Stell dir vor, es ist Derby…

– Hertha gegen Union, die Rivalität lebt in der vierten Liga fort – im ganz Kleinen. Ein Ortsbesuch

Es sind wirklich viele Polizisten da. Sehr viele Polizisten. Wannen, die am Falkplatz stehen. Wannen, die vor der Haupttribüne stehen. Wannen, die quer im Weg stehen. Ja, sogar: Ein Wasserwerfer. An allen Einlasstoren: Schwarze Uniformen über Schutzpolstern. Derbykleidung.

Hertha gegen Union. Charlottenburg gegen Köpenick am Mauerpark. Hat doch was, oder? Auch wenn es, hier in der vierten Liga, nur das kleine Derby ist, das der U23-Teams, „der Zweeten“, wie die Leute auf der Tribüne sagen.

Ein sind wirklich ein paar Fans gekommen. Vielleicht nicht so viele wie Polizisten, aber immerhin. Die Minuten vor dem Anpfiff. Zeit des Pop. Lana del Rey spielt Videospiele, Lykke Li folgt Flüssen. Hier folgt man den Blauen oder den Roten. Unten knippern zwei Hertha-Fans ein Banner an den Zaun. „Supporters U23“ steht drauf. Nach wenigen Sekunden nehmen die beiden es wieder ab. Dann hängen sie es falsch herum wieder auf. Die Schrift steht nun auf dem Kopf. Vielleicht ein Statement. Man wüsste gerne, wofür.

Der Stadionsprecher verliest die Aufstellungen. Applaus bei Herthas Nummer 30: „Andreas, Zecke, Neuendorf!“ Der Altmeister sitzt auf der Bank. Kann aber jederzeit kommen. Eine 37 Jahre alte Kampfansage.

Es plätschert dann so ein bisschen dahin. Irgendwann: Freistoß Hertha. „Ronnyyyyyy!“, brüllt einer los. „Ronnyyyyyy!“, antworten ein paar andere. Gelächter. Wer weiß, wo der Brasilianer gerade ist, hier ist er natürlich nicht. Union macht kurz darauf das 1:0. Wichtiger Treffer im Abstiegskampf. „Cottbus hat schon gegen Halberstadt verloren“, sagt einer auf der Tribüne.

Foul, ein Roter am Boden. „Scheiß Unioner!“, ruft ein Glatzkopf. „Hau ihm auf die Fresse!“ Kann man sehr gut hören im ziemlich leeren Jahnsportpark. „Genau! Immer ruff!“, antwortet ein Unioner. Gelächter. Gut zu wissen: Keiner nimmt hier irgendwen ernst.

Und dann ist Ronny plötzlich doch da. Unten am Zaun. Das Trikot mit der Nummer 12 spannt. Ronnys Körper ist eher birnenförmig. Ronny hat einen Rucksack dabei, daraus holt er Schal um Schal und knotet sie sich an die Unterarme. Irgendwann hat er an jedem mindestens fünf. Halbzeitpfiff. Ronny klatscht.

Pausen-Unterhaltung auf dem Klo: „Ey, nicht vordrängeln!“ – „Jaja, okay.“ – „Ehrlich, das ist U23. Hier fällste uff.“

Union ist auch danach besser, Herthas Abwehr ist weiter desolat, bald steht es 2:0. Ein alter Mann mit Arcor-Kappe ruft: „Wir steigen auf und ihr bleibt hier!“ Stille. Dann ruft er: „Wir fahren nach Bayern und ihr nach Ingolstadt!“ Ronny wedelt mit einem Deutsche-Bahn-Fähnchen. Er ist nur von hinten zu sehen. Aber er sieht traurig aus. Wie einer eben, der an einem Donnerstagabend in einem leeren Stadion sitzt und mit einem Deutsche-Bahn-Fähnchen wedelt.

