Klopapier und Veitstanz

(Tsp) Die San Francisco Giants gewinnen die Baseball-World-Series überlegen gegen die Texas Rangers und holen damit den ersten Titel in die Stadt, die anschließend im Jubel versinkt.

San Francisco zählte bis drei. Giants-Schlagmann Edgar Renteria hatte es auf den dritten Wurf des Texas-Rangers-Werfers Cliff Lee abgesehen. Mit aller Kraft schwang er den Schläger – und traf perfekt. Statt im Fanghandschuh des Gegners landete der Ball als Home-Run in den Zuschauerrängen. Die Fans feierten, denn Renterias Schlag war die Vorentscheidung – und bescherte den San Francisco Giants damit die US-Baseball-Meisterschaft. Als der 35 Jahre alte Veteran im texanischen Arlington seine Runde über die Bases drehte, sprangen die Menschen in Orange auf dem Rathausplatz in San Francisco vor Freude wild durcheinander. Als Nelson Cruz dann am Spielende als letzter Rangers-Schlagmann in die Luft schlug, begann 2700 Kilometer weiter westlich eine gigantische Party.

Man hat schließlich einiges nachzuholen. Zum ersten Mal überhaupt sind die Giants World-Series-Gewinner, jedenfalls seitdem sie im Jahre 1958 die Küste gewechselt haben und von New York nach San Francisco umsiedelten. Es ist der erste große Titelgewinn für die Stadt, seitdem das American-Football-Team der 49ers vor 16 Jahren den „Super Bowl“ gewann. Mit ihren orangefarbenen T-Shirts, Schals und Tüchern strömten die Fans zu Tausenden auf die Straßen. Und wie es sich für Amerikas liberalste und oft auch verrückteste Metropole gehört, schlugen die Bürger in der Folge auch ein bisschen über die Stränge. California-style. Toilettenpapier verstopfte die Schienen der legendären Straßenbahnen, Motorhauben parkender Autos wurden durch wilde Jubelsprünge demoliert, auch lodernde Freudenfeuer entzündeten die Massen, mitten in der Stadt, und führten über ihnen wilde Veitstänze auf.

„Ich bin froh, dass ich mein Haus abgesperrt habe“, sagte Giants-Spieler Aubrey Huff ahnungsvoll im fernen Texas. Huff darf sich nun „World Champion“ nennen, Weltmeister, wie die Amerikaner zu ihren Baseball-Meistern sagen – in beschwingter Ignoranz der Ligen in Japan, auf Kuba und anderswo. Das Finalduell der Underdogs jedenfalls hat der Underdog gewonnen. Die Giants schlugen die leicht favorisierten Rangers in fünf Spielen, weil sie deren Schlagstärke mit großartigen Wurfleistungen eliminieren konnten, nachdem die Rangers den New York Yankees im Halbfinale noch die Bälle nach Belieben um die Ohren gehauen hatten. „Sie haben in allen Spielen besser geworfen als wir, ihre Werfer waren unglaublich“, sagte Cliff Lee, der Renterias Home-Run fassungslos hinterherschaute. Tim Lincecum entschied das Duell der Wurfarme am Montag für sich. „Es hat alles geklappt“, sagte er. „Ab dem ersten Inning hat sich das Adrenalin verflüchtigt, und ich wurde ganz ruhig.“ Für Mittwoch ist wieder ein Anstieg des Glückshormonpegels in Sicht – dann paradieren die Helden durch ihre Stadt.

„Morgen melde ich mich krank. Jeder meldet sich morgen krank“, zitierte der „San Francisco Chronicle“ einen feiernden Giants-Fan. „Und gegen Mittag gehe ich dann wählen. Wir müssen ja Timmy Lincecum würdigen, indem wir Proposition 19 verabschieden.“ Proposition 19 – damit wollen die Kalifornier den Konsum und Besitz von Marihuana legalisieren. Giants-Werfer Lincecum wurde 2009 mit 3,3 Gramm des Rauschmittels in seinem Wagen erwischt. California-style eben.

Die Stadt der brüderlichen Hassliebe

(Tsp) Einst verabscheute Philadelphia sein Baseballteam, das eines der schlechtesten der USA war. Nun werden die Phillies von der ganzen Stadt als Helden verehrt. Sie könnten zum dritten Mal in Folge die World Series erreichen.

Ob ein Sportmoment ewig in Erinnerung bleibt, darüber entscheiden manchmal wenige Zentimeter. Als der Fänger Carlos Ruiz am vergangenen Mittwoch den vor ihm auf den Boden tropfenden Ball mit der rechten Hand aufnahm und ihn über den spurtenden Schlagmann der Cincinnati Reds zur ersten Base warf, hielt ganz Philadelphia den Atem an. Die Zeit schien sich zu dehnen wie der Kaugummi eines Outfielders. Dann klatschte der Ball in den Fanghandschuh von First Baseman Ryan Howard, das Spiel war vorbei. Phillies-Pitcher Roy Halladay hatte Baseball-Geschichte geschrieben – mit dem erst zweiten „No-hitter“ der Play-off-Historie. In neun Innings hatte kein Reds-Spieler durch einen eigenen Treffer die erste Base erreicht.

Nach dem glatten 3:0-Sieg gegen die Reds warten nun ab Sonnabend im Halbfinale die San Francisco Giants, Gegner im Endspiel könnten wie im Vorjahr die New York Yankees sein.

Geschichte geschrieben haben die Philadelphia Phillies in den 126 Jahren ihres Bestehens selten genug. Bis vor zwei Jahren waren sie mit nur einem World-Series-Titel (1980) eines der erfolglosesten Teams im ganzen Land – und das hässliche Aushängeschild einer Stadt, in der sich die Profiteams im Football, Eishockey, Basketball und Baseball Jahr für Jahr mit Enttäuschungen unterboten. Philadelphia, diese bröckelnde Metropole zwischen Anspruch und Wirklichkeit war jahrzehntelang das Synonym für traditionsreich aber bedeutungslos – und Leinwandboxer Rocky Balboa ihr bekanntester Sportler. Wenn es im echten Leben wieder einmal schiefgegangen war, tobte das Fanvolk – wie nach dem Fehlwurf von Pitcher Mitch Williams in der „World Series“ 1993. „Die Leute haben ihn und seine Familie jahrelang schikaniert. Am Strand haben sie ihn ständig mit Sachen beworfen“, erinnert sich Phillies-Fan Karalyn. „In Südamerika bringen sie Fußballspieler um. In Philadelphia wirst du nur ein Jahrzehnt lang gehasst.“

Philadelphia und die Phillies – eine über Jahrzehnte gewachsene Hassliebe, bei der das Pendel in den letzten Jahren merklich Richtung Liebe schwingt. Denn mit dem World-Series-Triumph gegen die Tampa Bay Rays 2008 und dem erneuten Einzug ins Finale im Vorjahr, das sie allerdings gegen die Yankees verloren, ist das Team plötzlich eines der erfolgreichsten. „Die beiden World-Series-Teilnahmen haben alte Wunden geheilt“, sagt Karalyn. Sie ist 27 und in Philadelphia aufgewachsen. Schon als Säugling hat sie ihr Vater mitgenommen ins Stadion; das Maskottchen, der Phillie Phanatic, ein bizarrer grüner Nasenbär mit Gewichtsproblemen, war ihre erste große Liebe. Williams’ Versagen erlebte sie als 10-Jährige im mittlerweile abgerissenen Veterans-Stadium. „Das war Old-School-Baseball“, sagt sie lachend, „ein Team voller übergewichtiger, unförmiger Alkoholiker.“

Ein Team, das irgendwie zum Philadelphia der beginnenden neunziger Jahre passte, einer Stadt, die nach dem Zusammenbrechen der zwei großen Industriezweige, der Textilfabriken und der Brauereien, langsam vor die Hunde ging. 17 Jahre später hat sich die Innenstadt mit neuen Wolkenkratzern und schicken historischen Reihenhäusern herausgeputzt, die Phillies sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. „Die Phillies haben Philadelphia gerettet. Die Moral der Stadt ist gut“, sagt Karalyn. Die Menschen teilen den Kalender in zwei Jahreszeiten ein: mit und ohne Baseball. Von April bis Oktober scheint die Sonne über Philadelphia: „Der letzte Winter war lang und kalt. Jeder freute sich darauf, dass die Phillies wiederkommen, es war ein Zeichen, dass der Schnee bald vorbei ist.“

Die Phillies 2010, das ist kein Haufen dicker Vokuhila-Träger wie einst, sondern ein fokussierter Titelanwärter. In Halladay, Roy Oswalt und Cole Hamels hat die Mannschaft drei der besten Pitcher der Liga. „Wir wollen wieder die World Series gewinnen“, gab Hamels zu Protokoll.

