Rauchzeichen in der Kurve

– Ultras und DFB verhandeln um Legalisierung von Pyrotechnik – derzeit gibt es einen Waffenstillstand

Berlin (dapd). Die Grafiker der Kampagne haben für das Logo jenes Farbschema ausgewählt, in das sich die Ultra-Bewegung gezwängt sieht: schwarz und weiß. Drei junge Männer, Kappe, Kapuze, Fanschal, halten drei Fackeln in die Höhe, deren Flammen sich zu einem gemeinsamen, großen Feuer umschlingen. Darunter das Motto: „Pyrotechnik legalisieren, Emotionen respektieren.“

Vereinstreue, Choreografien, Dauersupport auf der guten Seite, Gewaltbereitschaft, Kritikunfähigkeit und eben auch gefährliche Zündelei auf der anderen. Das sind die Attribute, die in der Bewertung dieser bis ins Extreme treuen Fans meist gegeneinander gestellt werden. Die Zwischentöne sind kompliziert.

Die deutschen Ultras haben sich für den komplizierten Weg entschieden. 56 der notorisch rivalisierenden Fangruppen sind gemeinsam losmarschiert im Herbst 2010. Auf der „Fandemo“ in Berlin im Oktober hatten sie sich schon ein bisschen beschnuppert, danach formierte sich das Bündnis, das sich vorgenommen hat, die Verwendung von Bengalischen Feuern aus der kriminellen Ecke zu holen.

Erster Bundesligaspieler hat sich solidarisiert

Über 100 Fanvereinigungen haben sich bereits solidarisiert, auch sechs Fußballklubs unterstützen die Aktion, darunter Zweitligist Dynamo Dresden. In der vergangenen Woche bekannte sich Mathias Abel vom 1. FC Kaiserslautern als erster Profi zur Initiative. „Pyrotechnik beflügelt die Mannschaft und die einzelnen Spieler. Kontrolliert kann es eine sinnvolle Sache sein“, sagte Abel.

Die Ultras haben es bis an den Verhandlungstisch mit dem DFB geschafft, schon das darf als Erfolg gelten. Denn der Verband vertrat in den letzten Jahren eine Politik der geringen Toleranz gegenüber Zündlern, denen im schlimmsten Fall Stadionverbote und Zivilklagen drohten. „Dass wir so schnell mit dem DFB zusammensitzen würden, hätten wir ehrlich gesagt nicht erwartet“, sagt Jannis Busse, ein Sprecher der Initiative von den Ultras Hannover, der dapd Nachrichtenagentur.

Zwei Treffen fanden nach dapd-Informationen bereits statt, beide in der DFB-Zentrale in Frankfurt am Main, das erste kurz vor dem Ende der vergangenen Saison, das zweite Anfang Juli. Zunächst ging es um gegenseitiges Beschnuppern, dann um einen konkreten Fahrplan.

Heraus kam zunächst ein Waffenstillstand. An den ersten drei Spieltagen verzichten die Ultras auf Pyro-Aktionen – als Zeichen des guten Willens. „Noch ist nichts erreicht, im Gegenzug haben wir dem DFB natürlich noch nicht die Freigabe von Pyrotechnik abgerungen“, sagt Jannis Busse. Doch die Ultras hoffen, dass der Verband, wenn die Kurven tatsächlich rauch- und böllerfrei bleiben, grünes Licht für den nächsten Schritt gibt. Der könnte so aussehen, dass Verein, Ordnungsamt und Fans eine „lokale Genehmigungspraxis“ erarbeiten. Es geht darum, wann und wo Pyrotechnik erlaubt wird, zum Beispiel in bestimmten Bereichen der Kurve vor dem Spiel.

„Paar Sturköppe, die von nichts abrücken“

Es wäre eine kleine Revolution in der Fankurve. „Nach jahrelangem Nicht-Verhältnis und Missverständnissen zwischen DFB und Ultras ist das jetzt ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Busse.

Der Ende August scheidende DFB-Sicherheitsbeauftragte Helmut Spahn war auf dapd-Anfrage in dieser Woche nicht zu erreichen. Auf Fanseite bekam man den Eindruck, dass der DFB von der geschickten Verhandlungsführung bei den beiden Treffen überrascht war. „Sie dachten wohl, da kommen ein paar Sturköppe, die von nichts abrücken wollen“, sagt ein Gesprächsteilnehmer.

Doch es gibt Entgegenkommen von den Fans: „Schluss mit Böllern, Kanonenschlägen und sonstigen Knallkörpern“, sagen sie. Vor den Gesprächen hatte Spahn unmissverständlich klargemacht, dass die Sicherheit der Zuschauer „oberste Priorität“ hat. Denn der weite Begriff der Pyrotechnik umfasst nicht nur schön und bunt qualmenden Rauch. Einige verstehen darunter auch das Detonieren von hochgefährlichen „Polenböllern“, im Ausland gefertigter Feuerwerkskörper mit höchster Sprengkraft.

Dass sich die „Initiative Pyrotechnik“ von diesen Krachern distanziert, ändert nichts an der latenten Gefahr. „Ganz unabhängig von einer Legalisierung kann immer etwas passieren“, sagt Jannis Busse. Erst am 34. Spieltag der vergangenen Saison schmiss ein Fan in der Kaiserslauterer Westkurve einen Böller in die Menge, es gab mehrere Verletzte.