Andreas Neuendorf zieht sich die Trainingsjacke aus. Es ist jetzt Zecke-Zeit. Er steht schon auf der Tartanbahn, da fällt das 3:0. Zecke streicht sich über den Scheitel. Er weiß, er ist keine Kampfansage mehr, er ist jetzt nur noch eine Durchhalteparole.

Sagt ein Vater zu seinem Sohn: „Wären wir mal lieber nach nebenan gegangen.“ Nebenan, in der Schmeling-Halle, spielen gerade die Berlin Recycling Volleys. Da ist immer was los. Klatschpappen und alles. Hier singen jetzt 50 Mann: „Eisern Berlin!“ Eine vorbei laufende Polizistin beschwert sich über den Kaffeepreis. Rechts starten die Maschinen vom Flughafen Tegel in den Abendhimmel. Links steht ein Baukran. Vielleicht, denkt man sich, kriegt jede Stadt dann doch die Derbys, die sie verdient.

Vater und Sohn packen ihre blau-weißen Schals in die Tasche und gehen nach Hause. Das Spiel ist aus. Die Fans wollen noch abklatschen. Man kann sie zählen. Es sind genau sieben. Die Spieler huschen schnell vorbei. Nur Zecke bleibt länger stehen. Er unterhält sich mit den Jungs vom verkehrten Banner. Ein paar Meter weiter steht Ronny. Er hat seine Hand durch den Zaun gestreckt und wartet geduldig.

Das große Missverständnis

– DFB und Fans entfremden sich immer mehr – neue Eskalationen drohen

Berlin (dapd). Vor einem Jahr hatten sie noch an einem Tisch gesessen, am Dienstag sprachen sie auf zwei streng getrennten Podien. Schon rein optisch wurde die Diskrepanz deutlich: Im Berliner Hotel Intercontinental saßen die Vertreter von Fußballverbänden und Politik in ihren dunklen Anzügen, kurz zuvor hatten im Hotel Palace eine Ecke weiter die kunterbunt gekleideten Fanvertreter zu einer etwas chaotischen Gegenveranstaltung geladen. Im Sommer 2011 haben sich die beiden Seiten noch scheinbar konstruktiv ausgetauscht. Im Sommer 2012 reden sie aneinander vorbei.

DFB-Präsident Wolfgang Niersbach sagte nun „Gewalt und Pyrotechnik“ auf den Rängen der deutschen Arenen den Kampf an und formulierte eine „Null-Toleranz-Politik“, die künftig beherzigt werden soll. Fanverteter, die hinterher von einem „Schlag ins Gesicht“ sprachen, hatten schon vorher kritisiert, dass sie nicht eingeladen worden waren zum Sicherheitsgipfel von DFB, Innenpolitik und den drei Profiligen. „Wir sind diejenigen, die am nächsten dran sind an der Kurve, wir erreichen diese Leute“, hieß es von der Organisation ProFans.

DFB und DFL aber setzen nach zahlreichen Vorfällen in und um die Stadien in den letzten Monaten nicht mehr auf den Dialog. Das Wort kam nur in einem Nebensatz von Ligaboss Reinhard Rauball vor, in der offiziellen Pressemitteilung versteckt es sich im allerletzten Statement. Stattdessen wird die Leine straff angezogen. Stadionverbote sollen bald wieder für fünf statt wie seit 2007 nur für drei Jahre ausgesprochen werden, „bei ganz schweren Fällen sind sogar zehn Jahre geplant“, sagte Rauball. Welche Vergehen gemeint sind, müsse noch „festgelegt werden“.

Doch werden verschärfte Sanktionen die Gewaltproblematik beheben können? Wird das strikte Verbot von Pyrotechnik, das von offizieller Seite bekräftigt wurde, die Feuer in den Kurven löschen?