„Alle Philadelphier haben derzeit einen Countdown im Kopf“, beschreibt Karalyn die Stimmung in der Stadt. „Momentan stehen wir bei acht.“ Das bedeutet: Noch acht Siege bis zum dritten World-Series-Gewinn der Klubgeschichte. Derzeit regiert einzig die Hoffnung in der Hauptstadt der Pessimisten.

Die letzte Schlacht

– Heute vor 35 Jahren: Ali gegen Frazier III

Vielleicht sind nie zwei Boxer gemeinsam so nahe an die Grenze zum Sterben herangetreten wie Muhammad Ali und Joe Frazier in ihrem dritten Kampf. „Es war wie der Tod“, sagte Ali hinterher. Frazier sagte nichts. Er lag praktisch blind in seinem Hotelzimmer, beide Augen zu einem winzigen Schlitz verengt. Später erklärte er fassungslos, er habe seinen Gegner „mit Schlägen getroffen, die Stadtmauern eingerissen hätten“.

Der „Thrilla in Manila“, der heute vor 35 Jahren stattfand, war einer der brutalsten und spektakulärsten Boxkämpfe aller Zeiten. Ein 14-ründiger atemloser Schlagabtausch zwischen dem eleganten Distanzboxer Ali und dem Infight- und Hakenspezialisten Frazier, Kampfname „Smokin’ Joe“, bei 40 Grad Hitze und drückender Luftfeuchtigkeit, an dessen Ende Frazier, der Unterlegene, ohne Sicht weitermachen wollte, und Ali, der Sieger, in seiner Ecke vor Erschöpfung zusammenbrach.

Die später so hasserfüllte Beziehung hatte freundschaftlich begonnen. Im August 1970 fuhren die beiden in Fraziers Cadillac Cabrio von Philadelphia nach New York und plauderten über Männerthemen: Gewichtsprobleme, die Gefahr des Motorradfahrens – und darüber, wer den anderen wie besiegen würde. Frazier war Champion, Ali seit seiner Kriegsdienstverweigerung titel- und arbeitslos. Ein Kampf noch nicht in Sicht. „Kein Mensch bezahlt, um zwei Freunde boxen zu sehen“, sagte Ali beim Aussteigen. „Schwergewichtler können keine Freunde sein“, schreibt er an anderer Stelle in seiner Autobiografie. „Sie sind Dinosaurier, Raubtiere. König kann nur einer sein.“

Aus den beiden Freunden wurden bittere Feinde

Fünf Jahre später, in Manila, war die Freundschaft lange vorbei. „Plump“, „hässlich“ und „ignorant“ zieh Ali, mittlerweile wieder Weltmeister, seinen Herausforderer. Er, Ali, der Nein zu Vietnam und zur Unterdrückung durch die Weißen gesagt hatte, sei der wahre Repräsentant des schwarzen Amerikas. Frazier dagegen, der sich Alis Titel in dessen Abwesenheit gesichert hatte, sei nur eine Marionette der Weißen, ein unterwürfiger „Onkel Tom“. Ali nannte Frazier „Gorilla“ und machte klar, dass er sich für eloquenter, besser aussehend und den besseren Boxer hielt: „Joe Frazier ist so hässlich, sein Gesicht sollte der Artenschutzbehörde übergeben werden.“ Ein rücksichtsloser Feldzug gegen Fraziers Selbstwertgefühl, weit über die üblichen Grenzen der Fight-Promotion hinaus.

Im Ring stellte sich heraus, dass der Weltmeister nur einen schlafenden Riesen geweckt hatte. In den ersten vier Runden nahm Frazier Alis Schläge mit stoischer Ruhe. Dann fing er an, seinen gefürchteten linken Haken zu schlagen, mit dem er Ali im ersten Kampf auf die Bretter geschickt hatte. Die Moral des Champions war vorerst gebrochen, der geplante frühe K. o. verpasst. „Joe, ich dachte, du hast es nicht mehr drauf“, raunte Ali vor der siebten Runde. „Da bist du falsch informiert, mein Hübscher!“, gab Frazier lächelnd zurück. Von da an rangen zwei Dinosaurier ums Überleben. Frazier dominierte die mittleren Runden, bis Ali schließlich mit schierer Willenskraft in der unerträglichen Schwüle wieder die Kontrolle übernahm. Ab Runde 13 wurde Frazier schwer getroffen. Sein Mundschutz flog durch den Ring, das Gesicht schwoll von harten Kopftreffern an, das linke Auge schloss sich komplett. „Es ist vorbei“, sagt ihm sein Trainer Eddie Futch vor der 15. Runde und drückt ihn zurück auf den Hocker. „Niemand wird vergessen, was du hier heute geleistet hast.“ In der gegenüberliegenden Ecke erhebt sich Ali, hebt die schlaffe Rechte zum Jubel und bricht zusammen. „Mein schwerster und härtester Gegner war Joe Frazier“, wird er später sagen, „er hat mir alles abverlangt.“

Ihre Wege kreuzen sich seitdem selten. Heute wie damals lebt Frazier im bitterarmen Norden von Philadelphia, in einem kleinen Raum hinter seinem Boxstudio. Ali dagegen ist auf der ganzen Welt zu Hause, nicht erst seit er 1996 mit zitternder Hand das Olympische Feuer der Spiele von Atlanta entfachte. Es ist umstritten, ob die Schläge, die er besonders in den letzten Jahren seiner Karriere auch von Frazier einstecken musste, das Parkinsonsyndrom, an dem er leidet, verstärkt oder gar verursacht haben.

Die Beleidigungen durch Ali (heute 68) haben Frazier, inzwischen 66 Jahre alt, tief getroffen und für lange Zeit verbittert. Und doch sitzt tief drinnen auch Mitgefühl. Als er in der 2009 erschienenen Dokumentation „Facing Ali“ auf den schlechten Gesundheitszustand seines alten Feindes angesprochen wird, senkt Joe Frazier seinen Blick. „Es ist traurig“, hebt er an, stockt dann und vollendet den Satz mit feuchten Augen. „Es ist traurig, weil er ein großartiger Mensch ist. Ich wünschte, er könnte das Leben führen, das wir führen. Er hätte das verdient.“ Dann geht der Blick des Dinosauriers wehmütig in die Ferne, vielleicht bis nach Manila.

Friedrich der Große

– Mythos Fritz Walter – eine Annäherung (11FREUNDE Sonderheft „Die 50er“)

Es sind die Worte der Anderen, die aus Menschen Mythen machen: „Es gibt drei Gründungsväter der Bundesrepublik: politisch ist es Adenauer, wirtschaftlich Erhard und mental Fritz Walter.“ Der Historiker Joachim Fest verlegte das Gründungsdatum der Bonner Republik vom 23. Mai 1949 kurzerhand auf den 4. Juli 1954 – den Tag des WM-Endspiels von Bern. Ab diesem Tag war Deutschland wieder wer. Laut Fest: vor allem dank Fritz Walter.

