Der spindeldürre Fußballheld

– Horst Eckel zum 80. Geburtstag

Kaiserslautern (dapd). Der Weltmeister trägt Trainingsanzug. Und als er mit einem Begrüßungslächeln in seiner Haustür steht, fällt einem noch eines sofort auf: Horst Eckel ist immer noch genauso gertenschlank wie auf den alten Mannschaftsfotos, auf denen drei Eckels in einen Kohlmeyer gepasst hätten. Windhund tauften sie ihn damals. Alles erreicht hatte dieser spindeldürre Bursche aus dem kleinen pfälzischen Nest Vogelbach schon mit 22 Jahren. Weltmeister, Deutscher Meister, Fußballheld, in der Pfalz wie in Deutschland. In seinem Vogelbach sowieso. Am Mittwoch wird Horst Eckel, der Benjamin der 54er-Elf, 80 Jahre alt.

Der Weltmeister bittet hinein, er geht die schmale Treppe voran ins Wohnzimmer. Dort deutet er auf das Sofa an der Wand, nimmt selbst auf dem Sessel gegenüber Platz – und fängt nach der ersten Frage an zu erzählen. Davon, wie alles losging, von 40 Saisontoren als Mittelstürmer in Vogelbach, von dem Tag, als der Juniorentrainer des großen, unendlich weit entfernten 1. FC Kaiserslautern anrief, vom ersten Training auf dem Betzenberg, bei dem Fritz Walter den 17-jährigen Neuling gleich als ersten in seine Mannschaft wählte.

Davon, wie er zweimal die Woche vom Nähmaschinenwerk Pfaff zu Fuß quer durch die Stadt und hinauf zum Training lief. Zwei Stunden Training nach neun Stunden Arbeit als Feinmechaniker. Wie er spätabends nach dem Training im Tischtennisverein daheim in Vogelbach noch seine Koordination übte, wie er oft genug auch sonntagmorgens um Meisterschaftspunkte Pingpong spielte – der FCK spielte ja erst um drei. Nein, sein Trainer in Lautern habe das gar nicht gerne gesehen, erzählt Horst Eckel, auch seine Eltern, die ihn kaum sahen, hätten natürlich gemurrt. „Aber die konnten gar nichts sagen, da gab es keine Diskussion.“

Der Sport sei nun mal sein Leben gewesen, sagt Eckel, der nach der Karriere als Fußballer noch einmal ganz von vorne anfing, studierte und Sportlehrer wurde. Seine Frau Hannelore musste ihn damals über Wasser halten, ihn, den Weltmeister, auch das aus heutiger Sicht so unvorstellbar. „Ich werde ihr das nie vergessen“, sagt Horst Eckel. Eckel erzählt Geschichten aus einer anderen Zeit, Geschichten, bei denen einem klar wird, wie weit diese 50er-Jahre eigentlich zurückliegen, gemessen in Fußballzeit.

Wer Horst Eckel einmal zugehört habe, sagt Kaiserslauterns Klubchef Stefan Kuntz, der fühle die alten Zeiten wieder aufleben. Er verkörpere die Eigenschaften, die den Verein groß gemacht hätten: „Respekt, Anstand, Ehrlichkeit und Leidenschaft.“ Eckel erzählt gestenreich, immer wenn er die Handflächen zusammenschlägt, klacken sein Ehering und der FCK-Meisterring aneinander. Eckel erzählt, wie Fritz Walter seinen Stammplatz beim Trainer durchboxte und ihm dann freundlich-bestimmt sagte, er solle auch ja gut spielen, sonst werde er ihm schön in den Hintern treten.

Wie Bundestrainer Sepp Herberger nach einem Spiel mit tadelndem Blick auf ihn zukam und ihm seinen Lieblingstrick ausredete. „Den Ball anlupfen und am Gegner vorbei“, beschreibt Horst Eckel und lächelt. Das gab es beim Chef fortan nicht mehr. Es sind Hunderte unterhaltsamer, wunderschöner Anekdoten. Wenn seine Kumpels ihn samstagabends wieder einmal zum Tanzen schleppen wollten, sagte er lächelnd ab. Nur am Sonntagabend, nach den Oberliga-Spielen, ging er hin und wieder mit seiner Hannelore ins Kino.

„Ich habe immer nur für den Sport gelebt“, sagt Horst Eckel und es klingt wie das Normalste der Welt. Es war wohl auch diese absolute Hingabe, die Fritz Walter, Eckels größter Förderer, schon ganz früh in ihm erkannte. In der Nationalelf ließ der den zwölf Jahre Jüngeren nicht wie im Verein als Rechtsaußen, sondern als rechten Läufer aufstellen – schräg hinter Walter, wo der wendige und laufstarke Eckel dem Ballkünstler den Rücken frei hielt. „Wir verstanden uns blind“, sagt Eckel, „wir waren wie eine Einheit.“

Horst Eckel ist längst gesamtdeutsche Ikone, fehlte bis ins hohe Alter auf keinem Benefizspiel und war auch da voll bei der Sache. Bei der Auslosung der WM-Spiele 2006 drosch er einen Fußball wie zu besten Zeiten in die Ränge. Seit Jahren führt er die Arbeit der Sepp-Herberger-Stiftung für den verstorbenen Fritz Walter fort. Am Mittwoch ehrt der DFB den Jüngsten seiner ersten Weltmeister. Theo Zwanziger und Wolfgang Niersbach kommen nach Kaiserslautern, zusammen mit 200 weiteren Ehrengästen. Man darf davon ausgehen, dass Horst Eckel froh ist, wenn der ganze Trubel wieder vorbei ist.

Schenkel kneten und Wuttke suchen

– Beim 1. FC Kaiserslautern hat Heinz Bossert in 39 Jahren als Masseur und Teambetreuer viel erlebt – Diskretion Ehrensache

Kaiserslautern (dapd). (Jeder Bundesligist hat sie: Langjährige Mitarbeiter, die jeder kennt und jeder mag, die im menschlichen Miteinander des Vereins eine wichtige Rolle spielen. Jeden Donnerstag stellt dapd einen vor: Die guten Seelen der Liga. Heute: Heinz Bossert, Masseur und Teambetreuer beim 1. FC Kaiserslautern.)