Nein, findet Harald Olschok vom Bundesverband der Sicherheitswirtschaft (BDSW): Davon auszugehen, dass die Anhebung der Stadionverbotsdauer eine große Wirkung habe, sei „naiv“, sagt Olschok der dapd. „Um es populistisch zu sagen: Durch die Einführung der Todesstrafe verhindere ich keine Morde.“ Nein, findet auch Rene Lau von der AG Fananwälte. „Mit Stadionverboten bekommt man keine Befriedung hin. Das meiste passiert ohnehin außerhalb der Stadien“, sagt er der dapd. Die Fanprojekte der Klubs erhielten „keinen Cent mehr“ als bislang, stattdessen sei das eingetreten, was von Fanseite befürchtet worden sei: „Repressalien und verschärfte Bestimmungen“, sagt Lau. „Es herrscht Resignation bei den Fans, teils auch Wut.“

Diese Stimmung war schon vor der Bekanntgabe der Sicherheitsmaßnahmen greifbar gewesen. Mit auf dem Podium saß in Jannis Busse einer, der vor einem Jahr noch mit den DFB-Sicherheitsbeauftragten über Pilotprojekte zur Legalisierung von Pyrotechnik verhandelt hatte. Zu Saisonbeginn kündigte der DFB die Gespräche plötzlich auf, nach der mit wildem Bengalo-Einsatz begleiteten Randale beim Pokalspiel Dortmund-Dresden im Oktober formulierte der Verband schließlich ein klares „Nein“ zur Pyrotechnik.

„Man hat uns abgefertigt“, sagt Busse. Folge: Es brannte umso mehr auf den Rängen. Fananwalt Lau hofft, dass es nun nicht zu vermehrter Gewalt kommt. „Aber die Fans werden ihrem Ärger Luft machen, mit Transparenten und Choreografien.“

Die Zukunftsprognose zeichnet sich dunkel. Am Freitag beginnt mit dem Spiel der Traditionsklubs Arminia Bielefeld und Alemannia Aachen bereits die Drittliga-Saison. Die Stimmung auf den Stehplätzen dürfte nicht ruhiger werden. Zusätzlich zu notorisch gewaltbereiten Gruppen kommt eine wachsende Zahl verbitterter Ultras, die sich von den Verbänden vor den Kopf gestoßen fühlen.

Der DFB hat allein in den vergangenen zwei Monaten 20-mal Klubs für Bengalo-Einsatz, Platzstürme und Gewalt bestraft. Die Rekordmarke von über einer Million Euro an Strafgeldern aus dem vergangenen Jahr wird 2012 erneut übertroffen werden. Die von vielerlei Seite angemahnte „Versachlichung“ der Problematik, etwa der Differenzierung der Platzstürme in Düsseldorf und Karlsruhe, in ihrer Motivation völlig unterschiedlich, findet derweil nicht statt. Man spricht eben nicht mehr miteinander.

Für die Wand

– Union Berlin wirbt bei seinen Fans für die neue Stadionanleihe

Berlin (dapd). Das erwartungsvolle Raunen endet abrupt, als die Profi-Mannschaft des 1. FC Union Berlin pünktlich um 13.30 Uhr den Raum betritt. Es brandet nun lauter Applaus auf, der in rhythmische, stehende Ovationen mündet. Dabei stehen diesmal gar nicht die Spieler des Fußball-Zweitligisten im Mittelpunkt. Sie sitzen in den folgenden Stunden in Reihe zwei und drei, teils mehr, teils weniger gelangweilt. Union feiert sich selbst an diesem Sonntagmittag, sich und seine Ideale. Die Vereinsführung präsentiert den über 2.000 erschienenen Mitgliedern das Konzept, ihnen die Mehrheit des Stadions An der Alten Försterei in Aktienform anzubieten.

Zeitgleich will Union mit einer neuen Tribüne bis Sommer 2013 endlich zum modernen Fußball aufschließen. Schon als die Fans, die sich stolz „Unioner“ nennen, draußen noch Schlange gestanden haben, war drinnen, an den Wänden der Ballsporthalle Hämmerlingstraße, die Animation der geplanten neuen Haupttribüne an die Wand geworfen. Einen Steinwurf weiter soll sie dann mal stehen: Ein schicker dreistöckiger Backsteinbau mit aufragenden Dachträgern, der die drei bereits sanierten Tribünen verbindet. Die 3D-Ansicht erinnert ein bisschen an die Stadionausbau-Option früher Fußball-Manager-Computerspiele. Da konnte der Spieler selbst das Stadion formen, wie er wollte.