Eine Fankurve sei kein Puppentheater, sagt einer der Unterstützer der Kampagne. Nicht jeder lasse sich von den Ultras was sagen. Alle Beteiligten wissen: Passieren kann immer was. Denn neben guten Vorsätzen gibt es auch bösen Willen.

Ein Fan wird zum Staatsfeind

– 50 Jahre Mauerbau: Ein Hertha-Fan aus Ost-Berlin reiste seinem Team im Ostblock hinterher

Berlin (dapd). Zum Glück herrscht Westwind an diesem späten Augusttag im Jahr 1961. Haushoch überragen die steilen Tribünen der „Plumpe“ die S-Bahn-Gleise. Der Wind trägt die Geräusche des Fußballs herüber vom alten Hertha-Stadion am Gesundbrunnen in Wedding zur nahen Norwegerstraße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Dort steht Helmut Klopfleisch, 13 Jahre alt, und lauscht. Er hört das Raunen und Klatschen der Menschen, die sich auf dem Zauberberg türmen und auf dem Uhrenberg, jenen berühmten Steilrängen unter den riesigen Reklametafeln, die stets voll sind, wenn Hertha BSC spielt.

Beim letzten Mal war Helmut Klopfleisch da noch mitten drin. Nun aber steht er jenseits der Gleise und starrt traurig über den frisch abgerollten Stacheldraht. Hertha spielt jetzt in einer unerreichbaren Welt.

„Motor, Aktivist – schon die Namen waren albern“

Das DDR-Regime mauert den Westteil der Stadt ein, und einem 13-jährigen Hertha-Fan aus Pankow bleibt nur noch der Radiobericht des Westberliner Senders RIAS 1. Helmut Klopfleisch presst sich den kleinen Mikki-Empfänger dichter ans Ohr und lauscht seinem Lieblingsreporter Udo Hartwig.

Der Blick des Hertha-Fans aus dem Osten bleibt westwärts gerichtet. Klopfleisch will sich seine Liebe nicht verbieten lassen. Über die DDR-Betriebssportgruppen kann er nur lachen. „Motor, Aktivist – alleine die Namen waren ja albern“, sagt er heute. Mit dem System DDR wird er nicht warm. „Ich merkte schon in der Schule, wie wir angelogen wurden, was uns da für ein Quatsch erzählt wurde“, sagt Klopfleisch.

Doch die allabendlichen Sportnachrichten im Westradio reichen ihm bald nicht mehr. Er will dabei sein. Helmut Klopfleisch beginnt, zu Spielen von Hertha BSC im Ostblock zu reisen, zu Europacupspielen und auch zu belanglosen Freundschafts-Kicks. Aus einem blauen FDJ-Hemd und einem weißen Bettlaken näht ihm seine Mutter eine Fahne. Rings um die Spiele kommt er mit Fans, Spielern und Trainern ins Gespräch.

Wodka aus Zahnputzbechern

Auch das westdeutsche Nationalteam hat es ihm angetan. 1971 fährt er zum EM-Qualifikationsspiel nach Warschau und überreicht dem aus Dresden stammenden Bundestrainer Helmut Schön einen Berliner Bären, als Glücksbringer und Zeichen für die Einheit der Stadt. Zusammen mit Schön, dessen Assistenten Jupp Derwall und Masseur Erich Deuser stößt er im Hotelzimmer mit polnischem Wodka aus Zahnputzbechern auf die deutsch-deutsche Freundschaft an.

Bald ist Klopfleisch im BRD-Fußball bekannt wie ein bunter Hund – und er hat beste Beziehungen. Eines Tages steht Bayern-Präsident Fritz Scherer in der Wohnung der Klopfleischs in Berlin-Weißensee – unter dem Rolli ein signiertes Originaltrikot von Karl-Heinz Rummenigge, dem Idol von Klopfleischs Sohn. „Er hat sich gleich im Flur entblättert“, erinnert sich der Vater lachend. Klopfleischs rege Westkontakte bleiben auch der Stasi nicht verborgen. Bei der Ausreise wird sein Wagen bis auf die Karosserie zerlegt, seine Fahne schmuggelt er mit verölten Ersatzteilen über die Staatsgrenze.

In den 80er-Jahren wird die Lage ernst. Der Fußballfan wird zum Staatsfeind. Er verliert seinen Job als Elektriker. Vor Spielen von Westmannschaften im Ostblock wird er vorsorglich verhaftet und verhört, er erhält einen sogenannten „PM-12“-Ausweis, „wie Sexualstraftäter und andere Schwerverbrecher“, sagt er. Helmut Klopfleisch ist offiziell geächtet, weil er Fußballfan ist.

„Ich wollte einfach meine Freiheit“

Als auch seine Familie von den Behörden offensichtlich benachteiligt wird, stellt er 1986 einen Ausreiseantrag. „Solange es nur um mich ging, konnte ich es aushalten“, sagt er. Seinen 15-jährigen Sohn hat bereits die Stasi umgarnt und versucht, zum Bespitzeln des eigenen Vaters anzustiften. „Es ging mir nicht um Apfelsinen oder Bananen“, sagt Klopfleisch, „ich wollte einfach meine Freiheit.“

Sein Ausreiseantrag wird bewilligt – Ende Juni 1989. Noch am gleichen Abend müssen die Klopfleischs die DDR verlassen. Nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter, die wenige Tage später stirbt, darf er zurück in das Land, das sich eingemauert hat.

Nach der Wende erfüllt sich Helmut Klopfleisch den Traum von der Freiheit. 1990 Italien, 1994 USA, 1996 England – zusammen mit der Nationalmannschaft bereist er die westliche Welt. Fotos zeigen ihn mit Berti Vogts, Boris Becker und beim Golfen mit Franz Beckenbauer.