Los ging das Ganze für Heinz Bossert schon mal damit, dass er für die Falschen jubelte.

Die Siebzigerjahre stehen in voller Blüte, erfolgreichen Fußball spielt Bayern München, den großen Sport aber zelebriert die Borussia aus Mönchengladbach. Als der Fohlen-Elf auf dem Betzenberg das frühe 1:0 gelingt, springt Bossert begeistert auf und klatscht Beifall. Kaiserslauterns Trainer Erich Ribbeck zieht seinen jungen Masseur mit einem Ruck wieder auf die Bank zurück, auf der sie mit den Lauterer Ersatzspielern sitzen. „Was soll das?“, zischt Ribbeck.

„Ich habe ihm erklärt, dass ich schon ein bisschen ein Gladbach-Fan war. Das war doch eine Riesenmannschaft“, sagt Bossert. Mehr als drei Jahrzehnte später sitzt der 66-Jährige in einem der Medienräume des Fritz-Walter-Stadions und kann über die Anekdote lächeln.

Bossert, groß und drahtig, Händedruck wie ein Schraubstock, erzählt in breitem Pfälzisch, 1:0 ist „ännsnull“, jedes „r“ ein kleines Donnergrollen. Ach was, Ärger eingebracht habe ihm der naive Jubel beim ersten Mal nicht, sagt er. Er sei ja trotzdem überzeugter Lauterer gewesen, wie auch nicht, wenn man aus Hochspeyer kommt, nur elf Kilometer außerhalb der Stadt. „Ich war immer schon FCK“, sagt Heinz Bossert. „Es gibt ja nix anderes hier.“

Fester Platz im Sonderheft

Vor mittlerweile 38 Jahren kam er zum 1. FC Kaiserslautern, seit 1989 ist er fest und nur noch für die Profi-Mannschaft als Masseur angestellt. Es habe ihn irgendwann halt mal der Werner Mangold gefragt, sagt Bossert. Mangold, in den 50ern Mitspieler von Fritz Walter, war später Lauterer Amateur-Trainer. Und so sahen Generationen von FCK-Fans im „kicker“-Sonderheft neben dem Mannschaftsfoto Jahr für Jahr die Zeile „Masseure Bossert, Loch“.

38 Jahre, das scheint ein krisensicherer Job zu sein. „Ich weiß nicht, ob der krisensicher ist, bei dem, was man so hört“, wiegelt Bossert ab. Heutzutage würden ja manche Trainer gleich ihr komplettes Funktionsteam mitbringen, die alten flögen dann raus. „Die wechseln ja mittlerweile schon mit Ablösesummen!“ Bossert schüttelt den Kopf, schweigt dann kurz. „Aber im Großen und Ganzen“, hebt er dann wieder an, „wenn man sich immer ein bisschen ruhig verhält, funktioniert das schon.“

Diskretion, klar, die sei mit das Wichtigste. „Die Spieler sagen einem schon einiges, das darf man nicht nach außen bringen“, sagt Bossert. Und mit den Jungs um die Häuser ziehen, das habe es bei ihm eh nicht gegeben, „da macht man sich angreifbar“. Andererseits müsse der Trainer immer Bescheid wissen über Verletzungen, selbst wenn die Profis sie gerne verheimlichen würden. „Das bringt ja nix“, sagt Bossert.

Zum Wuttke-Suchen losgeschickt

Im Laufe der Jahre hat er so manchen Schenkel geknetet und so manche Geschichte erlebt. Mit Typen wie Mario Basler („das war ein Unikum“) oder Wolfram Wuttke, dem legendären Eigenbrötler. „Ja, der Wutti, der wollte nach den Spielen nie trainieren“, sagt Bossert. Und wenn Wutti sich mal wieder krankgemeldet hatte, wurde eben der Masseur vom Trainer losgeschickt. „Einmal kam er gerade im Trainingsanzug aus dem Wald“, sagt Bossert. „Ein andermal war er Tennis spielen.“

Verlängerter Trainer-Arm, Psychologe für formschwache Akteure, und als Arbeitsplatz ein paar Quadratmeter in den Katakomben, „ganz unten im Keller. Da waren zwei Massagebänke, fünf Idealbinden oben auf der Fensterbank – und eine Flasche Öl.“ Ein Knochenjob. Noch am Abend vor jedem Spiel mussten Bossert und Kollege Heinrich Loch die komplette Mannschaft durchkneten, wie es damals eben üblich war.

Vieles hat sich seitdem geändert. Seit er 2009 mit der Massiererei aufgehört hat, mischt Bossert den Kaiserslauterer Profis die passenden Elektrolyt-Getränke für die Zeit vor, während und nach dem Training an. Eine kleine Wissenschaft für sich. Was die Spieler vor 30 Jahren beim Training getrunken hätten? „Gar nix“, sagt Bossert. „Während des Trainings durften die gar nix trinken. Die hatten oft Schaum vor dem Mund und sind richtig aggressiv geworden.“ Er schüttelt den Kopf. „Trocken trainieren“, das sei damals die Lehrmeinung gewesen.

Im Laufe der Jahre hat Heinz Bossert einiges an Auf und Ab mitgemacht. Meisterschaften, Pokalsiege, Abstiege. Insgesamt „mehr schöne als schlechte“ Zeiten, wie er betont. „Ganz schlimm war’s in Leverkusen und Wolfsburg, als wir abgestiegen sind. Erst einen Tag später merkt man, was da passiert ist.“ Auch für den Masseur war die Zweite Liga ein schwerer Gang. Es sei noch einmal rauer zugegangen auf dem Platz. „Da gab’s mehr zu tun, das war schon so.“

Das alles schweißt zusammen. „Man verliert und gewinnt miteinander“, sagt Bossert, der längst unzertrennlicher Teil der Mannschaft ist. Deshalb weiß Heinz Bossert auch noch nicht genau, wann Schluss ist. Eigentlich will er kommenden Mai aufhören. Aber nur, wenn der FCK nicht zum dritten Mal absteigt. „Dann hänge ich noch ein Jahr dran, wenn sie das wollen“, sagt Bossert. So will man ja nicht abtreten.