Völlig abseits der Köpenicker Realität ist das nicht. Die Fans haben hier schließlich bereits drei Viertel des Stadions weitgehend eigenhändig runderneuert. 140.000 ehrenamtliche Arbeitsstunden kamen in der Saison 2008/09 zusammen. Ein Beispiel mit großer Außenwirkung.

Zingler sagt, was den Fans gefällt

Präsident Dirk Zingler weiß das, weshalb er auch gleich zu Beginn die Verbindung herstellt. Das Tortenstück der derzeit 57 Prozent an Vereinsanteilen am Stadion kommentiert er so: „Hier steckt die Leistung der Stadionbauer drin, hier sind eure 140.000 Stunden drin. Dafür müssen wir noch lange Dankeschön sagen.“ Nun soll jeder Fan sich also ein Stück Alte Försterei zu Hause an die Wand hängen können. In Form einer Aktie. Eine lohnende Geldanlage dürfte sie dagegen für die wenigsten werden. Aber darum soll es auch gar nicht gehen.

Zingler ist verkabelt wie ein Fernsehmoderator, er trägt seriösen grauen Zwirn über dunklem Hemd und Krawatte. Zingler spricht Schlagworte aus, die den Fans gefallen. Sie lauten „Unabhängigkeit“, „Mitbestimmung“ und „Teilhabe“. Er kann sich Seitenhiebe nicht verkneifen gegen die „Kommerz-Vereine“, das Stichwort „Red Bull“ fällt, auch „Event-Stimmung“. Die Unioner raunen. In einem Werbe-Clip für die Aktie weist Zingler eine Stadionumbenennung in „Hakle-feucht-Arena“ entnervt zurück. Die Unioner johlen.

„Wir haben uns gefragt, wem gehört das Stadion An der Alten Försterei“, ruft Zingler schließlich in den Raum, und eine Frau aus dem Publikum ruft prompt zurück: „Uns!“ Genau darum gehe es, sagt Zingler. Jeder Unioner soll sich seinen Kleinstanteil an der persönlichen Pilgerstätte sichern können. Eine Treppenstufe wäre das vielleicht, oder ein halber Wellenbrecher. Keiner darf mehr als zehn Aktien besitzen. „Eine Fremdübernahme ist unmöglich“, ruft Zingler auf Nachfrage. Kritik vonseiten der Fans gibt es kaum am Sonntag.

Fünf Millionen Euro sollen sich durch die Zeichnung von 10.000 Aktien in die Kassen des Zweitligisten ergießen. Und damit laut Zingler auch die finanzielle Unabhängigkeit beim Neubau der Haupttribüne erhöhen. Sie soll 15 Millionen Euro kosten.

Runter von der Hühnerleiter

Für die aktuelle Miniatur-Tribüne und die angrenzenden Örtlichkeiten ist das Wort provisorisch noch untertrieben. VIPs werden in angrenzenden Zelten abgespeist, Pressevertreter sitzen auf einer Hühnerleiter unterm Dach und nach dem Spiel steigt aus den Fensterschlitzen der Umkleide-Container der Dampf der Duschen in die Mixed Zone. Wenn man sich auf die Zehenspitzen stellte, könnte man wohl Kapitän Torsten Mattuschka beim Einseifen zuschauen. „Es wird deutlich bessere Bedingungen geben, als man es jetzt gewohnt ist“, sagt Dirk Thieme, der Vorstandsvorsitzende der Stadiongesellschaft.