In der Plumpe aber war er nie wieder. Herthas altes Stadion ist längst abgerissen. 50 Jahre nachdem der kleine Helmut traurig hinüber in den Westen blickte, ragen dort keine Zauberberge mehr auf. Der Fußball ist verzogen. Die neuen Mieter sind hinter der glatten Fassade eines Neubaukomplexes verborgen. Nur die alten Pappeln sind noch da und wiegen sich langsam im Westwind.

Wenn das Kartenhaus zerfällt

– Oberligist BFC Dynamo steht nach der Fan-Gewalt unter „Schockstarre“ – Polizei bemängelt Absprachen

Berlin (dapd). Am Tag danach lag eine unwirkliche Friedlichkeit über dem Verein. Ein knuffiger Plüsch-Teddybär im Vereinsshirt wurde auf der Webseite des BFC Dynamo zum Verkauf angeboten, die vier Flutlichtgiraffen des Jahnsportparks trotzten still und eisern dem Berliner Nieselregen. „Das größte Gut des Vereins sind seine Fans“, hat ein BFC-Fan über seine Webseite geschrieben. Am Samstagabend hat sich dieses Gut in die größte Last verwandelt.

Um die 100 Randalierer hatten nach dem Pokalspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern den Gästeblock gestürmt und wahllos um sich geschlagen. Verletzte gab es nicht nur unter den Lauterer Fans. „Es ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die in letzter Zeit an der Vereinsarbeit beteiligt waren“, sagte der Fanbeauftragte Rainer Lüdtke der dapd am Sonntag. „Man merkt bei allen eine Schockstarre. Ich persönlich dachte, wir sind viel weiter.“

„Gesichter, die ich nie zuvor gesehen habe“

Lüdtke, ser seit 14 Jahren ehrenamtlicher Fanbeauftragter von Dynamo ist, sucht nach der Katastrophe nach Gründen. Es bleiben vor allem viele Fragezeichen stehen. „Das waren Gesichter, die ich nie zuvor gesehen habe. Leute in BFC-Klamotten, die ich gar nicht kenne“, sagt Lüdtke über die Gewalttäter. „Ich habe auf einem Foto gesehen, dass mehrere auf einen einschlugen. Das sind Sachen, die ich seit zehn Jahren nicht bei uns gesehen habe.“ Lüdtke wähnte den BFC Dynamo auf dem Weg in eine bessere Zukunft.

Trügerische Hoffnung: Schon sehr lange hatte es kein Spiel mehr gegeben mit so vielen Gästefans. Rund 2.000 sollen es gewesen sein. Die insgesamt über 10.100 Besucher waren eine neue Rekordkulisse für Dynamo bei einem Heimspiel nach der Wende. Das Gastspiel des Bundesligisten war offenbar eine attraktive Plattform, um auch Leute anzulocken, „sogenannte BFC-ler“, wie Lüdtke sie nennt, die mehr auf Krawall als auf Fußball aus waren.

„Es waren zwischen 250 und 300 Personen, die Krach gesucht haben“, teilte die Berliner Polizei auf dapd-Anfrage am Sonntag mit. Wie ein Teil von ihnen praktisch ungestört von der Gegengeraden durch leere Blöcke hinüber zum Gästebereich gelangen konnte, dahinter steht ein weiteres Fragezeichen. Laut Lüdtke ist ein ungefähr ein Meter hohes Rolltor am Ende der Gegengeraden nach Schlusspfiff nicht ausreichend mit Ordnern besetzt gewesen. „Wenn die ersten auf dem Weg sind, ist es wie ein Kartenhaus, das zusammenfällt. Es gibt dann die Mitläufer“, sagt Lüdtke.

Polizei: „Wir standen vor verschlossenen Toren“

Die Polizei bestätigte, dass der Durchbruch des Fans auf ein Verschulden der Ordner zurückzuführen war. Eine Auswertung habe ergeben, „dass Maßnahmen des Ordnerdienstes, teilweise entgegen vorheriger Absprachen mit der Polizei, zu den Problemen geführt bzw. den Verlauf begünstigt haben“, hieß es in einer Mitteilung. Dies habe der für die Ordner Verantwortliche eingeräumt.

Warum aber bei einer als „Risikospiel“ eingestuften Partie nicht von vornherein Beamte zwischen den Gästen aus Kaiserslautern und den berüchtigten BFC-Fans platziert waren, ist zumindest verwunderlich. Generell sei zunächst der vereinseigene Ordnungsdienst für die Lage im Stadion verantwortlich, sagte die Polizei. „Erst wenn es zu Straftaten kommt, schreiten wir ein.“ In diesem Fall zu spät. Im Lauterer Block war bereits Panik ausgebrochen.

Die Schadensfälle konnte die Polizei am Sonntag genau beziffern: 18 verletzte Polizisten, zwei im Krankenhaus Behandelte, Strafverfahren gegen 50 Personen. Der Schaden am ohnehin ramponierten Image des Vereins lässt sich schwerer bemessen. Rainer Lüdtke überlegt, sein Amt aufzugeben: „Irgendwann fehlt die Kraft.“

Am frühen Sonntagnachmittag war dann auf der offiziellen Internetpräsenz des BFC Dynamo nichts weiter als ein ausführlicher Entschuldigungsbrief an den Bundesligisten zu lesen. Wo morgens noch der Teddy lächelte, stand nun: „Leider, leider endete ein schönes Spiel mit einer zu 99 Prozent friedlichen Kulisse in einem Albtraum.“ An ruhigen Schlaf ist in nächster Zeit wohl weder für die Vereinsverantwortlichen noch für die Opfer zu denken.

