Beten für den Klassenerhalt

– Hertha BSC ist abgeschlagen Tabellenletzter der Fußball-Bundesliga. Was liegt da näher als die Bitte nach göttlichem Beistand? Ein Gottesdienstbesuch in der Vereinskapelle. (ZEIT online)

„Für die Spieler von Hertha BSC: dass sie sich in Zukunft noch mehr zutrauen mögen, als sie das bisher vielleicht taten. Wir bitten dich, erhöre uns.“ Vor den letzten Worten hebt Gregor Bellin den Blick und die 35 Gottesdienstbesucher stimmen mit ein. Dass Bellin diese spezielle Fürbitte spricht, hat einen Grund: Der ökumenische Wortgottesdienst, den der katholische Diakon zusammen mit dem protestantischen Prälat Bernhard Felmberg leitet, findet nicht in einer herkömmlichen Gemeinde statt, sondern im Berliner Olympiastadion. Vor jedem Heimspiel kommen in der kleinen Kapelle Fußballfans zusammen, um gemeinsam zu singen und zu beten. Natürlich auch für Hertha.

Hertha BSC, das derzeit größte Sorgenkind des Berliner Sports, hat die Gebete nötig. Selbst die Leiden Hiobs scheinen erträglicher als das, was die Mannschaft den Zuschauern und sich selbst in der ersten Hälfte der Saison zugemutet hat. Tabellenletzter mit großem Rückstand.

Schließen die christlichen Fans deshalb die Hertha besonders in ihr Gebet mit ein? „Klar“, sagt ein Besucher des Gottesdienstes, „das macht wohl jeder von uns.“ Als Fußballfan sei es für ihn „eine tolle Sache“, dass er vor dem Spiel seine Gedanken an Gott wenden und direkt danach das Geschehen auf dem Rasen verfolgen könne. „Die Gemeinschaft ist wichtig, in der Gemeinde genauso wie unter uns Fans“, fügt Thorsten Heinrich hinzu. Er ist Mitglied im Fanclub „Totale Offensive“ und besucht die Messe regelmäßig mit anderen Mitgliedern der Spandauer Josuagemeinde. Auf der Website der gläubigen Hertha-Fans ist der Christenfisch abgebildet – in Weiß auf blauem Grund. Darunter findet sich der Leitspruch „Gegen den Strom“.

Gegen den Strom schwimmen auch die Spieler des besten Fußballvereins der Hauptstadt in der Rückrunde, eigentlich kann nur noch ein mittelgroßes Wunder dem Verein aus dem Keller helfen. In seiner Predigt greift Prälat Felmberg die Kellermetapher auf. „Jesus Christus ruft uns zu: Euer Herz erschrecke nicht!“, zitiert er die Jahreslosung, um dann die verfahrene Situation der Berliner Fußballer mit scheinbar aussichtslosen Lebenslagen zu vergleichen, in die der Lichtstrahl Gottes dennoch hereinscheint. „Stufe für Stufe können wir uns daran emporziehen“, ruft Felmberg mit fester Stimme der kleinen Gemeinde zu. Nach der Predigt erklingt Ein feste Burg ist unser Gott, die Nummer 362 aus dem Gotteslob.

An den Lichtstrahl Gottes zu glauben fällt in diesen bitterkalten Wintertagen den Hertha-Anhängern schwer. Explizit für Punktgewinne ihrer Mannschaft beten die Kapellenbesucher aber nicht, wie sie sagen, „sondern eher dafür, dass die Spieler von Verletzungen verschont bleiben und neue Kraft und Motivation schöpfen“, sagt Heinrich. „Das Leben geht weiter, auch wenn Hertha absteigt“, ergänzt ein anderer Besucher.

„Ich bete nicht für Hertha-Siege“, sagt auch Diakon Bellin. „Den Fußballgott, wie Rudi Assauer ihn einmal beschrieben hat, gibt es für mich nicht, ich habe einen anderen Gottesbegriff.“ Schon seit vier Jahrzehnten pilgert Bellin mit den Massen ins Olympiastadion, die meiste Zeit davon als Fan, seit anderthalb Jahren auch in offizieller Funktion als Geistlicher. An den Zusammenkünften im Namen Gottes vor dem Spiel fasziniert ihn der Querschnitt aus allen Schichten. „Es kommen Leute von der Ehrentribüne genau so wie aus der Ostkurve“, schwärmt er. „Das finden Sie in keiner normalen Gemeinde.“