Keeper in der Krise: Der Fall des Tobias Sippel

– Flüchten oder Kämpfen? Kaiserslauterns Torwart steht am Scheideweg

Berlin/Kaiserslautern (dapd). Tobias Sippel ist ganz schön gealtert seit März, rein äußerlich jedenfalls. Er hat sich die ehemals strähnigen Haare raspelkurz abgeschnitten und sich einen Stoppelbart wachsen lassen. Nun sieht Sippel, 23 Jahre alt, eher nach Ende als nach Anfang zwanzig aus. Vom offiziellen Spielerfoto der Saison 2011/12 blickt der Torwart des 1. FC Kaiserslautern einen unter grimmigen Brauen an, den Mund missmutig nach unten verzogen.

Tobias Sippel ist nicht glücklich derzeit. Dem jungen Mann droht schon jetzt eine Midlife-Crisis als Profi.

Rückblende: Anfang März war der langhaarige und glattrasierte Sippel noch Kaiserslauterns strahlender erster Torwart. Im Derby bei Eintracht Frankfurt bestritt er sein 98. Ligaspiel als Profi für den Verein, zu dem er damals als Zehnjähriger gekommen war. Dann bekam Sippel die Grippe, er verpasste zwei wichtige Spiele, die sein Klub beide gewann. Und fortan war Tobias Sippel ein Banktorwart.

Nicht mal mehr zweiter Keeper

Seit Anfang Juli ist Sippel zusätzlich ein Banktorwart, der es mit einer Alkohol-Fahrt auf die Seite eins der „Bild“ geschafft hat. Das hat ihm neun Monate Taxifahren und 36.000 Euro Geldstrafe durch die Staatsanwaltschaft eingebracht, sowie eine nicht näher bestimmte vereinsinterne Strafe.

Am vergangenen Wochenende wurde Sippel dann aus dem Kader der Pfälzer für das Pokalspiel in Berlin gestrichen, „aus disziplinarischen Gründen und für dieses eine Spiel“, wie Trainer Marco Kurz mitteilte. Tobias Sippel, im Mai 2010 im Kader der Nationalmannschaft, war plötzlich nicht mal mehr zweiter Keeper in Lautern.

Im Fußballdorf Kaiserslautern, wo jede Wand vier Ohren und acht Augen hat, wird seitdem eifrig über Sippels Nachtleben debattiert. Jeder will ihn woanders gesehen haben, meist natürlich ziemlich betrunken. Nur Gerüchte, heiße Luft, die in anonymen Internetforen verblasen wird. Dennoch war der Wind, der Sippel um die Nase weht, schon mal schwächer.

„Nicht unbedingt motivationsfördernd“

„Natürlich ist das nicht unbedingt motivationsfördernd“, sagt Sippels Berater Michael Becker zur Degradierung seines Schützlings für ein Spiel. „Aber ein Profi muss eben auch manchmal Sachen, die er nicht versteht, respektieren.“ Becker sagt, er wisse ebenfalls nicht, wofür Sippel genau bestraft worden sei: „Vielleicht wollte man ihm Zeit zum Nachdenken geben.“

Nachgedacht haben könnte Sippel unter anderem über die sich bietenden Alternativen: Lässt er sich als Nummer zwei hinter Kevin Trapp hängen? Dann droht im schlimmsten Fall der komplette Karriereknick. Oder hängt er sich rein, auch auf die Gefahr, dass er an Trapp nicht vorbeikommt und ein Jahr oder länger Frust schiebt?

Ein Wechsel oder eine Ausleihe zu einem anderen Klub, bis Ende August wäre dieser noch möglich, steht offenbar nicht zur Debatte. Er wisse von keinem Angebot, sagt Berater Becker: „Der Markt ist jetzt zu.“ Die Torwartpositionen in der Bundesliga sind verteilt.

Beckers Traumszenario hat sich zerschlagen

Becker ist dieser Tage nicht der glücklichste aller Berater. Nicht genug, dass alle wieder einmal auf seinem Kronjuwel Michael Ballack herumhacken, auch die Situation in Kaiserslautern ist für ihn aus Beratersicht ungünstig. Denn Kevin Trapp steht ebenfalls bei dem Rechtsanwalt mit Sitz in Luxemburg unter Vertrag. Einer seiner talentierten Tormänner wird also in jedem Fall auf der Bank sitzen und an Marktwert verlieren. Beide Keeper haben noch einen Vertrag bis 2013.

Beckers Traumszenario hat sich im Frühsommer zerschlagen. Trapp hätte für eine hübsche Millionensumme als Neuer-Nachfolger zu Schalke 04 wechseln sollen, Sippel wäre kampflos zur Nummer eins in Lautern aufgestiegen. Doch daraus wurde nichts. „Ich muss nicht jede Entscheidung von Stefan Kuntz verstehen“, sagt Becker knapp.

Nur ändern lässt sich erst einmal nichts, weder für Becker noch für Sippel. Seinem unglücklichen Torwart rät der Berater daher, ruhig zu bleiben: „Er soll die Situation akzeptieren, so was kommt vor.“

Eine Grippe, die alles verändern kann, hat man sich schließlich schnell mal eingefangen.

Wenn das Kartenhaus zerfällt

– Oberligist BFC Dynamo steht nach der Fan-Gewalt unter „Schockstarre“ – Polizei bemängelt Absprachen

Berlin (dapd). Am Tag danach lag eine unwirkliche Friedlichkeit über dem Verein. Ein knuffiger Plüsch-Teddybär im Vereinsshirt wurde auf der Webseite des BFC Dynamo zum Verkauf angeboten, die vier Flutlichtgiraffen des Jahnsportparks trotzten still und eisern dem Berliner Nieselregen. „Das größte Gut des Vereins sind seine Fans“, hat ein BFC-Fan über seine Webseite geschrieben. Am Samstagabend hat sich dieses Gut in die größte Last verwandelt.