Unzweifelhaft ist Kaiserslauterns berühmtester Sohn eine der am meisten verehrten wie verklärten Persönlichkeiten der deutschen Sportgeschichte. Fritz Walters Leben und Wirken wurde hundertfach erzählt und auf Überlebensgröße potenziert. Pfälzer Heiligtum ist er ohnehin, dazu Jahrhundertfußballer, Vorzeigecharakter und für nicht wenige eben auch nationaler Sinnstifter. Aber vor allem natürlich: Bern. Immer wieder Bern. Herberger taktierte, Turek parierte, Rahn traf – und doch ist das Wunder von Bern für alle das Wunder von Fritz Walter.

Doch wer war dieser Mann wirklich, wie dachte, wie fühlte er, wie spielte er das Spiel, das die Massen wie kein zweites in seinen Bann zieht?

Es ist keine leichte Aufgabe, den gigantischen Mythos zu durchdringen, mit der Fritz Walter in dem halben Jahrhundert seit Bern umhüllt worden ist. Es ist ein Mythos, der durch Tradition entstanden ist, durch mündliche und schriftliche Überlieferung zwischen den Generationen und dadurch, dass die spärlichen Bilder, die es aus Walters aktiver Zeit überhaupt noch gibt, immer und immer wieder über die Bildschirme geflimmert sind und ausschließlich triumphale Momente zeigen. Alle Legenden sind auf Fritz Walter zugeschnitten, er ist im öffentlichen Bild zum Inbegriff des edlen Kriegers und verlässlichen Gefährten geworden. Doch was befindet sich unter dem Heldengewand?

Reisen wir zunächst zum Ursprung des Walterschen Weltruhms, nach Bern. Der Kalender steht auf ebenjenem denkwürdigen 4. Juli 1954, die Zeiger der Stadionuhr gehen auf sieben Uhr zu. Der Mann mit dem durchweichten weißen Hemd schaut ehrfürchtig hinauf zum Rednerpult. Mit einem tiefen Diener ergreift er die Hand, die ihm vom Gratulanten im feinen Anzug, Fifa-Präsident Jules Rimet, gereicht wird. Das Haar, zwei Stunden zuvor noch sorgfältig aus der Stirn frisiert, hängt Fritz Walter nun in dunklen, nassen Strähnen bis über die Augenbrauen. Mit schleppendem Gang und gebeugten Schultern schleicht der pitschnasse Kapitän hinüber zu seiner Mannschaft. In der rechten Hand hält er den schlanken Goldpokal.

Geht so ein Sieger?

Am Spalier seiner Mitstreiter vorbei erreicht er Sepp Herberger, den trenchcoattragenden Vater dieses Erfolgs. Ihm will er die Trophäe in die Hand drücken, diese ungeheure Last. Doch der Chef will davon nichts wissen, er dreht seinen besten Spieler in einer energischen, fast barschen Geste am Arm halb um die eigene Achse. Fritz Walter muss nun Fotografen, Offiziellen, den Massen auf der Tribüne direkt in die Augen sehen. Die Öffentlichkeit wird ihren Blick nicht mehr abwenden. Der durchnässte Mann mit den traurigen Augen ist – auf ewig – der Weltmeister aller Deutschen.

Der Fußball der fünfziger Jahre ist durchtränkt von einem Geist der Bescheidenheit, den wir heute nicht mehr kennen. Doch Fritz Walter wirkt nicht nur in dieser Szene noch einmal wie ein Anachronismus seiner Zeit, wie ein Überbleibsel aus einer anderen Generation, die schon damals eigentlich nicht mehr existierte. Den höchsten Triumph, den ein Fußballspieler erreichen kann, nimmt er nicht ohne Stolz hin, aber mehr noch mit der für ihn typischen Schicksalsergebenheit, mit seiner charakteristischen, bisweilen an Selbstverleugnung grenzenden Demut. „Soll ich mich entschuldigen, dass wir gewonnen haben?“, fragt er einen Begleiter Jahrzehnte später, bevor er auf dem 70. Geburtstag von Ferenc Puskas sprechen soll. Schließlich sagt der Weltmeister zu den Besiegten: „Es wäre doch schön gewesen, wenn wir beide gewonnen hätten!“

Es ist keine Altersmilde, die ihn diese Worte sprechen lässt. Walter war stets eher fairer Sportsmann statt unerbittlicher Wettkämpfer. Der Turm in der Schlacht, ein unverwüstlicher Kämpfer oder nimmermüder Antreiber ist er nie gewesen. Im Innensturm des FCK und der Nationalelf spielte vielmehr ein fragiler Ästhet, der jederzeit mit einer Ballberührung, mit einer intuitiven Körpertäuschung das Spiel entscheiden konnte, in anderen Phasen aber auch unter der Last der Verantwortung schier zusammenzubrechen drohte. „Vor jedem wichtigen Spiel musste ich ihm symbolisch in den Hintern treten“, sagte sein Bruder Ottmar später.

Nicht nur vorab in der Kabine, sondern nicht selten auch mitten auf dem Platz – wie am 30. Juni 1951 im Berliner Olympiastadion. Der 1. FC Kaiserslautern liegt im Finale um die Deutsche Meisterschaft 0:1 gegen Preußen Münster zurück. Und Fritz Walter möchte verzagen. Also packt Ottmar Walter seinen älteren Bruder vor 85.000 Menschen an den Schultern, er zerrt und rüttelt an ihm. Er schreit ihm direkt ins Gesicht. „Stell dich nicht so an, Friedrich! Es ist doch überhaupt nichts verloren!“ Fritz Walter nickt und wirkt doch wenig überzeugt. Seine Haltung gekrümmt, kein Glaube an die Wende. Doch Bruder Ottmar, zwar jünger, doch immer auch größer, athletischer, überzeugter, lässt nicht locker. „Auf geht’s, Friedrich!“

Wenige Minuten später spurtet der Gescholtene mit dem Ball am Fuß über die Mittellinie, passt den Ball im letzten Moment nach rechts, zum anderen Walter, dem nie verzagenden Kämpfer im Schlagschatten der Lichtgestalt. Ottmars präziser Flachschuss schießt knapp über der Grasnarbe zum Ausgleich ins Netz. Am Ende steht der erste Meistertitel des 1. FC Kaiserslautern.

„Fritz brauchte diese Art von Aufmunterung, sonst wäre er in seinem Trott eingeschlafen“, sagt Helmut Rasch, der rechte Verteidiger der FCK-Meistermannschaft von 1951, der die Szene gut in Erinnerung hat. Erst wenn es lief, bei ihm und der Mannschaft, habe der Ballvirtuose sein ganzes Repertoire abrufen können: Finten, Dribblings, punktgenaue Pässe. Wie weggeblasen waren dann die lästigen Selbstzweifel, endlich ausgeblendet die ungeduldige, zehntausendfache Erwartung von den Rängen.

An Niederlagen trägt der hypersensible Sportsmann schwer, grämt sich tagelang. Im Oktober 1952 will er nach einer 1:3-Schlappe gegen Frankreich seine Karriere im DFB-Trikot beenden. Doch Sepp Herberger, der für Walter nicht nur Bundestrainer sondern unfehlbare Vaterfigur ist, winkt ab. Und Walter macht weiter – in stetem Gehorsam zum „Chef“. Einen Monat später führt er die deutsche Mannschaft in genialer Manier zu einem 5:1-Sieg gegen die Schweiz. Dennoch reist Fritz Walter auch zur WM 1954 voller Skepsis. Seine Frau Italia sieht sich genötigt, ihm einen Brief nachzusenden. Aufmunternde, Mut machende Zeilen, die Walter während des gesamten Turniers im Nachttischschränkchen aufbewahrt. „Lieber Schnuckelino…“, so beginnen die Zeilen, die er jeden Morgen als allererste liest.

Vielleicht spüren die Menschen um ihn herum diese Verletzlichkeit und Demut, die ihn jeden Sieg ungläubig, gleich einem Geschenk, in Empfang nehmen lässt.