Rauchzeichen in der Kurve

– Der Einsatz von Pyrotechnik in den Fankurven wird hart bestraft. Nun wollen 55 deutsche Ultra-Gruppierungen eine legale Lösung erstreiten – der DFB setzt sich erstmals mit ihnen an einen Tisch.

Berlin (Tsp) – Als die Glocken läuteten, fing es an zu rauchen. Und als ein paar Sekunden später die ersten Riffs des Hardrock-Klassikers „Hell’s Bells“ aus den Boxen fetzten, zog bereits dicker weißer Qualm über den Gästeblock am Hamburger Millerntor. Der weiß gefrorene Rasen erschien in einer surrealen Tönung aus Feuer, Rauch und Flutlicht.

„Wir wollten zeigen, dass es nicht gleich Schwerverletzte geben muss, wenn Bengalos abgebrannt werden“, sagt Christian von der Lauterer Ultragruppierung „Pfalz Inferno“. Die Aktion der FCK-Fans zum Spiel ihrer Mannschaft beim FC St. Pauli war nur eine von vielen der letzten Wochen – auch an diesem Wochenende in Berlin waren bei Hallenturnieren wieder Transparente pro Pyrotechnik zu sehen.

Die deutschen Ultras, jene Fans also, die sich als harter Kern der Fankurven und Zentrum des Supports sehen, machen mobil. 55 Ultragruppen aus dem ganzen Land haben die Kampagne „Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren“ ins Leben gerufen. Sie wollen künftig auf den Rängen ganz legal Bengalos und Rauchtöpfe zünden dürfen. Dafür distanzieren sie sich in ihrem offiziellen Statement von „Böllern, Kanonenschlägen und sonstigen Knallkörpern“ wie Leuchtspurmunition und stellen klar: „Pyrotechnik gehört in die Hand, auf keinen Fall in die Luft und nach Möglichkeit nicht auf den Boden.“

Über 60 Fangruppen haben sich seit Beginn solidarisiert, Drittligist Dynamo Dresden unterstützt die Bemühungen der Fans als erster Profiverein. Der Schulterschluss der Fans quer durch die Vereinsszenen hat bereits das erste Ziel erreicht und eine Diskussion um Pyrotechnik in den Stadien losgetreten. Nun hat also auch der deutsche Fußball eine Rauchdebatte. Das vielleicht Erstaunlichste: Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat Gesprächsbereitschaft signalisiert. Helmut Spahn, seit Ende 2006 DFB-Sicherheitsbeauftragter und Hauptabteilungsleiter Prävention und Sicherheit, will sich in den kommenden Wochen mit den Fans an einen Tisch setzen. „Es sieht alles danach aus, dass wir uns bald treffen“, sagte Spahn. In der Vergangenheit hatte sich der Dialog zwischen Offiziellen und Fußballfans meist auf das Aussprechen von Sanktionen beschränkt. Noch Mitte September war der Chemnitzer FC am Verbandsveto gescheitert, obwohl eine geplante Pyro-Show beim Spiel gegen den VfB Lübeck von den örtlichen Behörden bereits genehmigt worden war. Der Antrag sei zu kurzfristig eingetroffen, teilte der DFB mit.

Doch nun ist Bewegung in die Sache gekommen. Die rivalisierenden Ultragruppen sind sich bei der Fandemo am 9. Oktober in Berlin näher gekommen. „Das war der erste große Schritt in Richtung Zusammenarbeit“, sagt Fossa von den „Harlekins Berlin“. Die Ultragruppe von Hertha BSC gehört zu den Erstunterzeichnern der Pyro-Erklärung – ebenso wie die „Hammerhearts“ und das „Wuhlesyndikat“ des Stadtrivalen 1. FC Union. Auf der Website der „Harlekins“ prangt ein Foto der Kaiserslauterer Westkurve mit zig brennenden Bengalos. „Für uns ein absolutes Sinnbild für die Entwicklung der Pyrotechnik in Deutschland“, sagt Fossa. „In den Neunzigern wurde auch bei praktisch jedem Hertha-Spiel gezündet.“ Bengalos und Rauchtöpfe sind für ihn „ein klassisches Stilmittel“ der Kurve.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite sind zahlreiche Vorfälle aus den letzten Jahren zu nennen, bei denen Pyrotechnik außer Kontrolle geraten ist. Bilder, die Zuschauer und Verbände empört haben, wie die vom EM-Qualifikationsspiel aus Genua, als Vermummte aus dem serbischen Block qualmende Fackeln aufs Spielfeld warfen, Bilder von gestandenen Spielern, die weinten wie kleine Kinder. Die Ultras stemmen sich auch gegen ihren eigenen Ruf, der durch die gefährlichen Zündeleien gelitten hat. Auch in Deutschland. Ende Februar 2010 beispielsweise erlitten mehrere Menschen beim Bundesligaspiel des VfL Bochum gegen den 1. FC Nürnberg schwere Verbrennungen, als im Gästeblock mit Magnesiumpulver hantiert wurde. „Das hat mit einer geilen Pyro-Show nichts zu tun, sondern ist nur extrem gefährlich“, sagt Christian vom „Pfalz Inferno“.