Um die 100 Randalierer hatten nach dem Pokalspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern den Gästeblock gestürmt und wahllos um sich geschlagen. Verletzte gab es nicht nur unter den Lauterer Fans. „Es ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die in letzter Zeit an der Vereinsarbeit beteiligt waren“, sagte der Fanbeauftragte Rainer Lüdtke der dapd am Sonntag. „Man merkt bei allen eine Schockstarre. Ich persönlich dachte, wir sind viel weiter.“

„Gesichter, die ich nie zuvor gesehen habe“

Lüdtke, ser seit 14 Jahren ehrenamtlicher Fanbeauftragter von Dynamo ist, sucht nach der Katastrophe nach Gründen. Es bleiben vor allem viele Fragezeichen stehen. „Das waren Gesichter, die ich nie zuvor gesehen habe. Leute in BFC-Klamotten, die ich gar nicht kenne“, sagt Lüdtke über die Gewalttäter. „Ich habe auf einem Foto gesehen, dass mehrere auf einen einschlugen. Das sind Sachen, die ich seit zehn Jahren nicht bei uns gesehen habe.“ Lüdtke wähnte den BFC Dynamo auf dem Weg in eine bessere Zukunft.

Trügerische Hoffnung: Schon sehr lange hatte es kein Spiel mehr gegeben mit so vielen Gästefans. Rund 2.000 sollen es gewesen sein. Die insgesamt über 10.100 Besucher waren eine neue Rekordkulisse für Dynamo bei einem Heimspiel nach der Wende. Das Gastspiel des Bundesligisten war offenbar eine attraktive Plattform, um auch Leute anzulocken, „sogenannte BFC-ler“, wie Lüdtke sie nennt, die mehr auf Krawall als auf Fußball aus waren.

„Es waren zwischen 250 und 300 Personen, die Krach gesucht haben“, teilte die Berliner Polizei auf dapd-Anfrage am Sonntag mit. Wie ein Teil von ihnen praktisch ungestört von der Gegengeraden durch leere Blöcke hinüber zum Gästebereich gelangen konnte, dahinter steht ein weiteres Fragezeichen. Laut Lüdtke ist ein ungefähr ein Meter hohes Rolltor am Ende der Gegengeraden nach Schlusspfiff nicht ausreichend mit Ordnern besetzt gewesen. „Wenn die ersten auf dem Weg sind, ist es wie ein Kartenhaus, das zusammenfällt. Es gibt dann die Mitläufer“, sagt Lüdtke.

Polizei: „Wir standen vor verschlossenen Toren“

Die Polizei bestätigte, dass der Durchbruch des Fans auf ein Verschulden der Ordner zurückzuführen war. Eine Auswertung habe ergeben, „dass Maßnahmen des Ordnerdienstes, teilweise entgegen vorheriger Absprachen mit der Polizei, zu den Problemen geführt bzw. den Verlauf begünstigt haben“, hieß es in einer Mitteilung. Dies habe der für die Ordner Verantwortliche eingeräumt.

Warum aber bei einer als „Risikospiel“ eingestuften Partie nicht von vornherein Beamte zwischen den Gästen aus Kaiserslautern und den berüchtigten BFC-Fans platziert waren, ist zumindest verwunderlich. Generell sei zunächst der vereinseigene Ordnungsdienst für die Lage im Stadion verantwortlich, sagte die Polizei. „Erst wenn es zu Straftaten kommt, schreiten wir ein.“ In diesem Fall zu spät. Im Lauterer Block war bereits Panik ausgebrochen.

Die Schadensfälle konnte die Polizei am Sonntag genau beziffern: 18 verletzte Polizisten, zwei im Krankenhaus Behandelte, Strafverfahren gegen 50 Personen. Der Schaden am ohnehin ramponierten Image des Vereins lässt sich schwerer bemessen. Rainer Lüdtke überlegt, sein Amt aufzugeben: „Irgendwann fehlt die Kraft.“

Am frühen Sonntagnachmittag war dann auf der offiziellen Internetpräsenz des BFC Dynamo nichts weiter als ein ausführlicher Entschuldigungsbrief an den Bundesligisten zu lesen. Wo morgens noch der Teddy lächelte, stand nun: „Leider, leider endete ein schönes Spiel mit einer zu 99 Prozent friedlichen Kulisse in einem Albtraum.“ An ruhigen Schlaf ist in nächster Zeit wohl weder für die Vereinsverantwortlichen noch für die Opfer zu denken.

Der Mann, der die Bayern erschoss

Josef »Seppl« Pirrung
* 24. Juli 1949 † 11. Februar 2011

Mächtig steht er an der eigenen Strafraumgrenze, der
Bayern-Verteidiger Bulle Roth. Nimmt jetzt den kurzen Ball von Sepp
Maier an. 3:0 führt der FC Bayern auf dem Betzenberg, gleich ist
Pause. Während Roth, diese fleischgewordene turmhohe Überlegenheit,
noch grübelt, wem er die Kugel jetzt lässig zuschieben kann, hat sich
schon der kleine Spieler mit der Nummer acht auf dem Rücken von hinten
angepirscht. Zack, der Ball ist weg, Roth fällt um wie ein Baum – und
es steht 1:3. Eine Stunde später ist der größte Sieg der
Kaiserslauterer Vereinsgeschichte perfekt. 7:4 gegen die Bayern. Und
der Mann mit der Nummer acht, Josef Pirrung, den die Kaiserslauterer
Seppl rufen, hat drei Tore erzielt.

Drei rote und drei weiße Nelken bekommt er 1981 zum Abschied nach 14
Jahren. »Das war alles«, sagt Pirrung später bitter über den Affront.
Der Klub und sein 304-facher Bundesligaspieler trennen sich in
Unfrieden. Es geht um Geld, schon damals.

14 Jahre spielt der Mann aus Münchweiler im roten Trikot. 14 Jahre, in
denen sich der 1. FC Kaiserslautern vom Image der reinen Kloppertruppe
löst – und beginnt, Fußball zu spielen. Seppl Pirrung verkörpert
diesen neuen FCK: Wendig, aber auch bissig. Dribbelstark, aber auch
torgefährlich. Klein, aber nie zu unterschätzen. Wie viele von
Toppmöllers 108 Toren hat Pirrung direkt oder indirekt über die
Außenbahn eingeleitet?

