selbstbeschreibung der Seite: „Die große Stadt und die vergessenen Geschichten dahinter. Skurriles und Geschichtsträchtiges. Blödsinn und Erstaunliches. Zeug, das keiner wissen wissen muss. Unnütz vielleicht. Berlin eben.“

„Die kleinen, teils amüsanten Geschichten im historischen Kontext“, so fasst Greschner das zusammen, amüsante Zitate sind auch mit dabei. Wie das des Schriftstellers Jean Paul, wonach Berlin „mehr ein Weltteil als eine Stadt“ sei. Am besten beschreiben ließe sich der Inhalt der Seite, sagt Greschner, unter dem Label Kneipenwissen. Das „Wusstest-du-eigentlich?“, wie es tagtäglich auch hier im „Dicken“ im Dunst der Zigaretten ausgetauscht wird.

Das Team steht dabei für die Dualität der Großstadt. Prüfer, 29, ist die Alteingesessene, in Weißensee aufgewachsen, nun Weddingerin. Und Greschner, nun, der kommt ursprünglich aus Stuttgart, was natürlich sofort auch Thema ist. Weil es immer Thema ist. „Es ist nicht böse gemeint“, sagt der 32-Jährige und verdreht die Augen, „aber es nervt, wenn jedes Mal ein Spruch oder ein Witz über die Schwaben kommt.“

Auch aus diesem Grund: Das Blog. „Es ist auch ein Bildungsprojekt“, sagt er. Denn das Attribut „unnütz“ ist natürlich teils ironisiert, wie das in der Generation der beiden unerlässlich ist, damit sich überhaupt jemand dafür interessiert. „Das ist wohl auch so eine Facebook-Sache“, sagt Greschner. „Das leicht Provozierende spricht und zieht die Leute eher an.“

Provozierend scheint auch die Anwesenheit der kleinen Gruppe aus Bloggern, Reporter und Fotograf zu wirken, einer der Stammgäste ruft dazwischen: „Euch Touristen kann er ja knipsen! Aber ich will nicht auf Seite eins landen.“ Wenn das so weitergeht, qualifiziert sich der ältere Herr gleich noch für die Kategorie „Jeplapper“, die den beiden besonders ans Herz gewachsen ist. Dort finden sich typische Altberliner Sprüche. So wie: „Ick find mir hübsch, ick könnt mir dauernd küssen“ oder auch „Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode“. Unwiderlegbar überdies die Weisheit: „Säufste – stirbste. Säufste nich – stirbste ooch. Also säufste.“

Vieles davon stammt aus der lebenslangen Berlin-Erfahrung der Frau im Team, die sagt: „Ich bin ja hier groß geworden, im Spreewasser getauft und so weiter, das meiste kenne ich also selbst.“ Greschner ist in dieser Rubrik eher seliger Empfänger: „Das meiste ist mir neu und ich könnte mich wegpacken.“

Die Berlinerin und der Schwabe, sie ergänzen sich ganz gut. „Er ist immer so korrekt“, flüstert sie, als er von dem Impressum des Blogs erzählt. „Ja, und ich achte auch darauf, dass jedes Foto lizenzfrei ist“, sagt er. Eine Abmahnung über ein paar Hundert Euro könne schließlich schnell das Ende des Spaßprojekts bedeuten. Sicher, irgendwann mal ein paar Euro zu verdienen mit dem „Berlinwissen“, sei keine schlechte Sache. „Vielleicht ein Freitagabend-Kneipentipp für 20 Euro oder einen Abend Bier oder was auch immer“, sagt Greschner.

Doch das alles hat Zeit und die wollen sie ihrer Seite auch geben. „Lieber an den kleinen Punkten genauer hinschauen“, sagt Greschner. „Sonst kommt nur etwas Hektisches heraus. So eine Kneipe wie hier, die sehe ich ja gar nicht, wenn ich nur vorbei hetze zur Haltestelle, zur nächsten Gästeliste.“

Quasi im Vorbeischlendern also stoßen die beiden auf die skurrilsten Fakten. Dass in Reinickendorf Europas größte Fabrik für Fertigpizzen steht, eine halbe Milliarde Euro Jahresumsatz. Und dass Joseph Goebbels und Walter Ulbricht mal gemeinsam auf einer Rednerbühne standen, 1932, beim BVG-Streik, zu dem NSDAP und KPD aufgerufen hatten.