Eine Demut vor dem Leben, vor den Menschen, die auch von der „großen Scheiße“ geprägt ist, wie Altkanzler Helmut Schmidt, zwei Jahre älter als Walter, den Weltkrieg typischerweise nennt. 319.000 Männer, die wie Walter 1920 geboren werden, sterben durch den Krieg – vier von zehn seiner Altersgenossen werden die fünfziger Jahre nicht erleben. Für Fritz Walter jedoch spielt der Fußball Schicksal. Herberger setzt sich zunächst für seine Abberufung von der Infanterie zur Soldatenmannschaft „Rote Jäger“ ein, die zwecks Truppenunterhaltung gegen den Ball tritt. Nach Kriegsende bleibt Walter der Abtransport in den sowjetischen Osten erspart, weil sich ungarische Lagersoldaten an seine Tricks beim 5:3 in Budapest vor dem Krieg erinnern. Ottmar dagegen ist im Ärmelkanal schwer verwundet worden, Horst Eckel hat seinen älteren Bruder an den Krieg verloren, der Vater der Liebrich-Brüder wurde als Kommunist interniert.

Es ist eine gezeichnete Generation, der Walter als Gallionsfigur vorsteht. Diese Männer wollen in den Jahren nach 1945 von Politik nichts wissen – und haben ein allenfalls verschämtes Nationalbewusstsein. Als in Bern das Deutschlandlied erklingt, schweigen Spieler und Trainer ausnahmslos, Fritz Walter steht mit verkniffenem Blick in der Reihe seiner Sportkameraden. Erst nach dem Finale von 1954 setzt der Umbruch ein. Uwe Seeler, Jahrgang 1936, debütiert im ersten Spiel nach der WM. Es kommt die Zeit derer, die fröhlich „Im Frühtau zu Berge“ pfeifend für ein Rasierwasser Reklame machen können. Den „54ern“ jedoch, den älteren unter ihnen zumal, wohnt ein heiliger Ernst inne. „Helden?“, pflegte Fritz Walter zu sagen, „Helden fallen im Krieg“.

Für Millionen Deutsche jedoch, die nach dem Krieg nach neuen, unpolitischen Vorbildern suchen, ist er genau das: ein Held. Hans-Christian Ströbele, heute Bundestagsabgeordneter der Grünen, lernt sein Idol als Steppke an der Hand seines Onkels kennen. Der heißt Herbert Zimmermann und ist als Finalreporter die Stimme zum WM-Triumph in der Schweiz. Ströbele erinnert sich an die Nähe, die damals zwischen Bewunderern und Bewunderten noch herrschen konnte. „Das waren alles normale Leute, von denen man sich auch vorstellen konnte, dass man ihnen einfach so auf der Straße begegnet. Sie waren zwar unsere Helden, aber keine abgehobenen Stars.“ Auch deshalb will er von Festschen Gründerthesen nichts wissen. „Ich glaube, wenn man mit Fritz Walter darüber reden könnte, wäre er überhaupt nicht erfreut. Diese Leute wollten Fußball spielen, ehrlich und fair, aber auch nicht mehr als das.“

Doch welchen Fußball spielte Fritz Walter eigentlich, was zeichnete ihn auf dem Platz aus? Beim Versuch, die fußballkünstlerische Genialität zu begreifen, die Ströbele wie Millionen andere faszinierte, können wir nicht, wie bei den heutigen Stars und Sternchen, auf fetzige YouTube-Kompilationen mit den tollsten Tricks und schönsten Toren zurückgreifen. Es sind die Worte der Anderen, auf die wir uns verlassen müssen – die Urteile derer, die dabei waren.

„Fritz war vorne im Dreck, ihm standen die Verteidiger ständig auf den Füßen“, sagt der damalige FCK-Keeper Willi Hölz und fügt hinzu, dass man Walters Fertigkeiten nicht hoch genug bewerten könne, alleine wegen der Position im offensiven Fünfer-Zickzack, die ihm das damals praktizierte WM-System zuschrieb. „Beckenbauer war dagegen hinten fein raus war und ließ andere die Drecksarbeit machen“, so Hölz. „Fritz bewegte sich anders als alle anderen, seine Beweglichkeit und Anlage, den Gegner zu täuschen, waren unnachahmlich. Er war immer ein, zwei Spielzüge voraus.“ Dazu habe ihn eine fast chirurgische Präzision bei ruhenden Bällen ausgezeichnet.

In wohl keinem Spiel offenbart sich diese Gabe in größerem Maße als beim WM-Halbfinale 1954 gegen Österreich. Deutschlands Kapitän ist beim 6:1-Sieg an fünf von sechs Toren beteiligt. Zwei auf den Punkt geschlagene Walter-Ecken verwerten Max Morlock und Ottmar, eine weitere Flanke gleich zu Beginn Hans Schäfer. Und zwei Mal verwandelt der deutsche Spielmacher selbst, jeweils vom Elfmeterpunkt und jeweils mit schlafwandlerischer Sicherheit. Die Fritz-Walter-Gala im Sankt-Jakob-Park macht alles erst möglich: Rahn-Tor, Zimmermann-Ekstase, Bern-Wunder.

Es ist eine Gala, die auf akribische Trainingsarbeit zurückzuführen ist. „Trotz aller Erfolge und seiner großen Berühmtheit trainierte Fritz am härtesten von uns allen“, erinnert sich Horst Eckel. „Er versuchte ständig, sich weiter zu verbessern.“ Im Verein wie in der Nationalmannschaft schiebt Walter ungezählte Sonderschichten, übt Ecken, Freistöße, schult am „vernagelten Tor“, einem Vorläufer der ZDF-Torwand, seine Schussgenauigkeit. Sagenhafte neun Treffer bei zehn Versuchen in die Öffnungen, die kaum größer sind als der Ball selber, attestiert ihm das „Sportmagazin“ bei einem Besuch auf dem Trainingsplatz im Februar 1953.

Sein technisches Meisterstück legt Fritz Walter im Oktober 1956 im Leipziger Zentralstadion ab, beim deutschdeutschen Vergleich mit Wismut Karl-Marx-Stadt. 120.000 Menschen schauen dem FCK-Kapitän dabei zu, wie er eine Ecke im Flug mit der rechten Hacke in den Winkel schlägt. Nur seine Mitspieler wissen, dass dem Kunststück unzählige Fehlversuche auf dem Ascheplatz am Betzenberg vorausgegangen sind. „Die Bälle landeten überall, nur nicht im Tor“, erinnert sich Helmut Rasch. „Und dann“, schwärmt Rasch, „hat er den Mut, das vor hunderttausend Leuten zu machen!“ Ein schier unmöglicher Treffer, der durch miserables Flutlicht und einen dichten Regenschleier zusätzlich erschwert wurde.

Doch der Regen ist Fritz Walters bester Freund. Wenn es schüttet wie aus Eimern, Ball und Rasen glitschig sind, als seien sie mit Schmierseife überzogen, kann er seine unvergleichliche Ballbehandlung in einen noch größeren Vorteil ummünzen als sonst. Es ist das Wetter, das nach ihm benannt wird.

So wie das Stadion, in dem er schon mit kaum zwölf Jahren die Kaiserslauterer begeisterte. Schon in den Dreißigern gingen die Leute ein paar Stunden eher ins Stadion, um „’s kläh Fritzje“ zu sehen. Hagen Leopold, der für die „Initiative Leidenschaft FCK“ tausende Exponate aus der Walter-Zeit aufgespürt hat, kennt diese und unzählige andere Anekdoten aus jener Zeit. „Schon vor dem Krieg war ein Bild vom FCK entstanden, das immer nur die Führungsperson Fritz Walter kannte“, sagt er.