Während diese Form von Fanaktien in Deutschland Seltenheitswert hat, sind Stadionanleihen nichts Neues. Erst am Donnerstag begann die Zeichnungsfrist bei Unions Zweitligakonkurrenten FC St. Pauli. Anteile im Wert von 1,8 Millionen Euro kauften die Fans bis Sonntagnachmittag. Die kreative Geldbeschaffung (hier in Anteilen von 100, 500 oder 1910 Euro) soll in Hamburg vor allem dem Ausbau des Trainingszentrums dienen. Vor sieben Jahren hatten Paulianer Fans den Verein mit Retter-T-Shirts, Retter-Aktionen und Retter-Spenden vor der Insolvenz bewahrt.

Dass auch Union für seine Fans eine echte Herzensangelegenheit ist, zeigt sich auf der sonntäglichen Versammlung während der zwischenzeitlichen Fragerunde. „Hallo, ick bin Smiley“, meldet sich ein Fan mit Käppi und Schal zu Wort und präsentiert den Vereinsverantwortlichen statt einer Nachfrage einfach einen Strauß Rote Rosen. Näher kommt man sich an diesem Nachmittag nicht mehr.

„Mein Bauchgefühl ist grundsätzlich negativ“

– WM 2010: Warum Lutz Mathesdorf die Niederlage gegen Serbien verursacht hat

(Tsp) – Andreas Brehme ist schuld. Seinetwegen ist Lutz Mathesdorf gelähmt. Am ganzen Körper. Bei jedem Länderspiel. „Los ging es 1990 mit dem 1:0 gegen Argentinien. Ich verfiel plötzlich in völlige Starre“, erzählt der Fan der Nationalmannschaft. Seine Kumpels schenkten sich während des Endspiels von Rom einen Schnaps nach dem anderen ein, rutschten auf und ab vor Nervosität, doch Mathesdorf rührte sich keinen Zentimeter. Brehme traf kurz vor Schluss per Elfmeter, Deutschland war Weltmeister. „Seitdem ist das mein Tick“, sagt er und klingt schicksalsergeben und entschlossen zugleich.

Mathesdorf wiederum hat die deutsche Niederlage gegen Serbien verschuldet.

Nach dem Australien-Spiel hat er sich ein neues Sofa gekauft – und mit dieser unverantwortlichen Tat alles aufs Spiel gesetzt. „Auf dem neuen habe ich noch nicht die Glücksposition gefunden“, sagt er zerknirscht. Ebenso wenig wie Löws Auswahl in Südafrika.

Viele Fußballfans sind abergläubisch, rasieren sich nie an Spieltagen oder ziehen immer wieder das gleiche ungewaschene Trikot an. Der Aberglaube von Lutz Mathesdorf, der als Zeichner der „Jogis Löwen“-Comics ohnehin eine besondere Beziehung zur DFB-Elf hat, äußert sich auf noch skurrilere Weise. Er weiß das selbst. „Ich bin ein bisschen mehr Hardcore als die anderen“, gibt er zu. Mit der kleinsten Bewegung kann er das Spiel negativ beeinflussen, so sein fester Glaube. Selbst zu Hause vor dem TV. „Nach vorne gelehnt, ein bisschen in Lauerstellung“, beschreibt der Fan mit dem Hang zur Fußballstarre die aktuelle Idealposition. „Lang aufs Sofa legen geht gar nicht!“ Die erste Hälfte gegen Serbien habe er so zugebracht: „Wir alle wissen, was passiert ist.“

Wenn Deutschland spielt, ist Mathesdorf ganz alleine. Seine Frau geht meist Besorgungen nach, die Kinder meiden ihren Vater. „Mein Sohn kam gegen Serbien rein, hat mein Gesicht gesehen und ist direkt wieder verschwunden.“ Freunde und Kollegen fragen schon gar nicht mehr nach. Nichts hasst Mathesdorf mehr als Public Viewing. Nur zwei Spiele hat er in großen Menschenmengen verfolgt: das WM-Finale 2002 gegen Brasilien und das Halbfinale 2006 gegen Italien. Ausgang erneut bekannt. „Das Italienspiel ist meine schlimmste Erinnerung“, sagt er, „ich war eine Woche lang nicht ansprechbar. Ich weiß gar nicht, wie ich auf die verrückte Idee gekommen bin, das draußen zu schauen.“