„Schon der Wikipedia-Eintrag über die Kastanienallee gibt drei, vier schöne kleine Geschichten her“, sagt Greschner. „Dass dort beispielsweise die ersten Filmaufnahmen Deutschlands gemacht wurden, weiß wahrscheinlich niemand.“

Am Schluss noch ein Praxistest für die Macher. Klassische Berliner Schule. Wie nützlich ist es zu wissen, an welcher Seite des U-Bahnhofs man aussteigen muss? Prüfer sagt schnell: „Ist doch egal, ob man den Weg vorher oder hinterher läuft.“ Greschner widerspricht: „Wenn ich nach Hause fahre, lauf ich immer vorher schon dorthin, wo ich raus muss.“ Verblüffend: Der Schwabe als besserer Berliner, wer hätte das gedacht! (Tagesspiegel)

Du genialer Zaubermensch

Es war schweinekalt im Stade de France, vielleicht null Grad, vielleicht weniger. Ich konnte mir selbst beim Atmen zusehen. Doch was sich gekleidet hatte wie ein dunkler Winterabend, fühlte sich ganz anders an. Denn da unten im gleißenden Licht machtest Du Dinge, die selbst verhärmte Männerherzen erglühen lassen.

Und ja, ich schäme mich meiner Gefühle nicht: auch mein dunkles Herz wurde licht.

Özil – oder darf ich: Mesut! – was haben wir, was habe ich Dich vermisst in all den Jahren vor, nunja, Dir. Ich wusste es nicht mal. Lange Zeit, eigentlich ewig, hatten die Franzosen ja zum Beispiel Zidane, und der führte alle vor, wie er wollte. Immer und immer wieder. Auch uns.

Es gab da mal ein Spiel auf Schalke, 0:3 ging das aus, glaube ich – nicht so wichtig, denn viel eindrücklicher als das Ergebnis war das Gefühl der Demütigung, so grausam, diese Schmach durch Zizous Pirouetten, und die Befürchtung, nein, die Gewissheit, dass der deutsche Rumpelfußball niemals einen solch großen Meister hervorbringen würde.

Und jetzt, Mesut, jetzt dieser magische Abend von Paris. Dieses Raunen der Fans, Deutsche wie Franzosen, wenn Du den Ball berührtest! Dieser Hackentrick in der ersten Hälfte, mit links hinter dem Standbein entlang, oh, ich habe alles genau sehen können von meinem kalten Sitz hoch oben unterm Dach!

Um mich herum jauchzten kaum verhohlen Männer mittleren Alters über Deine Richtungsänderungen, die Körpertäuschungen, die kleinen Demütigungen – mitunter löffelst Du den Ball ja wie ein Klümpchen Kaviar – und dann diese Pässe wie der vor Khediras 2:1, Pässe wie eine straffe Gitarrensaite, nie im Ton vergriffen.

Wer ist noch Referenz für Dich an solchen Abenden? Wem, außer Messi und vielleicht Ronaldo, musst Du Dich überhaupt noch unterordnen in der weltweiten Hitliste der Techniker?

Dabei wirkst Du in Deinen Bewegungen zunächst immer so, als habest Du Dich nur von Deinem großen Bruder zu einem Spiel im Käfig überreden lassen. Na gut, ich mach dann auch mal mit. Schleppenden Schrittes, den Oberkörper gebeugt, ziehst Du scheinbar gleichgültig Deine Kreise.

Aber dann, dann, oh, wehe dem, der sich davon täuschen lässt, dann eine blitzschnelle Aktion, ein kurzer Sprint, ein Haken oder eben eines dieser blitzgescheiten, zauberhaft schnurstracken Zuspiele.