Ab 1945 dann, Kaiserslautern liegt in Trümmern, schart Fritz Walter die alten Kameraden um sich. Er ist der selbstverständliche Vater der „FCK-Familie“, mit kleinen Gesten weckt er lebenslange Loyalität. Als der blutjunge Horst Eckel Anfang 1950 zum ersten Mal bei den Profis mittrainieren darf, wählt er ihn beim abschließenden Spielchen als allerersten in seine Mannschaft. „Ich dachte, er will mich einfach aufmuntern, aber das machte er dann bei jedem Training“, erinnert sich Eckel.

So wie Eckel zu ihm emporblickt, so schaut Walter Zeit seines Lebens zu Sepp Herberger auf. In seiner steten Beziehung zum Bundestrainer, der 1948 gar sein Trauzeuge wird, zeigt sich ein Grundzug des Walterschen Charakters. „Ich bin mein Leben lang Mensch geblieben“, sagt er oft über sich. Das bedeutet vor allem: Fritz Walter ist sein Leben lang der gleiche Mensch geblieben. In Kaiserslautern ist er, der „zeitlose Antistar“, wie ihn die „Neue Zürcher Zeitung“ einst nannte, über die Jahre unverändert der Mann von nebenan, der Wäscherei- und Kinobesitzer. In der kleinen Pfälzerstadt dreht sich keiner um, wenn er mit Italia durch die Innenstadt schlendert, und niemand schaut verwundert, wenn er am Einlass seines „Universum“ steht und geduldig die Karten abreißt.

„Er hat nie den Frisör oder Metzger gewechselt“, sagt Hans-Peter Schössler. Für den heutigen Chef von Lotto Rheinland-Pfalz mündete die langjährige berufliche Zusammenarbeit mit dem DFB-Ehrenspielführer in eine enge Freundschaft. „Fritz hatte für alle ein liebes, aufmunterndes Wort“, so Schössler. „Einen solchen Menschen musste man einfach mögen.“

Fritz Walter, der Mann von nebenan. So vertraut ist er, der Fritz, den Leuten, dass paradoxerweise die Langform seines Namens zur intimen Anrede wird. Friedrich, so nennen ihn nur enge Freunde.

Die Kehrseite der Gutmütigkeit: Das Wörtchen „nein“ ist ihm fremd. Selbst im hohen Alter noch signiert der Fußballstar von einst Sektflaschen, Bücher und Sponsorenpost, stapelweise, stunden- und tagelang.

Bei aller Bescheidenheit schafft der begnadete Erzähler Walter sich selbst mit den zahlreichen Veröffentlichungen unter seinem Namen schon früh einen mächtigen Resonanzraum für seinen Ruhm. Mit Werken wie „3:2. Das Spiel ist aus!“ oder „Spiele, die ich nie vergesse“ begleitet Walter im Laufe der Jahre als Co-Kommentator seine eigene Laufbahn. Spielszenen kann er auch Jahrzehnte später wie einen inneren Film abrufen. „Wenn Fritz von früher erzählte, vergingen zwei Stunden wie fünf Minuten“, schwärmt auch Miroslav Klose, der 41 Jahre nach Walters Karriereende für den 1. FC Kaiserslautern debütierte und mit glänzenden Augen von den Treffen mit den Weltmeistern von 1954 berichtet.

1958 spielt Fritz Walter seine zweite und letzte WM. Der Krieg hat ihm die besten Jahre als Fußballer genommen. Die dominante Persönlichkeit wie vier Jahre zuvor ist der fast 38-Jährige in Schweden nicht mehr, die schwachen Nerven jedoch sind treue Gefährten. In den Halbzeitpausen der WM-Partien versucht sich Walter, mit einem Glas Sekt Beruhigung einzuflößen. Es will nicht recht gelingen. Nach einem bösen Foul des linken schwedischen Läufers Sigvard Parling im Halbfinale wird er von zwei Betreuern vom Platz getragen – es bleibt sein letztes Länderspiel.

In den Jahren nach der Karriere kommen die persönlichen Fernziele, alle verbunden mit seiner geliebten Italia: Goldene Hochzeit, 80. Geburtstag. Dass er zusammen mit seiner Frau auf das Millennium anstoßen kann, macht Fritz Walter überglücklich. „Er sprach schon Jahre vorher davon, wie es sein muss, wenn vorne eine 2 statt einer 1 steht“, sagt Hans-Peter Schössler, „das war sein Sinn für das Geschichtsträchtige, für das, was bleibt.“

2 nach 1: Das verblüffend simple Weltbild eines Mannes, dem sein Wohnort, das verschnarchte 2.500-Seelen-Dorf Alsenborn, nie zu klein wurde, eines Mannes, dem die große Bühne nie ganz geheuer war, obwohl er derart auf ihr glänzte. Natürlich hat er selbst Geschichte geschrieben, Fußballgeschichte zumal, und das wie kaum ein zweiter. Fritz Walter hat, wenn wir im Bild bleiben wollen, der 1 die 2 nachfolgen lassen, als Spieler, der den Übergang zwischen Vor- und Nachkriegszeit symbolisiert – oder besser: den Nicht-Übergang. Weil sich Fritz Walters Welt, die Welt seines geliebten Fußballs, zwischen 1939 und 1945 nicht änderte, während alles um sie herum zerstört wurde, muss sein (Über)leben und Wirken von den Zeitgenossen wie ein Ausdruck der Beständigkeit, des „es geht doch weiter“ empfunden worden sein. Vielleicht ist dies dann sein größter Verdienst: den Menschen, die noch unter der Schwere des Kriegs und seinen Folgen litten, aufs neue die Leichtigkeit und Unbeschwertheit aufgezeigt zu haben, mit der dieses Spiel gespielt werden kann. Sicher ist, dass er sich darüber nicht im klaren war, sondern einfach nur Fußball spielen wollte. Fairen, ehrlichen Fußball.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen großen Fußballer und Menschen – auch bei seinen Erben im roten Jersey, die nach der Walterzeit fast 40 Jahre brauchten, um wieder Meisterhaftes zu vollbringen. In typischer Art adelte der Ahnherr des Pfälzer Fußballs dann seine Nachfolger. Auf der Weihnachtsfeier nach dem Titelgewinn 1998 beschied Friedrich, der Große, dem kleinen Brasilianer Ratinho, seinem Nachnachfolger auf Halbrechts: „Mäuschen, ich habe zwar mehr Tore als du geschossen, aber du bist der bessere Techniker.“ Der wusste erst gar nichts zu entgegnen und blickte verschämt zu Boden. „Fritz“, brachte das Mäuschen schließlich hervor, „ich bin nur ein Teil dieser Geschichte. Aber du – du bist die Geschichte.“

Allen Zweiflern zum Trotz

– Miroslav Klose spielt zum 100. Mal für Deutschland

(Tsp) – „Hallo, ich bin Miro.“ Wie er einem so gegenüber steht, dieser schmächtige Mensch mit den großen Augen, ist er der verlegene Nachbar von nebenan. Kurz darauf, am mächtigen Konferenztisch, droht er in seiner Daunenweste zu versinken, wirkt noch kleiner als bei der Hymne direkt neben Per Mertesacker. Miroslav Klose sitzt in einem schmucken Raum an der Säbener Straße und erzählt. Es ist Mitte März, München kalt und regnerisch. Und Fußballdeutschland setzt keinen Pfifferling auf den Torschützenkönig der letzten WM. Für den FC Bayern hat er kaum gespielt und noch seltener getroffen. Wie soll uns so einer in Südafrika weiterhelfen?

„Ich wusste immer, was ich kann“, sagt Klose in leisem, aber bestimmten Ton.

„Und auch“, wie er hinzufügt, „dass ich mich überall durchsetzen kann.“ Blaubach, Homburg, Kaiserslautern, Bremen, München – die Karrierestationen des Spätberufenen, der nie in einer Jugendnationalmannschaft gespielt hat. Einmal kommt sein Trainer am ersten Abend eines Lehrgangs ins Zimmer und bittet Klose darum, die Sachen zu packen: „Am besten, du suchst dir einen gescheiten Beruf“, lautet seine Empfehlung. Klose schaffte es doch ins Profigeschäft, die Zweifler aber blieben: Klose, der Mann, der Ailton nicht ersetzen kann, der nie gegen einen Großen trifft, der ewige Zauderer und Zögerer vor dem Tor. Klose ist im Grunde ein ewig Verkannter, und er weiß das auch.