Doch unter den Ultras herrscht noch lange kein Konsens. Einige wichtige Gruppen beteiligen sich nicht an der Initiative; aus Frankfurt am Main etwa, wo die Szene enormen Zulauf hat, kommt keine Solidarität. „Viele Gruppen beschäftigen sich mit Nebensächlichkeiten“, kritisiert Fossa von den „Harlekins“. „Es geht nur noch um Gewalt, Außendarstellung, Posen, Selbstdarstellung, darum, wer die Härtesten oder Gefährlichsten sind.“ Das gehe am ursprünglichen Ultragedanken „weit vorbei“, demzufolge der Blick sich nur auf die eigene Kurve richten solle. Dass selbst am gemeinsamen Aktionswochenende aus einigen Kurven Kanonenschläge flogen, wirft die Frage auf: Lässt sich kontrolliertes Abbrennen überhaupt praktisch umsetzen? Und wie lässt sich verhindern, dass der mühsam erkämpfte Verhandlungserfolg – wenn er zustande kommt – mit Böllerwürfen oder Leuchtraketen wieder aufs Spiel gesetzt wird? „Eine Fankurve ist kein Puppentheater, über dem man sitzt und alle nach den Fäden tanzen lässt“, gibt Fossa zu, „nicht jeder lässt sich von der Ultragruppe was sagen.“ Es werde auch darum gehen, die Kurve zu sensibilisieren und hinter der Initiative zu versammeln. „Da wird sich die Kraft und die Stärke der aktuellen Bewegung zeigen.“ Bei Hertha bemühe sich beispielsweise der „Förderkreis Ostkurve“ um eine bessere Kommunikation zwischen den Fangruppen.

„Es wäre schade, wenn einzelne Chaoten unsere Arbeit zunichte machen“, sagt auch Christian vom „Pfalz Inferno“, der „Aufklärungsarbeit bei den anderen Fans“ fordert. Wenn Fossa von Pyrotechnik redet, fällt oft das Wort „Leidenschaft“. Auch darum werde es gehen. Denn eine allzu sterile Lösung kann man sich auf Ultraseite nicht recht vorstellen. „Leidenschaft ist definitiv nur im Block möglich“, erklärt das Mitglied der „Harlekins“. „Sich stur vor die Kurve zu stellen, ein Bengalo hochzuhalten und es dann in einen Eimer zu packen, hat wenig mit Leidenschaft zu tun.“

Beispielhaft ist die Entwicklung in Chemnitz, wo der Dialog zwischen Fans und Behörden bereits genehmigte Pyro-Aktionen möglich gemacht hat. „Die Erfahrungen sind durchweg positiv“, sagt Kay Herrmann, Leiter des Chemnitzer Fanprojekts. Schon dass die Ultras mit der Polizei zusammenarbeiteten, sieht er als gute Entwicklung. Planen die Fans des Viertligisten für ein Spiel eine Bengalo-Aktion, erstellen Fans, Verein, Polizei, Ordnungsamt, Fanprojekt und Fanbeauftragte ein Konzept. Weil die Stadien in der Bundesliga um ein Vielfaches größer sind, sieht Kay Herrmann die Lösung in einer „lokalen Genehmigungspraxis“, bei der die örtlichen Behörden entscheiden, was wo zugelassen wird.

In Österreich gibt es bereits eine landesweite Lösung. Seit dieser Saison dürfen dort in designierten Bereichen in den Kurven bengalische Feuer abgebrannt werden – das Resultat einer Faninitiative. „Das ist fast die Optimallösung, die man hier in Deutschland erreichen könnte“, sagt Fossa, der hofft, dass es von Seiten des DFB „nicht bei Lippenbekenntnissen bleibt“. Sicherheitschef Helmut Spahn gibt der Sicherheit der Zuschauer „oberste Priorität“, kündigte aber an, „ohne Vorbehalte und ergebnisoffen“ in die Diskussion gehen zu wollen. Sonst wäre es am Ende auch allzu viel Rauch um nichts gewesen.

„Mein Bauchgefühl ist grundsätzlich negativ“

– WM 2010: Warum Lutz Mathesdorf die Niederlage gegen Serbien verursacht hat

(Tsp) – Andreas Brehme ist schuld. Seinetwegen ist Lutz Mathesdorf gelähmt. Am ganzen Körper. Bei jedem Länderspiel. „Los ging es 1990 mit dem 1:0 gegen Argentinien. Ich verfiel plötzlich in völlige Starre“, erzählt der Fan der Nationalmannschaft. Seine Kumpels schenkten sich während des Endspiels von Rom einen Schnaps nach dem anderen ein, rutschten auf und ab vor Nervosität, doch Mathesdorf rührte sich keinen Zentimeter. Brehme traf kurz vor Schluss per Elfmeter, Deutschland war Weltmeister. „Seitdem ist das mein Tick“, sagt er und klingt schicksalsergeben und entschlossen zugleich.

Mathesdorf wiederum hat die deutsche Niederlage gegen Serbien verschuldet.

Nach dem Australien-Spiel hat er sich ein neues Sofa gekauft – und mit dieser unverantwortlichen Tat alles aufs Spiel gesetzt. „Auf dem neuen habe ich noch nicht die Glücksposition gefunden“, sagt er zerknirscht. Ebenso wenig wie Löws Auswahl in Südafrika.