Pirrung bewuselt das Spielfeld zu einer Zeit, als Künstler wie er
Freiwild sind für die Verteidiger. Sie treten ihn, schon in der
Jugend, immer wieder. Bis die Knochen brechen. Schienbein. Wadenbein.
Einmal, zweimal, dreimal. Drei Zentimeter kürzer ist sein rechtes Bein
fortan. Zeit seines Lebens plagt sich der geniale Tänzer mit den
Schmerzen, mit denen die Banausen ihn bestraft haben. Wenn er sich
wieder einmal auf dem Rasen krümmt, dann springen die Rentner auf der
Nordtribüne auf und schwenken zornig ihre Stöcke. »Seppl, Seppl«, ruft
dann das Stadion. Und der kleine Mann steht wieder auf.

1973/74, das Jahr, in dem er die Bayern erschoss, es ist sein Jahr. 13
Tore, sechs Vorlagen. Zahlen, die nur unzureichend die Begeisterung
wiedergeben, die Seppl Pirrung auf dem Betzenberg entfacht. Am Ende
jener glorreichen Spielzeit wollen ihn die Bayern kaufen. Pirrung
bleibt. Bundestrainer Helmut Schön beruft ihn in den vorläufigen Kader
für die WM im eigenen Land. Unter den 22 Auserwählten ist er nicht,
dafür unter den wenigen Lauterern, die überhaupt je ein Länderspiel
bestritten haben.

61 Tore schießt er für den 1. FC Kaiserslautern – für jedes ist ihm
nur ein Lebensjahr vergönnt. Am Tag vor dem Spiel seines Vereins gegen
Borussia Dortmund stirbt er nach langer schwerer Krankheit. Noch
einmal blinzelt sein verschmitztes Gesicht auf der Anzeigetafel. Da
oben, wo Seppl Pirrung einst die Bayern erschoss. (11FREUNDE)

Friedrich der Große

– Mythos Fritz Walter – eine Annäherung (11FREUNDE Sonderheft „Die 50er“)

Es sind die Worte der Anderen, die aus Menschen Mythen machen: „Es gibt drei Gründungsväter der Bundesrepublik: politisch ist es Adenauer, wirtschaftlich Erhard und mental Fritz Walter.“ Der Historiker Joachim Fest verlegte das Gründungsdatum der Bonner Republik vom 23. Mai 1949 kurzerhand auf den 4. Juli 1954 – den Tag des WM-Endspiels von Bern. Ab diesem Tag war Deutschland wieder wer. Laut Fest: vor allem dank Fritz Walter.

Unzweifelhaft ist Kaiserslauterns berühmtester Sohn eine der am meisten verehrten wie verklärten Persönlichkeiten der deutschen Sportgeschichte. Fritz Walters Leben und Wirken wurde hundertfach erzählt und auf Überlebensgröße potenziert. Pfälzer Heiligtum ist er ohnehin, dazu Jahrhundertfußballer, Vorzeigecharakter und für nicht wenige eben auch nationaler Sinnstifter. Aber vor allem natürlich: Bern. Immer wieder Bern. Herberger taktierte, Turek parierte, Rahn traf – und doch ist das Wunder von Bern für alle das Wunder von Fritz Walter.

Doch wer war dieser Mann wirklich, wie dachte, wie fühlte er, wie spielte er das Spiel, das die Massen wie kein zweites in seinen Bann zieht?

Es ist keine leichte Aufgabe, den gigantischen Mythos zu durchdringen, mit der Fritz Walter in dem halben Jahrhundert seit Bern umhüllt worden ist. Es ist ein Mythos, der durch Tradition entstanden ist, durch mündliche und schriftliche Überlieferung zwischen den Generationen und dadurch, dass die spärlichen Bilder, die es aus Walters aktiver Zeit überhaupt noch gibt, immer und immer wieder über die Bildschirme geflimmert sind und ausschließlich triumphale Momente zeigen. Alle Legenden sind auf Fritz Walter zugeschnitten, er ist im öffentlichen Bild zum Inbegriff des edlen Kriegers und verlässlichen Gefährten geworden. Doch was befindet sich unter dem Heldengewand?

Reisen wir zunächst zum Ursprung des Walterschen Weltruhms, nach Bern. Der Kalender steht auf ebenjenem denkwürdigen 4. Juli 1954, die Zeiger der Stadionuhr gehen auf sieben Uhr zu. Der Mann mit dem durchweichten weißen Hemd schaut ehrfürchtig hinauf zum Rednerpult. Mit einem tiefen Diener ergreift er die Hand, die ihm vom Gratulanten im feinen Anzug, Fifa-Präsident Jules Rimet, gereicht wird. Das Haar, zwei Stunden zuvor noch sorgfältig aus der Stirn frisiert, hängt Fritz Walter nun in dunklen, nassen Strähnen bis über die Augenbrauen. Mit schleppendem Gang und gebeugten Schultern schleicht der pitschnasse Kapitän hinüber zu seiner Mannschaft. In der rechten Hand hält er den schlanken Goldpokal.

Geht so ein Sieger?

Am Spalier seiner Mitstreiter vorbei erreicht er Sepp Herberger, den trenchcoattragenden Vater dieses Erfolgs. Ihm will er die Trophäe in die Hand drücken, diese ungeheure Last. Doch der Chef will davon nichts wissen, er dreht seinen besten Spieler in einer energischen, fast barschen Geste am Arm halb um die eigene Achse. Fritz Walter muss nun Fotografen, Offiziellen, den Massen auf der Tribüne direkt in die Augen sehen. Die Öffentlichkeit wird ihren Blick nicht mehr abwenden. Der durchnässte Mann mit den traurigen Augen ist – auf ewig – der Weltmeister aller Deutschen.