Die Geschichte mit dem Salto erzählt auch etwas über Zweifel und Ehrgeiz. Wie kam Klose also zu seinem speziellen Torjubel? „Durch eine Wette“, sagt er. Als er noch ein unbekannter Amateurkicker bei der SG Blaubach-Diedelkopf war, Bezirksliga Westpfalz, habe ein Mannschaftskamerad seine Tore stets so bejubelt. „Wenn ich mein erstes Bundesligator mache“, sagt Klose eines Tages zu ihm, „mache ich auch einen Salto“. Die Reaktion? „Alle haben sich kaputt gelacht – natürlich.“ Weil sie ihm weder das Kunststück noch das Zeug zum Bundesligaspieler zugetraut hätten. „Ich habe noch ein paar Jahre Zeit, bis dahin habe ich mir den schon beigebracht“, gibt Klose nur zurück. Und fängt an, den Salto zu trainieren. Mittlerweile hat er ihn in allen großen Stadien Europas gezeigt.

Steiler und rasanter hätte der Aufstieg von der siebten Liga in die Nationalelf kaum verlaufen können. Klose schaffte ihn zwischen 1998 und 2001. Nach dem Training mit den FCK-Amateuren schaute er immer bei den Profis zu. „Ich ging mit dem Gefühl nach Hause: So ein großer Sprung ist das gar nicht mehr“, sagt Klose rückblickend.

Im März 2001, knapp ein Jahr nach dem Bundesliga-Debüt, bestreitet er sein erstes von bisher 99 Länderspielen. Mit leuchtenden Augen erzählt Klose von seiner DFB-Premiere: mühselige WM-Qualifikation gegen Albanien in Leverkusen. Eine Viertelstunde vor Schluss eingewechselt, trifft der damals 22-Jährige zwei Minuten vor Schluss zum 2:1-Sieg. „Carsten Jancker schüttelte mich so durch, dass mir erst mal schwarz vor Augen wurde“, lacht Klose.

Carsten Jancker – ein Name wie aus einer anderen Zeit. Bei der WM 2002 sank Janckers Stern. Der von Klose ging mit fünf Toren auf.

Schiedsrichter unter der Lupe

– Die Abseitstore bei der WM lösen heftige Debatten aus.

(Tsp) – Wenn es doch so einfach wäre wie damals bei Hennes Weisweiler. „Abseits is‘, wenn dat lange Arschloch zu spät abspielt“, so die simple Regelkunde des Gladbacher Kulttrainers. Günter Netzer, den Weisweiler meinte, trägt dieser Tage höchstens verbal zur Debatte bei, die wieder einmal um Passus 11 des Fifa-Regelwerks entbrennt.

Mexiko gegen Frankreich. Nach einem Steilpass steht Javier Hernandez plötzlich ganz alleine in der gegnerischen Hälfte und schiebt locker zum 1:0 ein. Abseits! Oder? Neuseeland gegen Italien: Shane Smeltz befindet sich bei der Kopfballverlängerung seines Teamkollegen Reid einen Schritt näher zum Tor als alle anderen.

Der Treffer zählt. Argentinien gegen Mexiko: Carlos Tevez, so zeigt das Standbild zweifelsfrei, ist der letzte Spieler vor der Torlinie. Das Tor zählt. Spanien gegen Portugal. Xavi passt den Ball zu David Villa, der trifft im Nachsetzen. Doch auch hier: Abseits, hauchdünn.

Kein Lapsus der Unparteiischen entgeht den Beobachtern. Auch dank modernster Technik: Kameras in der Fluchtlinie der Strafraumgrenzen, gestochen scharfe Standbilder und die mittlerweile obligate Computerlinie, die das Spielfeld auf Knopfdruck in Hell und Dunkel, Gut und Böse unterteilt, erleichtern den Unbeteiligten die Entscheidung.

Das erhöhe den Druck auf das Schiedsrichtergespann deutlich, sagt Eugen Striegel, ehemaliger Bundesligaschiedsrichter und heutiges Mitglied der DFB-Schiedsrichterkommission. „Früher gab es nur eine Hauptkamera in der Mitte des Spielfeldes, die konnte solche Situationen gar nicht auflösen“, kommentiert er die Diskussion um den spanischen Führungstreffer gegen Portugal. Striegel erklärt die schwierige Aufgabe der Assistenten an den Seitenlinien: „Zum einen müssen sie das Abspiel im Auge behalten, gleichzeitig aber auch den Spieler. Das ist kaum möglich.“

Weil auch das Spiel immer schneller wird und kaum eine Mannschaft nicht auf Abseits spielt, entscheiden immer öfter Zehntelsekunden und Zentimeter. Der Mexikaner Hernandez stand bei der Ballabgabe Fuß an Fuß mit dem französischen Verteidiger, nur sein Oberkörper ragte in die Abseitszone. „Alle Körperteile, mit denen man ein Tor erzielen kann, sind ausschlaggebend“, erklärt Striegel. Eigentlich also ein irreguläres Tor. Aber erneut eine mehr als schwierige Entscheidung für den Linienrichter.

„Im Zweifel für den Stürmer“ ist ein Satz, den man zu diesem Thema oft hört. Striegel sagt: „Das wird immer dann angeführt, wenn ein Assistent mal gleiche Höhe abwinkt. Bei strittigen Toren wird das höchstens am Rande mal erwähnt.“

Um ganz sicher zu gehen, kann man es machen wie die Deutschen. Abstoß Neuer, Tor Klose. Denn: Beim Torabstoß gilt – genau wie bei Einwürfen und Ecken – die so heiß debattierte Abseitsregel nicht.

„Mein Bauchgefühl ist grundsätzlich negativ“

– WM 2010: Warum Lutz Mathesdorf die Niederlage gegen Serbien verursacht hat

(Tsp) – Andreas Brehme ist schuld. Seinetwegen ist Lutz Mathesdorf gelähmt. Am ganzen Körper. Bei jedem Länderspiel. „Los ging es 1990 mit dem 1:0 gegen Argentinien. Ich verfiel plötzlich in völlige Starre“, erzählt der Fan der Nationalmannschaft. Seine Kumpels schenkten sich während des Endspiels von Rom einen Schnaps nach dem anderen ein, rutschten auf und ab vor Nervosität, doch Mathesdorf rührte sich keinen Zentimeter. Brehme traf kurz vor Schluss per Elfmeter, Deutschland war Weltmeister. „Seitdem ist das mein Tick“, sagt er und klingt schicksalsergeben und entschlossen zugleich.

Mathesdorf wiederum hat die deutsche Niederlage gegen Serbien verschuldet.

Nach dem Australien-Spiel hat er sich ein neues Sofa gekauft – und mit dieser unverantwortlichen Tat alles aufs Spiel gesetzt. „Auf dem neuen habe ich noch nicht die Glücksposition gefunden“, sagt er zerknirscht. Ebenso wenig wie Löws Auswahl in Südafrika.