Viele Fußballfans sind abergläubisch, rasieren sich nie an Spieltagen oder ziehen immer wieder das gleiche ungewaschene Trikot an. Der Aberglaube von Lutz Mathesdorf, der als Zeichner der „Jogis Löwen“-Comics ohnehin eine besondere Beziehung zur DFB-Elf hat, äußert sich auf noch skurrilere Weise. Er weiß das selbst. „Ich bin ein bisschen mehr Hardcore als die anderen“, gibt er zu. Mit der kleinsten Bewegung kann er das Spiel negativ beeinflussen, so sein fester Glaube. Selbst zu Hause vor dem TV. „Nach vorne gelehnt, ein bisschen in Lauerstellung“, beschreibt der Fan mit dem Hang zur Fußballstarre die aktuelle Idealposition. „Lang aufs Sofa legen geht gar nicht!“ Die erste Hälfte gegen Serbien habe er so zugebracht: „Wir alle wissen, was passiert ist.“

Wenn Deutschland spielt, ist Mathesdorf ganz alleine. Seine Frau geht meist Besorgungen nach, die Kinder meiden ihren Vater. „Mein Sohn kam gegen Serbien rein, hat mein Gesicht gesehen und ist direkt wieder verschwunden.“ Freunde und Kollegen fragen schon gar nicht mehr nach. Nichts hasst Mathesdorf mehr als Public Viewing. Nur zwei Spiele hat er in großen Menschenmengen verfolgt: das WM-Finale 2002 gegen Brasilien und das Halbfinale 2006 gegen Italien. Ausgang erneut bekannt. „Das Italienspiel ist meine schlimmste Erinnerung“, sagt er, „ich war eine Woche lang nicht ansprechbar. Ich weiß gar nicht, wie ich auf die verrückte Idee gekommen bin, das draußen zu schauen.“

Für das Spiel gegen Ghana hat Mathesdorf ein schlechtes Gefühl. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. „Mein Bauchgefühl ist vorher grundsätzlich negativ. Den Vogel, der am Morgen singt, holt am Abend die Katze.“ Deshalb wird der reglose Deutschland-Fan am Mittwoch wieder alles geben. „Irgendwann fängt es an wehzutun“, sagt Mathesdorf über die selbst auferlegte Schockstarre. Die Körperhaltung für Ghana? „Ich fange an, wie ich gegen Serbien aufgehört habe. Das war ja am Ende nicht ganz schlecht.“

Und wenn Deutschland Weltmeister wird – endet dann Brehmes Fluch? „Nein“, sagt Mathesdorf bestimmt. „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!“

Die Zaunkönige

– Bei jedem Länderspiel der deutschen Nationalelf sieht man ihre Fahnen auf den Tribünen. „Air Bäron“ und „Dudenhofens Sohn“ reisen überall hin – auch nach Südafrika.

(Tsp, mit Ron Ulrich) – Die Post in Münster tragen dieser Tage andere aus. Frank Niemann hat Wichtigeres zu tun. Er zeigt in Südafrika Flagge. Schwarz-rot-gold, darauf mit weißen Lettern nur zwei Wörter: „Air Bäron“, eine Hommage an den früheren HSV-Stürmer Karsten Bäron. Es ist Frank Niemanns Visitenkarte am Kap. Seit 15 Jahren reist er der Nationalelf in alle Welt hinterher und hängt seine Fahne in die Kurve. „40, 50 Spiele“ mache er pro Jahr. HSV und Deutschland.

Für Niemann, den Fahnenträger, gilt das Gleiche wie für Niemann, den Postboten: Er muss schnell sein. Es geht darum, als Erster in der Kurve anzukommen, um einen möglichst guten Platz zu finden.

Nicht für sich selbst, sondern für die Fahne. Die Fifa macht das Leben nicht leichter, sie will keine Werbeflächen zugehängt haben. Die bequeme Lösung sei, das Banner am Oberrang zu befestigen, sagt Niemann. „Stress hat man nur, wenn man sie unten platzieren will.“ Doch unten, da wollen alle hin. Unten, das heißt: gut sichtbar für die Fernsehkameras.

Denn es geht natürlich schon auch ein bisschen um Ruhm und Ehre. „Air Bäron“ ist das bekannteste Markenzeichen der Szene, die in Südafrika derzeit mit rund 40 bis 50 Leuten vertreten ist. Der harte Kern. Beim Auftaktspiel der Deutschen gegen Australien hatte Niemann den Nachteil der späten Anreise und musste mit einem Platz hoch oben im Stadion von Durban vorliebnehmen. Zum Serbien-Spiel will er rechtzeitig vor Ort sein, die 1000 Kilometer nach Port Elizabeth wollen zügig zurückgelegt werden.

Nicht nur die Spiele der Deutschen stehen auf dem Programm. „Neun von zehn Stadien zu sehen, das ist das Ziel“. Ihm ginge es aber nicht darum, möglichst viele WM-Partien abzuklappern, erklärt der Weltenbummler in Sachen Fußball. „Hauptsache, man erlebt hier viel“. In Südafrika trifft er auch Fans mit noch skurrileren Geschichten. Einer ist von Deutschland bis ans Kap gelaufen. „Das ist noch ein bisschen bekloppter“, schmunzelt der deutsche Zaunkönig.

Nach dem Achtelfinale geht Niemanns Rückflug. Eigentlich. „Wir bleiben bis zum bitteren Ende“, sagt er. Erfolgreiche Urlaubs-Nachverhandlungen mit dem Chef vorausgesetzt.