Unmittelbar vor Spielbeginn stellt sich Bellin an den Ausgang der Katakomben, um den Spielern noch einmal in die Augen zu schauen, dem einen oder anderen Mut zuzusprechen. Je entschlossener die Herthaner dem Diakon Bellin in die Augen sehen, desto ruhiger kann der Fan Bellin die 90 Minuten angehen. „Die Körpersprache sagt sehr viel aus.“

Glaubensgemeinschaft Hertha mit Diakon Gregor Bellin
© Hertha BSC

Glaubensgemeinschaft Hertha mit Diakon Gregor Bellin

Bei aller Leidenschaft ist die Grenzziehung zwischen Fan-Sein und Geistlichkeit klar. „Im blauweißen Ornat werden Sie mich nicht sehen“, sagt Bellin. Religion und Fußball, das ist für ihn eine natürliche Verbindung. „Ich war ja sowieso bei jedem Heimspiel im Stadion.“ Seit der Saison 2008/09 eben nicht mehr in der Ostkurve, sondern auf der Haupttribüne – „wegen der kurzen Wege“, wie er sagt. Das kirchliche Angebot im Stadion besteht für alle Fans. Zwischen vierzig und sechzig Leuten kämen im Schnitt. Einmal sei so viel los gewesen, dass zwei Gottesdienste hintereinander abgehalten wurden. Dass jetzt, in der größten sportlichen Krise, mehr Leute kämen, will Bellin dagegen nicht bestätigen.

„Meine Kumpels stehen immer noch da drüben“, fügt der Fünfzigjährige mit einer Handbewegung auf die Ostkurve hinzu, wo der harte Kern des Berliner Anhangs gegen die klirrende Kälte anhüpft. Die Mannschaft quält sich zu einem 0:0 gegen Borussia Mönchengladbach. Obwohl Bellin vor dem Spiel entschlossene Blicke bei den Herthanern gesehen haben will, ist auf dem Platz kein Elan zu erkennen.

In der Halbzeit flitzt Gregor Bellin schnell nach oben in die Ehrenloge, schüttelt ein paar Hände, isst eine Currywurst. Am gleichen Stehtisch lässt es sich Otto Schily schmecken. Viele, die mit Hertha zu tun haben, kennen Bellin, begrüßen ihn mit einem freundschaftlichen Händedruck, auch zwei Gottesdienstbesucher von vorhin sieht der Diakon hier oben wieder.

Der Kontakt zu Spielern und Funktionären des Clubs sei sehr gut: „Wir werden vom Verein sehr stark unterstützt.“ Dazu gehört unter anderem die Ausstattung der Geistlichen mit Arbeitskarten, die den reibungslosen Zugang zu allen Stadionbereichen garantieren. Eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle bringt die Kapellenbesucher hinunter in den geschützten Bereich zwischen „Players Lounge“ und Pressezone.

Schon fünf Minuten vor dem Schlusspfiff eilt Bellin hinunter, zusammen mit Prälat Felmberg steht er Spalier für die enttäuschten Kicker. Die meisten gehen mit versteinerter Miene an den Geistlichen vorbei, die beide einen Hertha-Schal um den Hals hängen haben – es könnte fast eine Stola sein. Während die bekanntesten Gesichter noch von den Medien ausgefragt werden, hält Bellin ein kleines Schwätzchen mit dem Hertha-Präsidenten Werner Gegenbauer.

Mit ein paar Spielern verabreden sich die beiden für ein kurzes Gebet in der Kapelle. „Akutseelsorge“ nennt Felmberg das, es ginge oft schlicht um eine „emotionale Entlastung“. Nach praktisch jedem Spiel nähmen drei, vier Spieler und Betreuer das Angebot wahr. Bellin erzählt auch die Geschichte eines ehemaligen Hertha-Spielers, der sich vor einer Partie eine Segnung durch den Diakon erbat. Als der dies im nächsten Spiel versäumte und sich der Profi prompt verletzte, ging es nicht mehr ohne Kreuzzeichen vor dem Anpfiff. „Da verbindet sich teils auch Aberglaube mit Gottvertrauen“, sagt Bellin.

Dass die Sportler fest an etwas glauben, scheint wichtiger als die Frage, woran genau. Auch das berühmteste Bild, das in der Kapelle entstand, beantwortet die Frage nicht. Das preisgekrönte Foto wurde vor dem Weltmeisterschaftsfinale 2006 aufgenommen und zeigt den italienischen Spieler Gianluca Zambrotta, der in Spielkleidung und mit einem Ball unter dem Arm auf einem der schlichten Hocker sitzt und andächtig zum Altar blickt. Wofür er gebetet hat, weiß Bellin nicht. „Aber das Ergebnis ist bekannt.“