Viele Fußballfans sind abergläubisch, rasieren sich nie an Spieltagen oder ziehen immer wieder das gleiche ungewaschene Trikot an. Der Aberglaube von Lutz Mathesdorf, der als Zeichner der „Jogis Löwen“-Comics ohnehin eine besondere Beziehung zur DFB-Elf hat, äußert sich auf noch skurrilere Weise. Er weiß das selbst. „Ich bin ein bisschen mehr Hardcore als die anderen“, gibt er zu. Mit der kleinsten Bewegung kann er das Spiel negativ beeinflussen, so sein fester Glaube. Selbst zu Hause vor dem TV. „Nach vorne gelehnt, ein bisschen in Lauerstellung“, beschreibt der Fan mit dem Hang zur Fußballstarre die aktuelle Idealposition. „Lang aufs Sofa legen geht gar nicht!“ Die erste Hälfte gegen Serbien habe er so zugebracht: „Wir alle wissen, was passiert ist.“

Wenn Deutschland spielt, ist Mathesdorf ganz alleine. Seine Frau geht meist Besorgungen nach, die Kinder meiden ihren Vater. „Mein Sohn kam gegen Serbien rein, hat mein Gesicht gesehen und ist direkt wieder verschwunden.“ Freunde und Kollegen fragen schon gar nicht mehr nach. Nichts hasst Mathesdorf mehr als Public Viewing. Nur zwei Spiele hat er in großen Menschenmengen verfolgt: das WM-Finale 2002 gegen Brasilien und das Halbfinale 2006 gegen Italien. Ausgang erneut bekannt. „Das Italienspiel ist meine schlimmste Erinnerung“, sagt er, „ich war eine Woche lang nicht ansprechbar. Ich weiß gar nicht, wie ich auf die verrückte Idee gekommen bin, das draußen zu schauen.“

Für das Spiel gegen Ghana hat Mathesdorf ein schlechtes Gefühl. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. „Mein Bauchgefühl ist vorher grundsätzlich negativ. Den Vogel, der am Morgen singt, holt am Abend die Katze.“ Deshalb wird der reglose Deutschland-Fan am Mittwoch wieder alles geben. „Irgendwann fängt es an wehzutun“, sagt Mathesdorf über die selbst auferlegte Schockstarre. Die Körperhaltung für Ghana? „Ich fange an, wie ich gegen Serbien aufgehört habe. Das war ja am Ende nicht ganz schlecht.“

Und wenn Deutschland Weltmeister wird – endet dann Brehmes Fluch? „Nein“, sagt Mathesdorf bestimmt. „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!“

Die Zaunkönige

– Bei jedem Länderspiel der deutschen Nationalelf sieht man ihre Fahnen auf den Tribünen. „Air Bäron“ und „Dudenhofens Sohn“ reisen überall hin – auch nach Südafrika.

(Tsp, mit Ron Ulrich) – Die Post in Münster tragen dieser Tage andere aus. Frank Niemann hat Wichtigeres zu tun. Er zeigt in Südafrika Flagge. Schwarz-rot-gold, darauf mit weißen Lettern nur zwei Wörter: „Air Bäron“, eine Hommage an den früheren HSV-Stürmer Karsten Bäron. Es ist Frank Niemanns Visitenkarte am Kap. Seit 15 Jahren reist er der Nationalelf in alle Welt hinterher und hängt seine Fahne in die Kurve. „40, 50 Spiele“ mache er pro Jahr. HSV und Deutschland.

Für Niemann, den Fahnenträger, gilt das Gleiche wie für Niemann, den Postboten: Er muss schnell sein. Es geht darum, als Erster in der Kurve anzukommen, um einen möglichst guten Platz zu finden.

Nicht für sich selbst, sondern für die Fahne. Die Fifa macht das Leben nicht leichter, sie will keine Werbeflächen zugehängt haben. Die bequeme Lösung sei, das Banner am Oberrang zu befestigen, sagt Niemann. „Stress hat man nur, wenn man sie unten platzieren will.“ Doch unten, da wollen alle hin. Unten, das heißt: gut sichtbar für die Fernsehkameras.

Denn es geht natürlich schon auch ein bisschen um Ruhm und Ehre. „Air Bäron“ ist das bekannteste Markenzeichen der Szene, die in Südafrika derzeit mit rund 40 bis 50 Leuten vertreten ist. Der harte Kern. Beim Auftaktspiel der Deutschen gegen Australien hatte Niemann den Nachteil der späten Anreise und musste mit einem Platz hoch oben im Stadion von Durban vorliebnehmen. Zum Serbien-Spiel will er rechtzeitig vor Ort sein, die 1000 Kilometer nach Port Elizabeth wollen zügig zurückgelegt werden.

Nicht nur die Spiele der Deutschen stehen auf dem Programm. „Neun von zehn Stadien zu sehen, das ist das Ziel“. Ihm ginge es aber nicht darum, möglichst viele WM-Partien abzuklappern, erklärt der Weltenbummler in Sachen Fußball. „Hauptsache, man erlebt hier viel“. In Südafrika trifft er auch Fans mit noch skurrileren Geschichten. Einer ist von Deutschland bis ans Kap gelaufen. „Das ist noch ein bisschen bekloppter“, schmunzelt der deutsche Zaunkönig.

Nach dem Achtelfinale geht Niemanns Rückflug. Eigentlich. „Wir bleiben bis zum bitteren Ende“, sagt er. Erfolgreiche Urlaubs-Nachverhandlungen mit dem Chef vorausgesetzt.

Das Feilschen um den Urlaub gab es auch in Dudenhofen bei Speyer. Dort arbeitet Michael Malmer bei einem Online-Shop. In der Kurve ist Malmer „Dudenhofens Sohn“. Zwei Wochen Urlaub für Südafrika hat er herausgeschlagen, natürlich auch mit Option auf mehr, falls Deutschland noch weiterkommt. Am kommenden Wochenende geht es los, doch von großer Vorbereitung noch keine Spur: „Ich habe mich impfen lassen, das ist alles.“

Koffer packen? „Das mache ich einen Tag vorher.“ Hotel? „Darum kümmern sich die Kollegen vor Ort.“ Karten? „Da soll es vor dem Stadion immer Möglichkeiten geben.“ Man merkt: Malmer ist Profi unter den deutschen Banner-Pionieren. Mit seiner Fahne ist er der Nationalelf nach Dubai, Schanghai oder Baku gefolgt. Was soll ihn noch schocken?

Seit zwölf Jahren ist Malmer Bannerträger, er war mit dem Fußball überall in der Welt. „Es ist dieses Abenteuergefühl, das mich fasziniert“, sagt er. „Man erlebt in der Gruppe jeden Tag etwas auf diesen Reisen.“

In Südafrika werden ihn fünf Bekannte aus der Fahnenszene erwarten, dann geht es mit dem Auto durchs Land. Im letzten Jahr bei der U21-EM in Schweden hat es Malmer so gut gefallen, dass der 28-Jährige trotz Arbeit drei Mal zwischen Deutschland und Skandinavien hin und her geflogen ist.

Damals holten die Deutschen den Titel. Im Wiederholungsfall in diesem Jahr würde der lange Turnierverbleib Malmer und Niemann rund 5000 Euro kosten. Aber das sei es wert, sagen die beiden. Man müsse halt bei Unterkunft und Flügen sparen, auch mal am Flughafen schlafen.

Und alles für einen guten Platz am Zaun. „Man muss schon verrückt in der Birne sein“, sagt Michael Malmer und lächelt.

Beten für den Klassenerhalt

– Hertha BSC ist abgeschlagen Tabellenletzter der Fußball-Bundesliga. Was liegt da näher als die Bitte nach göttlichem Beistand? Ein Gottesdienstbesuch in der Vereinskapelle. (ZEIT online)

„Für die Spieler von Hertha BSC: dass sie sich in Zukunft noch mehr zutrauen mögen, als sie das bisher vielleicht taten. Wir bitten dich, erhöre uns.“ Vor den letzten Worten hebt Gregor Bellin den Blick und die 35 Gottesdienstbesucher stimmen mit ein. Dass Bellin diese spezielle Fürbitte spricht, hat einen Grund: Der ökumenische Wortgottesdienst, den der katholische Diakon zusammen mit dem protestantischen Prälat Bernhard Felmberg leitet, findet nicht in einer herkömmlichen Gemeinde statt, sondern im Berliner Olympiastadion. Vor jedem Heimspiel kommen in der kleinen Kapelle Fußballfans zusammen, um gemeinsam zu singen und zu beten. Natürlich auch für Hertha.