Das Feilschen um den Urlaub gab es auch in Dudenhofen bei Speyer. Dort arbeitet Michael Malmer bei einem Online-Shop. In der Kurve ist Malmer „Dudenhofens Sohn“. Zwei Wochen Urlaub für Südafrika hat er herausgeschlagen, natürlich auch mit Option auf mehr, falls Deutschland noch weiterkommt. Am kommenden Wochenende geht es los, doch von großer Vorbereitung noch keine Spur: „Ich habe mich impfen lassen, das ist alles.“

Koffer packen? „Das mache ich einen Tag vorher.“ Hotel? „Darum kümmern sich die Kollegen vor Ort.“ Karten? „Da soll es vor dem Stadion immer Möglichkeiten geben.“ Man merkt: Malmer ist Profi unter den deutschen Banner-Pionieren. Mit seiner Fahne ist er der Nationalelf nach Dubai, Schanghai oder Baku gefolgt. Was soll ihn noch schocken?

Seit zwölf Jahren ist Malmer Bannerträger, er war mit dem Fußball überall in der Welt. „Es ist dieses Abenteuergefühl, das mich fasziniert“, sagt er. „Man erlebt in der Gruppe jeden Tag etwas auf diesen Reisen.“

In Südafrika werden ihn fünf Bekannte aus der Fahnenszene erwarten, dann geht es mit dem Auto durchs Land. Im letzten Jahr bei der U21-EM in Schweden hat es Malmer so gut gefallen, dass der 28-Jährige trotz Arbeit drei Mal zwischen Deutschland und Skandinavien hin und her geflogen ist.

Damals holten die Deutschen den Titel. Im Wiederholungsfall in diesem Jahr würde der lange Turnierverbleib Malmer und Niemann rund 5000 Euro kosten. Aber das sei es wert, sagen die beiden. Man müsse halt bei Unterkunft und Flügen sparen, auch mal am Flughafen schlafen.

Und alles für einen guten Platz am Zaun. „Man muss schon verrückt in der Birne sein“, sagt Michael Malmer und lächelt.

Beten für den Klassenerhalt

– Hertha BSC ist abgeschlagen Tabellenletzter der Fußball-Bundesliga. Was liegt da näher als die Bitte nach göttlichem Beistand? Ein Gottesdienstbesuch in der Vereinskapelle. (ZEIT online)

„Für die Spieler von Hertha BSC: dass sie sich in Zukunft noch mehr zutrauen mögen, als sie das bisher vielleicht taten. Wir bitten dich, erhöre uns.“ Vor den letzten Worten hebt Gregor Bellin den Blick und die 35 Gottesdienstbesucher stimmen mit ein. Dass Bellin diese spezielle Fürbitte spricht, hat einen Grund: Der ökumenische Wortgottesdienst, den der katholische Diakon zusammen mit dem protestantischen Prälat Bernhard Felmberg leitet, findet nicht in einer herkömmlichen Gemeinde statt, sondern im Berliner Olympiastadion. Vor jedem Heimspiel kommen in der kleinen Kapelle Fußballfans zusammen, um gemeinsam zu singen und zu beten. Natürlich auch für Hertha.

Hertha BSC, das derzeit größte Sorgenkind des Berliner Sports, hat die Gebete nötig. Selbst die Leiden Hiobs scheinen erträglicher als das, was die Mannschaft den Zuschauern und sich selbst in der ersten Hälfte der Saison zugemutet hat. Tabellenletzter mit großem Rückstand.

Schließen die christlichen Fans deshalb die Hertha besonders in ihr Gebet mit ein? „Klar“, sagt ein Besucher des Gottesdienstes, „das macht wohl jeder von uns.“ Als Fußballfan sei es für ihn „eine tolle Sache“, dass er vor dem Spiel seine Gedanken an Gott wenden und direkt danach das Geschehen auf dem Rasen verfolgen könne. „Die Gemeinschaft ist wichtig, in der Gemeinde genauso wie unter uns Fans“, fügt Thorsten Heinrich hinzu. Er ist Mitglied im Fanclub „Totale Offensive“ und besucht die Messe regelmäßig mit anderen Mitgliedern der Spandauer Josuagemeinde. Auf der Website der gläubigen Hertha-Fans ist der Christenfisch abgebildet – in Weiß auf blauem Grund. Darunter findet sich der Leitspruch „Gegen den Strom“.

Gegen den Strom schwimmen auch die Spieler des besten Fußballvereins der Hauptstadt in der Rückrunde, eigentlich kann nur noch ein mittelgroßes Wunder dem Verein aus dem Keller helfen. In seiner Predigt greift Prälat Felmberg die Kellermetapher auf. „Jesus Christus ruft uns zu: Euer Herz erschrecke nicht!“, zitiert er die Jahreslosung, um dann die verfahrene Situation der Berliner Fußballer mit scheinbar aussichtslosen Lebenslagen zu vergleichen, in die der Lichtstrahl Gottes dennoch hereinscheint. „Stufe für Stufe können wir uns daran emporziehen“, ruft Felmberg mit fester Stimme der kleinen Gemeinde zu. Nach der Predigt erklingt Ein feste Burg ist unser Gott, die Nummer 362 aus dem Gotteslob.

An den Lichtstrahl Gottes zu glauben fällt in diesen bitterkalten Wintertagen den Hertha-Anhängern schwer. Explizit für Punktgewinne ihrer Mannschaft beten die Kapellenbesucher aber nicht, wie sie sagen, „sondern eher dafür, dass die Spieler von Verletzungen verschont bleiben und neue Kraft und Motivation schöpfen“, sagt Heinrich. „Das Leben geht weiter, auch wenn Hertha absteigt“, ergänzt ein anderer Besucher.