Nein, wirklich, ich kann es nicht anders sagen: Es is‘ so schön, dass es Dich gibt! Denn Mesut, Du genialer Zaubermensch, wir haben Dich lange, viel, oh, allzu lang vermisst. (11FREUNDE.de)

Manne (5 Minuten Stadt)

Zum Fototermin in eine Eckkneipe in Wedding. Kippenmuff, grau gerauchte Spitzengardinen. Die Stammgäste schauen von ihren Biertulpen auf. Irritierte Blicke, Gemurmel. Die Wirtin aber gibt ihr O.K.: „Klar könnt ihr knipsen.“ Der Fotograf baut seine Blitze auf, drapiert die beiden jungen Berliner, die abgelichtet werden sollen, um einen Holztisch. Es blitzt. Einmal, zweimal. „Hört sofort auf damit!“, kommt es aus der Ecke. Ein weißhaariger Mann sitzt mit weit aufgerissenen Augen auf seinem Stuhl und schreit: „Lasst diese Scheißfotografiererei, ick kann ditt nich ab.“ Er befiehlt seinem Dackel, die ungebetenen Gäste zu beißen, der Dackel dreht sich im Kreis.

Verwirrter harmloser Dackel. Harmloser alter Mann. Doch die Wirtin schreitet ein: „Manne, sei still jetzt!“ Manne sagt erst mal nichts mehr. Dann kommen wieder die Blitze. Zack, Zack, Zack. „Nein! Nicht! Die Gammastrahlung! Hört auf!“ Manne hält sich den Unterarm vors Gesicht. Wütende Wirtin: „Manne, halt deine Fresse!“ Und in die andere Richtung: „Gestern ging er noch.“ Manne sitzt, schweigt und schaut aus großen Augen. Er sieht traurig aus. Das Shooting ist vorbei. Plötzlich steht Manne am Tisch. „Nüscht für unjut“, sagt er, nun ganz ruhig, „aber ich lass mich nicht gern fotografieren.“ Kein Problem, keiner nimmt es ihm übel. Manne sagt: „Ich war 15 Jahre Aufseher in Bautzen. Kennt ihr bestimmt gar nicht mehr. Wie? Na ja, ja, hängt mir bis heute nach, könnt ihr mir glauben. Also, nüscht für unjut.“ (Der Tagesspiegel)

Goldringe am Boden

„Fünf Minuten Stadt“ (Tagesspiegel)

Der Weg zum Bargeld macht Frieren, bitterer Wintermorgen. Der Wind jagt die leere Torstraße in Mitte hinauf. Tür auf zum Vorraum der Bank. Hier drinnen: volles Haus, Nachtlager der Obdachlosen. Ein Mann mit St.-Pauli-Kutte sitzt auf den Steinstufen, neben ihm schläft ein anderer mit auf die Brust gesunkenem Kopf, hinter den beiden noch zwei volle Schlafsäcke. Am Automaten: eine Frau mit Perlen im Haar. Der Mann mit der Kutte, schleppende Sprache der Betrunkenen, will von ihr wissen, wo sie herkommt. Sie zögert, schweigt. Sagt dann: „Karibik! Trinidad and Tobago.“ Er nickt, wie in Zeitlupe. Die Frau dreht sich zum Automaten, dann abrupt wieder zurück.

„But why?“, fragt sie, etwas lauter als zuvor, in seine Richtung. „Warum?“ Er versteht die Frage nicht. „Why you doing this?!“ Sie klingt nun ehrlich entsetzt, schaut sich um, deutet mit der Hand zu den Schlafsäcken. Er schaut sie mit leeren Augen an. „Why you sleeping-on-this-floor?!“ Sie geht schreiend in die Knie, hämmert bei jeder Silbe ihre Fingerknöchel auf den Steinboden. Goldringe klackern. Sie lässt ihn nicht antworten, er versucht es auch kaum. „Warum kein Geld von Jobcenter?! Du! He?!“, schreit sie, gestikuliert mit der einen Hand und hämmert mit der anderen wild auf den Automaten ein, der rattert und ein paar Scheine ausspuckt. Sie hält sich den Zeigefinger quer unter die Nase. „Oh my God. You people make me sick.“ Dann stößt sie die Tür auf, weinend, und die eisige Kälte der Stadt pfeift herein.