Der Fußball der fünfziger Jahre ist durchtränkt von einem Geist der Bescheidenheit, den wir heute nicht mehr kennen. Doch Fritz Walter wirkt nicht nur in dieser Szene noch einmal wie ein Anachronismus seiner Zeit, wie ein Überbleibsel aus einer anderen Generation, die schon damals eigentlich nicht mehr existierte. Den höchsten Triumph, den ein Fußballspieler erreichen kann, nimmt er nicht ohne Stolz hin, aber mehr noch mit der für ihn typischen Schicksalsergebenheit, mit seiner charakteristischen, bisweilen an Selbstverleugnung grenzenden Demut. „Soll ich mich entschuldigen, dass wir gewonnen haben?“, fragt er einen Begleiter Jahrzehnte später, bevor er auf dem 70. Geburtstag von Ferenc Puskas sprechen soll. Schließlich sagt der Weltmeister zu den Besiegten: „Es wäre doch schön gewesen, wenn wir beide gewonnen hätten!“

Es ist keine Altersmilde, die ihn diese Worte sprechen lässt. Walter war stets eher fairer Sportsmann statt unerbittlicher Wettkämpfer. Der Turm in der Schlacht, ein unverwüstlicher Kämpfer oder nimmermüder Antreiber ist er nie gewesen. Im Innensturm des FCK und der Nationalelf spielte vielmehr ein fragiler Ästhet, der jederzeit mit einer Ballberührung, mit einer intuitiven Körpertäuschung das Spiel entscheiden konnte, in anderen Phasen aber auch unter der Last der Verantwortung schier zusammenzubrechen drohte. „Vor jedem wichtigen Spiel musste ich ihm symbolisch in den Hintern treten“, sagte sein Bruder Ottmar später.

Nicht nur vorab in der Kabine, sondern nicht selten auch mitten auf dem Platz – wie am 30. Juni 1951 im Berliner Olympiastadion. Der 1. FC Kaiserslautern liegt im Finale um die Deutsche Meisterschaft 0:1 gegen Preußen Münster zurück. Und Fritz Walter möchte verzagen. Also packt Ottmar Walter seinen älteren Bruder vor 85.000 Menschen an den Schultern, er zerrt und rüttelt an ihm. Er schreit ihm direkt ins Gesicht. „Stell dich nicht so an, Friedrich! Es ist doch überhaupt nichts verloren!“ Fritz Walter nickt und wirkt doch wenig überzeugt. Seine Haltung gekrümmt, kein Glaube an die Wende. Doch Bruder Ottmar, zwar jünger, doch immer auch größer, athletischer, überzeugter, lässt nicht locker. „Auf geht’s, Friedrich!“

Wenige Minuten später spurtet der Gescholtene mit dem Ball am Fuß über die Mittellinie, passt den Ball im letzten Moment nach rechts, zum anderen Walter, dem nie verzagenden Kämpfer im Schlagschatten der Lichtgestalt. Ottmars präziser Flachschuss schießt knapp über der Grasnarbe zum Ausgleich ins Netz. Am Ende steht der erste Meistertitel des 1. FC Kaiserslautern.

„Fritz brauchte diese Art von Aufmunterung, sonst wäre er in seinem Trott eingeschlafen“, sagt Helmut Rasch, der rechte Verteidiger der FCK-Meistermannschaft von 1951, der die Szene gut in Erinnerung hat. Erst wenn es lief, bei ihm und der Mannschaft, habe der Ballvirtuose sein ganzes Repertoire abrufen können: Finten, Dribblings, punktgenaue Pässe. Wie weggeblasen waren dann die lästigen Selbstzweifel, endlich ausgeblendet die ungeduldige, zehntausendfache Erwartung von den Rängen.

An Niederlagen trägt der hypersensible Sportsmann schwer, grämt sich tagelang. Im Oktober 1952 will er nach einer 1:3-Schlappe gegen Frankreich seine Karriere im DFB-Trikot beenden. Doch Sepp Herberger, der für Walter nicht nur Bundestrainer sondern unfehlbare Vaterfigur ist, winkt ab. Und Walter macht weiter – in stetem Gehorsam zum „Chef“. Einen Monat später führt er die deutsche Mannschaft in genialer Manier zu einem 5:1-Sieg gegen die Schweiz. Dennoch reist Fritz Walter auch zur WM 1954 voller Skepsis. Seine Frau Italia sieht sich genötigt, ihm einen Brief nachzusenden. Aufmunternde, Mut machende Zeilen, die Walter während des gesamten Turniers im Nachttischschränkchen aufbewahrt. „Lieber Schnuckelino…“, so beginnen die Zeilen, die er jeden Morgen als allererste liest.

Vielleicht spüren die Menschen um ihn herum diese Verletzlichkeit und Demut, die ihn jeden Sieg ungläubig, gleich einem Geschenk, in Empfang nehmen lässt.

Eine Demut vor dem Leben, vor den Menschen, die auch von der „großen Scheiße“ geprägt ist, wie Altkanzler Helmut Schmidt, zwei Jahre älter als Walter, den Weltkrieg typischerweise nennt. 319.000 Männer, die wie Walter 1920 geboren werden, sterben durch den Krieg – vier von zehn seiner Altersgenossen werden die fünfziger Jahre nicht erleben. Für Fritz Walter jedoch spielt der Fußball Schicksal. Herberger setzt sich zunächst für seine Abberufung von der Infanterie zur Soldatenmannschaft „Rote Jäger“ ein, die zwecks Truppenunterhaltung gegen den Ball tritt. Nach Kriegsende bleibt Walter der Abtransport in den sowjetischen Osten erspart, weil sich ungarische Lagersoldaten an seine Tricks beim 5:3 in Budapest vor dem Krieg erinnern. Ottmar dagegen ist im Ärmelkanal schwer verwundet worden, Horst Eckel hat seinen älteren Bruder an den Krieg verloren, der Vater der Liebrich-Brüder wurde als Kommunist interniert.

Es ist eine gezeichnete Generation, der Walter als Gallionsfigur vorsteht. Diese Männer wollen in den Jahren nach 1945 von Politik nichts wissen – und haben ein allenfalls verschämtes Nationalbewusstsein. Als in Bern das Deutschlandlied erklingt, schweigen Spieler und Trainer ausnahmslos, Fritz Walter steht mit verkniffenem Blick in der Reihe seiner Sportkameraden. Erst nach dem Finale von 1954 setzt der Umbruch ein. Uwe Seeler, Jahrgang 1936, debütiert im ersten Spiel nach der WM. Es kommt die Zeit derer, die fröhlich „Im Frühtau zu Berge“ pfeifend für ein Rasierwasser Reklame machen können. Den „54ern“ jedoch, den älteren unter ihnen zumal, wohnt ein heiliger Ernst inne. „Helden?“, pflegte Fritz Walter zu sagen, „Helden fallen im Krieg“.