„Ich bete nicht für Hertha-Siege“, sagt auch Diakon Bellin. „Den Fußballgott, wie Rudi Assauer ihn einmal beschrieben hat, gibt es für mich nicht, ich habe einen anderen Gottesbegriff.“ Schon seit vier Jahrzehnten pilgert Bellin mit den Massen ins Olympiastadion, die meiste Zeit davon als Fan, seit anderthalb Jahren auch in offizieller Funktion als Geistlicher. An den Zusammenkünften im Namen Gottes vor dem Spiel fasziniert ihn der Querschnitt aus allen Schichten. „Es kommen Leute von der Ehrentribüne genau so wie aus der Ostkurve“, schwärmt er. „Das finden Sie in keiner normalen Gemeinde.“

Unmittelbar vor Spielbeginn stellt sich Bellin an den Ausgang der Katakomben, um den Spielern noch einmal in die Augen zu schauen, dem einen oder anderen Mut zuzusprechen. Je entschlossener die Herthaner dem Diakon Bellin in die Augen sehen, desto ruhiger kann der Fan Bellin die 90 Minuten angehen. „Die Körpersprache sagt sehr viel aus.“

Glaubensgemeinschaft Hertha mit Diakon Gregor Bellin
© Hertha BSC

Glaubensgemeinschaft Hertha mit Diakon Gregor Bellin

Bei aller Leidenschaft ist die Grenzziehung zwischen Fan-Sein und Geistlichkeit klar. „Im blauweißen Ornat werden Sie mich nicht sehen“, sagt Bellin. Religion und Fußball, das ist für ihn eine natürliche Verbindung. „Ich war ja sowieso bei jedem Heimspiel im Stadion.“ Seit der Saison 2008/09 eben nicht mehr in der Ostkurve, sondern auf der Haupttribüne – „wegen der kurzen Wege“, wie er sagt. Das kirchliche Angebot im Stadion besteht für alle Fans. Zwischen vierzig und sechzig Leuten kämen im Schnitt. Einmal sei so viel los gewesen, dass zwei Gottesdienste hintereinander abgehalten wurden. Dass jetzt, in der größten sportlichen Krise, mehr Leute kämen, will Bellin dagegen nicht bestätigen.

„Meine Kumpels stehen immer noch da drüben“, fügt der Fünfzigjährige mit einer Handbewegung auf die Ostkurve hinzu, wo der harte Kern des Berliner Anhangs gegen die klirrende Kälte anhüpft. Die Mannschaft quält sich zu einem 0:0 gegen Borussia Mönchengladbach. Obwohl Bellin vor dem Spiel entschlossene Blicke bei den Herthanern gesehen haben will, ist auf dem Platz kein Elan zu erkennen.

In der Halbzeit flitzt Gregor Bellin schnell nach oben in die Ehrenloge, schüttelt ein paar Hände, isst eine Currywurst. Am gleichen Stehtisch lässt es sich Otto Schily schmecken. Viele, die mit Hertha zu tun haben, kennen Bellin, begrüßen ihn mit einem freundschaftlichen Händedruck, auch zwei Gottesdienstbesucher von vorhin sieht der Diakon hier oben wieder.

Der Kontakt zu Spielern und Funktionären des Clubs sei sehr gut: „Wir werden vom Verein sehr stark unterstützt.“ Dazu gehört unter anderem die Ausstattung der Geistlichen mit Arbeitskarten, die den reibungslosen Zugang zu allen Stadionbereichen garantieren. Eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle bringt die Kapellenbesucher hinunter in den geschützten Bereich zwischen „Players Lounge“ und Pressezone.

Schon fünf Minuten vor dem Schlusspfiff eilt Bellin hinunter, zusammen mit Prälat Felmberg steht er Spalier für die enttäuschten Kicker. Die meisten gehen mit versteinerter Miene an den Geistlichen vorbei, die beide einen Hertha-Schal um den Hals hängen haben – es könnte fast eine Stola sein. Während die bekanntesten Gesichter noch von den Medien ausgefragt werden, hält Bellin ein kleines Schwätzchen mit dem Hertha-Präsidenten Werner Gegenbauer.

Mit ein paar Spielern verabreden sich die beiden für ein kurzes Gebet in der Kapelle. „Akutseelsorge“ nennt Felmberg das, es ginge oft schlicht um eine „emotionale Entlastung“. Nach praktisch jedem Spiel nähmen drei, vier Spieler und Betreuer das Angebot wahr. Bellin erzählt auch die Geschichte eines ehemaligen Hertha-Spielers, der sich vor einer Partie eine Segnung durch den Diakon erbat. Als der dies im nächsten Spiel versäumte und sich der Profi prompt verletzte, ging es nicht mehr ohne Kreuzzeichen vor dem Anpfiff. „Da verbindet sich teils auch Aberglaube mit Gottvertrauen“, sagt Bellin.

Dass die Sportler fest an etwas glauben, scheint wichtiger als die Frage, woran genau. Auch das berühmteste Bild, das in der Kapelle entstand, beantwortet die Frage nicht. Das preisgekrönte Foto wurde vor dem Weltmeisterschaftsfinale 2006 aufgenommen und zeigt den italienischen Spieler Gianluca Zambrotta, der in Spielkleidung und mit einem Ball unter dem Arm auf einem der schlichten Hocker sitzt und andächtig zum Altar blickt. Wofür er gebetet hat, weiß Bellin nicht. „Aber das Ergebnis ist bekannt.“