Hertha BSC, das derzeit größte Sorgenkind des Berliner Sports, hat die Gebete nötig. Selbst die Leiden Hiobs scheinen erträglicher als das, was die Mannschaft den Zuschauern und sich selbst in der ersten Hälfte der Saison zugemutet hat. Tabellenletzter mit großem Rückstand.

Schließen die christlichen Fans deshalb die Hertha besonders in ihr Gebet mit ein? „Klar“, sagt ein Besucher des Gottesdienstes, „das macht wohl jeder von uns.“ Als Fußballfan sei es für ihn „eine tolle Sache“, dass er vor dem Spiel seine Gedanken an Gott wenden und direkt danach das Geschehen auf dem Rasen verfolgen könne. „Die Gemeinschaft ist wichtig, in der Gemeinde genauso wie unter uns Fans“, fügt Thorsten Heinrich hinzu. Er ist Mitglied im Fanclub „Totale Offensive“ und besucht die Messe regelmäßig mit anderen Mitgliedern der Spandauer Josuagemeinde. Auf der Website der gläubigen Hertha-Fans ist der Christenfisch abgebildet – in Weiß auf blauem Grund. Darunter findet sich der Leitspruch „Gegen den Strom“.

Gegen den Strom schwimmen auch die Spieler des besten Fußballvereins der Hauptstadt in der Rückrunde, eigentlich kann nur noch ein mittelgroßes Wunder dem Verein aus dem Keller helfen. In seiner Predigt greift Prälat Felmberg die Kellermetapher auf. „Jesus Christus ruft uns zu: Euer Herz erschrecke nicht!“, zitiert er die Jahreslosung, um dann die verfahrene Situation der Berliner Fußballer mit scheinbar aussichtslosen Lebenslagen zu vergleichen, in die der Lichtstrahl Gottes dennoch hereinscheint. „Stufe für Stufe können wir uns daran emporziehen“, ruft Felmberg mit fester Stimme der kleinen Gemeinde zu. Nach der Predigt erklingt Ein feste Burg ist unser Gott, die Nummer 362 aus dem Gotteslob.

An den Lichtstrahl Gottes zu glauben fällt in diesen bitterkalten Wintertagen den Hertha-Anhängern schwer. Explizit für Punktgewinne ihrer Mannschaft beten die Kapellenbesucher aber nicht, wie sie sagen, „sondern eher dafür, dass die Spieler von Verletzungen verschont bleiben und neue Kraft und Motivation schöpfen“, sagt Heinrich. „Das Leben geht weiter, auch wenn Hertha absteigt“, ergänzt ein anderer Besucher.

„Ich bete nicht für Hertha-Siege“, sagt auch Diakon Bellin. „Den Fußballgott, wie Rudi Assauer ihn einmal beschrieben hat, gibt es für mich nicht, ich habe einen anderen Gottesbegriff.“ Schon seit vier Jahrzehnten pilgert Bellin mit den Massen ins Olympiastadion, die meiste Zeit davon als Fan, seit anderthalb Jahren auch in offizieller Funktion als Geistlicher. An den Zusammenkünften im Namen Gottes vor dem Spiel fasziniert ihn der Querschnitt aus allen Schichten. „Es kommen Leute von der Ehrentribüne genau so wie aus der Ostkurve“, schwärmt er. „Das finden Sie in keiner normalen Gemeinde.“

Unmittelbar vor Spielbeginn stellt sich Bellin an den Ausgang der Katakomben, um den Spielern noch einmal in die Augen zu schauen, dem einen oder anderen Mut zuzusprechen. Je entschlossener die Herthaner dem Diakon Bellin in die Augen sehen, desto ruhiger kann der Fan Bellin die 90 Minuten angehen. „Die Körpersprache sagt sehr viel aus.“

Glaubensgemeinschaft Hertha mit Diakon Gregor Bellin
© Hertha BSC

Glaubensgemeinschaft Hertha mit Diakon Gregor Bellin

Bei aller Leidenschaft ist die Grenzziehung zwischen Fan-Sein und Geistlichkeit klar. „Im blauweißen Ornat werden Sie mich nicht sehen“, sagt Bellin. Religion und Fußball, das ist für ihn eine natürliche Verbindung. „Ich war ja sowieso bei jedem Heimspiel im Stadion.“ Seit der Saison 2008/09 eben nicht mehr in der Ostkurve, sondern auf der Haupttribüne – „wegen der kurzen Wege“, wie er sagt. Das kirchliche Angebot im Stadion besteht für alle Fans. Zwischen vierzig und sechzig Leuten kämen im Schnitt. Einmal sei so viel los gewesen, dass zwei Gottesdienste hintereinander abgehalten wurden. Dass jetzt, in der größten sportlichen Krise, mehr Leute kämen, will Bellin dagegen nicht bestätigen.

„Meine Kumpels stehen immer noch da drüben“, fügt der Fünfzigjährige mit einer Handbewegung auf die Ostkurve hinzu, wo der harte Kern des Berliner Anhangs gegen die klirrende Kälte anhüpft. Die Mannschaft quält sich zu einem 0:0 gegen Borussia Mönchengladbach. Obwohl Bellin vor dem Spiel entschlossene Blicke bei den Herthanern gesehen haben will, ist auf dem Platz kein Elan zu erkennen.

In der Halbzeit flitzt Gregor Bellin schnell nach oben in die Ehrenloge, schüttelt ein paar Hände, isst eine Currywurst. Am gleichen Stehtisch lässt es sich Otto Schily schmecken. Viele, die mit Hertha zu tun haben, kennen Bellin, begrüßen ihn mit einem freundschaftlichen Händedruck, auch zwei Gottesdienstbesucher von vorhin sieht der Diakon hier oben wieder.

Der Kontakt zu Spielern und Funktionären des Clubs sei sehr gut: „Wir werden vom Verein sehr stark unterstützt.“ Dazu gehört unter anderem die Ausstattung der Geistlichen mit Arbeitskarten, die den reibungslosen Zugang zu allen Stadionbereichen garantieren. Eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle bringt die Kapellenbesucher hinunter in den geschützten Bereich zwischen „Players Lounge“ und Pressezone.

Schon fünf Minuten vor dem Schlusspfiff eilt Bellin hinunter, zusammen mit Prälat Felmberg steht er Spalier für die enttäuschten Kicker. Die meisten gehen mit versteinerter Miene an den Geistlichen vorbei, die beide einen Hertha-Schal um den Hals hängen haben – es könnte fast eine Stola sein. Während die bekanntesten Gesichter noch von den Medien ausgefragt werden, hält Bellin ein kleines Schwätzchen mit dem Hertha-Präsidenten Werner Gegenbauer.

Mit ein paar Spielern verabreden sich die beiden für ein kurzes Gebet in der Kapelle. „Akutseelsorge“ nennt Felmberg das, es ginge oft schlicht um eine „emotionale Entlastung“. Nach praktisch jedem Spiel nähmen drei, vier Spieler und Betreuer das Angebot wahr. Bellin erzählt auch die Geschichte eines ehemaligen Hertha-Spielers, der sich vor einer Partie eine Segnung durch den Diakon erbat. Als der dies im nächsten Spiel versäumte und sich der Profi prompt verletzte, ging es nicht mehr ohne Kreuzzeichen vor dem Anpfiff. „Da verbindet sich teils auch Aberglaube mit Gottvertrauen“, sagt Bellin.

Dass die Sportler fest an etwas glauben, scheint wichtiger als die Frage, woran genau. Auch das berühmteste Bild, das in der Kapelle entstand, beantwortet die Frage nicht. Das preisgekrönte Foto wurde vor dem Weltmeisterschaftsfinale 2006 aufgenommen und zeigt den italienischen Spieler Gianluca Zambrotta, der in Spielkleidung und mit einem Ball unter dem Arm auf einem der schlichten Hocker sitzt und andächtig zum Altar blickt. Wofür er gebetet hat, weiß Bellin nicht. „Aber das Ergebnis ist bekannt.“