Für Millionen Deutsche jedoch, die nach dem Krieg nach neuen, unpolitischen Vorbildern suchen, ist er genau das: ein Held. Hans-Christian Ströbele, heute Bundestagsabgeordneter der Grünen, lernt sein Idol als Steppke an der Hand seines Onkels kennen. Der heißt Herbert Zimmermann und ist als Finalreporter die Stimme zum WM-Triumph in der Schweiz. Ströbele erinnert sich an die Nähe, die damals zwischen Bewunderern und Bewunderten noch herrschen konnte. „Das waren alles normale Leute, von denen man sich auch vorstellen konnte, dass man ihnen einfach so auf der Straße begegnet. Sie waren zwar unsere Helden, aber keine abgehobenen Stars.“ Auch deshalb will er von Festschen Gründerthesen nichts wissen. „Ich glaube, wenn man mit Fritz Walter darüber reden könnte, wäre er überhaupt nicht erfreut. Diese Leute wollten Fußball spielen, ehrlich und fair, aber auch nicht mehr als das.“

Doch welchen Fußball spielte Fritz Walter eigentlich, was zeichnete ihn auf dem Platz aus? Beim Versuch, die fußballkünstlerische Genialität zu begreifen, die Ströbele wie Millionen andere faszinierte, können wir nicht, wie bei den heutigen Stars und Sternchen, auf fetzige YouTube-Kompilationen mit den tollsten Tricks und schönsten Toren zurückgreifen. Es sind die Worte der Anderen, auf die wir uns verlassen müssen – die Urteile derer, die dabei waren.

„Fritz war vorne im Dreck, ihm standen die Verteidiger ständig auf den Füßen“, sagt der damalige FCK-Keeper Willi Hölz und fügt hinzu, dass man Walters Fertigkeiten nicht hoch genug bewerten könne, alleine wegen der Position im offensiven Fünfer-Zickzack, die ihm das damals praktizierte WM-System zuschrieb. „Beckenbauer war dagegen hinten fein raus war und ließ andere die Drecksarbeit machen“, so Hölz. „Fritz bewegte sich anders als alle anderen, seine Beweglichkeit und Anlage, den Gegner zu täuschen, waren unnachahmlich. Er war immer ein, zwei Spielzüge voraus.“ Dazu habe ihn eine fast chirurgische Präzision bei ruhenden Bällen ausgezeichnet.

In wohl keinem Spiel offenbart sich diese Gabe in größerem Maße als beim WM-Halbfinale 1954 gegen Österreich. Deutschlands Kapitän ist beim 6:1-Sieg an fünf von sechs Toren beteiligt. Zwei auf den Punkt geschlagene Walter-Ecken verwerten Max Morlock und Ottmar, eine weitere Flanke gleich zu Beginn Hans Schäfer. Und zwei Mal verwandelt der deutsche Spielmacher selbst, jeweils vom Elfmeterpunkt und jeweils mit schlafwandlerischer Sicherheit. Die Fritz-Walter-Gala im Sankt-Jakob-Park macht alles erst möglich: Rahn-Tor, Zimmermann-Ekstase, Bern-Wunder.

Es ist eine Gala, die auf akribische Trainingsarbeit zurückzuführen ist. „Trotz aller Erfolge und seiner großen Berühmtheit trainierte Fritz am härtesten von uns allen“, erinnert sich Horst Eckel. „Er versuchte ständig, sich weiter zu verbessern.“ Im Verein wie in der Nationalmannschaft schiebt Walter ungezählte Sonderschichten, übt Ecken, Freistöße, schult am „vernagelten Tor“, einem Vorläufer der ZDF-Torwand, seine Schussgenauigkeit. Sagenhafte neun Treffer bei zehn Versuchen in die Öffnungen, die kaum größer sind als der Ball selber, attestiert ihm das „Sportmagazin“ bei einem Besuch auf dem Trainingsplatz im Februar 1953.

Sein technisches Meisterstück legt Fritz Walter im Oktober 1956 im Leipziger Zentralstadion ab, beim deutschdeutschen Vergleich mit Wismut Karl-Marx-Stadt. 120.000 Menschen schauen dem FCK-Kapitän dabei zu, wie er eine Ecke im Flug mit der rechten Hacke in den Winkel schlägt. Nur seine Mitspieler wissen, dass dem Kunststück unzählige Fehlversuche auf dem Ascheplatz am Betzenberg vorausgegangen sind. „Die Bälle landeten überall, nur nicht im Tor“, erinnert sich Helmut Rasch. „Und dann“, schwärmt Rasch, „hat er den Mut, das vor hunderttausend Leuten zu machen!“ Ein schier unmöglicher Treffer, der durch miserables Flutlicht und einen dichten Regenschleier zusätzlich erschwert wurde.

Doch der Regen ist Fritz Walters bester Freund. Wenn es schüttet wie aus Eimern, Ball und Rasen glitschig sind, als seien sie mit Schmierseife überzogen, kann er seine unvergleichliche Ballbehandlung in einen noch größeren Vorteil ummünzen als sonst. Es ist das Wetter, das nach ihm benannt wird.

So wie das Stadion, in dem er schon mit kaum zwölf Jahren die Kaiserslauterer begeisterte. Schon in den Dreißigern gingen die Leute ein paar Stunden eher ins Stadion, um „’s kläh Fritzje“ zu sehen. Hagen Leopold, der für die „Initiative Leidenschaft FCK“ tausende Exponate aus der Walter-Zeit aufgespürt hat, kennt diese und unzählige andere Anekdoten aus jener Zeit. „Schon vor dem Krieg war ein Bild vom FCK entstanden, das immer nur die Führungsperson Fritz Walter kannte“, sagt er.

Ab 1945 dann, Kaiserslautern liegt in Trümmern, schart Fritz Walter die alten Kameraden um sich. Er ist der selbstverständliche Vater der „FCK-Familie“, mit kleinen Gesten weckt er lebenslange Loyalität. Als der blutjunge Horst Eckel Anfang 1950 zum ersten Mal bei den Profis mittrainieren darf, wählt er ihn beim abschließenden Spielchen als allerersten in seine Mannschaft. „Ich dachte, er will mich einfach aufmuntern, aber das machte er dann bei jedem Training“, erinnert sich Eckel.

So wie Eckel zu ihm emporblickt, so schaut Walter Zeit seines Lebens zu Sepp Herberger auf. In seiner steten Beziehung zum Bundestrainer, der 1948 gar sein Trauzeuge wird, zeigt sich ein Grundzug des Walterschen Charakters. „Ich bin mein Leben lang Mensch geblieben“, sagt er oft über sich. Das bedeutet vor allem: Fritz Walter ist sein Leben lang der gleiche Mensch geblieben. In Kaiserslautern ist er, der „zeitlose Antistar“, wie ihn die „Neue Zürcher Zeitung“ einst nannte, über die Jahre unverändert der Mann von nebenan, der Wäscherei- und Kinobesitzer. In der kleinen Pfälzerstadt dreht sich keiner um, wenn er mit Italia durch die Innenstadt schlendert, und niemand schaut verwundert, wenn er am Einlass seines „Universum“ steht und geduldig die Karten abreißt.

„Er hat nie den Frisör oder Metzger gewechselt“, sagt Hans-Peter Schössler. Für den heutigen Chef von Lotto Rheinland-Pfalz mündete die langjährige berufliche Zusammenarbeit mit dem DFB-Ehrenspielführer in eine enge Freundschaft. „Fritz hatte für alle ein liebes, aufmunterndes Wort“, so Schössler. „Einen solchen Menschen musste man einfach mögen.“

Fritz Walter, der Mann von nebenan. So vertraut ist er, der Fritz, den Leuten, dass paradoxerweise die Langform seines Namens zur intimen Anrede wird. Friedrich, so nennen ihn nur enge Freunde.

Die Kehrseite der Gutmütigkeit: Das Wörtchen „nein“ ist ihm fremd. Selbst im hohen Alter noch signiert der Fußballstar von einst Sektflaschen, Bücher und Sponsorenpost, stapelweise, stunden- und tagelang.

Bei aller Bescheidenheit schafft der begnadete Erzähler Walter sich selbst mit den zahlreichen Veröffentlichungen unter seinem Namen schon früh einen mächtigen Resonanzraum für seinen Ruhm. Mit Werken wie „3:2. Das Spiel ist aus!“ oder „Spiele, die ich nie vergesse“ begleitet Walter im Laufe der Jahre als Co-Kommentator seine eigene Laufbahn. Spielszenen kann er auch Jahrzehnte später wie einen inneren Film abrufen. „Wenn Fritz von früher erzählte, vergingen zwei Stunden wie fünf Minuten“, schwärmt auch Miroslav Klose, der 41 Jahre nach Walters Karriereende für den 1. FC Kaiserslautern debütierte und mit glänzenden Augen von den Treffen mit den Weltmeistern von 1954 berichtet.

1958 spielt Fritz Walter seine zweite und letzte WM. Der Krieg hat ihm die besten Jahre als Fußballer genommen. Die dominante Persönlichkeit wie vier Jahre zuvor ist der fast 38-Jährige in Schweden nicht mehr, die schwachen Nerven jedoch sind treue Gefährten. In den Halbzeitpausen der WM-Partien versucht sich Walter, mit einem Glas Sekt Beruhigung einzuflößen. Es will nicht recht gelingen. Nach einem bösen Foul des linken schwedischen Läufers Sigvard Parling im Halbfinale wird er von zwei Betreuern vom Platz getragen – es bleibt sein letztes Länderspiel.

In den Jahren nach der Karriere kommen die persönlichen Fernziele, alle verbunden mit seiner geliebten Italia: Goldene Hochzeit, 80. Geburtstag. Dass er zusammen mit seiner Frau auf das Millennium anstoßen kann, macht Fritz Walter überglücklich. „Er sprach schon Jahre vorher davon, wie es sein muss, wenn vorne eine 2 statt einer 1 steht“, sagt Hans-Peter Schössler, „das war sein Sinn für das Geschichtsträchtige, für das, was bleibt.“

2 nach 1: Das verblüffend simple Weltbild eines Mannes, dem sein Wohnort, das verschnarchte 2.500-Seelen-Dorf Alsenborn, nie zu klein wurde, eines Mannes, dem die große Bühne nie ganz geheuer war, obwohl er derart auf ihr glänzte. Natürlich hat er selbst Geschichte geschrieben, Fußballgeschichte zumal, und das wie kaum ein zweiter. Fritz Walter hat, wenn wir im Bild bleiben wollen, der 1 die 2 nachfolgen lassen, als Spieler, der den Übergang zwischen Vor- und Nachkriegszeit symbolisiert – oder besser: den Nicht-Übergang. Weil sich Fritz Walters Welt, die Welt seines geliebten Fußballs, zwischen 1939 und 1945 nicht änderte, während alles um sie herum zerstört wurde, muss sein (Über)leben und Wirken von den Zeitgenossen wie ein Ausdruck der Beständigkeit, des „es geht doch weiter“ empfunden worden sein. Vielleicht ist dies dann sein größter Verdienst: den Menschen, die noch unter der Schwere des Kriegs und seinen Folgen litten, aufs neue die Leichtigkeit und Unbeschwertheit aufgezeigt zu haben, mit der dieses Spiel gespielt werden kann. Sicher ist, dass er sich darüber nicht im klaren war, sondern einfach nur Fußball spielen wollte. Fairen, ehrlichen Fußball.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen großen Fußballer und Menschen – auch bei seinen Erben im roten Jersey, die nach der Walterzeit fast 40 Jahre brauchten, um wieder Meisterhaftes zu vollbringen. In typischer Art adelte der Ahnherr des Pfälzer Fußballs dann seine Nachfolger. Auf der Weihnachtsfeier nach dem Titelgewinn 1998 beschied Friedrich, der Große, dem kleinen Brasilianer Ratinho, seinem Nachnachfolger auf Halbrechts: „Mäuschen, ich habe zwar mehr Tore als du geschossen, aber du bist der bessere Techniker.“ Der wusste erst gar nichts zu entgegnen und blickte verschämt zu Boden. „Fritz“, brachte das Mäuschen schließlich hervor, „ich bin nur ein Teil dieser Geschichte. Aber du – du bist die Geschichte.“