Für das Spiel gegen Ghana hat Mathesdorf ein schlechtes Gefühl. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. „Mein Bauchgefühl ist vorher grundsätzlich negativ. Den Vogel, der am Morgen singt, holt am Abend die Katze.“ Deshalb wird der reglose Deutschland-Fan am Mittwoch wieder alles geben. „Irgendwann fängt es an wehzutun“, sagt Mathesdorf über die selbst auferlegte Schockstarre. Die Körperhaltung für Ghana? „Ich fange an, wie ich gegen Serbien aufgehört habe. Das war ja am Ende nicht ganz schlecht.“

Und wenn Deutschland Weltmeister wird – endet dann Brehmes Fluch? „Nein“, sagt Mathesdorf bestimmt. „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!“

Die Zaunkönige

– Bei jedem Länderspiel der deutschen Nationalelf sieht man ihre Fahnen auf den Tribünen. „Air Bäron“ und „Dudenhofens Sohn“ reisen überall hin – auch nach Südafrika.

(Tsp, mit Ron Ulrich) – Die Post in Münster tragen dieser Tage andere aus. Frank Niemann hat Wichtigeres zu tun. Er zeigt in Südafrika Flagge. Schwarz-rot-gold, darauf mit weißen Lettern nur zwei Wörter: „Air Bäron“, eine Hommage an den früheren HSV-Stürmer Karsten Bäron. Es ist Frank Niemanns Visitenkarte am Kap. Seit 15 Jahren reist er der Nationalelf in alle Welt hinterher und hängt seine Fahne in die Kurve. „40, 50 Spiele“ mache er pro Jahr. HSV und Deutschland.

Für Niemann, den Fahnenträger, gilt das Gleiche wie für Niemann, den Postboten: Er muss schnell sein. Es geht darum, als Erster in der Kurve anzukommen, um einen möglichst guten Platz zu finden.

Nicht für sich selbst, sondern für die Fahne. Die Fifa macht das Leben nicht leichter, sie will keine Werbeflächen zugehängt haben. Die bequeme Lösung sei, das Banner am Oberrang zu befestigen, sagt Niemann. „Stress hat man nur, wenn man sie unten platzieren will.“ Doch unten, da wollen alle hin. Unten, das heißt: gut sichtbar für die Fernsehkameras.

Denn es geht natürlich schon auch ein bisschen um Ruhm und Ehre. „Air Bäron“ ist das bekannteste Markenzeichen der Szene, die in Südafrika derzeit mit rund 40 bis 50 Leuten vertreten ist. Der harte Kern. Beim Auftaktspiel der Deutschen gegen Australien hatte Niemann den Nachteil der späten Anreise und musste mit einem Platz hoch oben im Stadion von Durban vorliebnehmen. Zum Serbien-Spiel will er rechtzeitig vor Ort sein, die 1000 Kilometer nach Port Elizabeth wollen zügig zurückgelegt werden.

Nicht nur die Spiele der Deutschen stehen auf dem Programm. „Neun von zehn Stadien zu sehen, das ist das Ziel“. Ihm ginge es aber nicht darum, möglichst viele WM-Partien abzuklappern, erklärt der Weltenbummler in Sachen Fußball. „Hauptsache, man erlebt hier viel“. In Südafrika trifft er auch Fans mit noch skurrileren Geschichten. Einer ist von Deutschland bis ans Kap gelaufen. „Das ist noch ein bisschen bekloppter“, schmunzelt der deutsche Zaunkönig.

Nach dem Achtelfinale geht Niemanns Rückflug. Eigentlich. „Wir bleiben bis zum bitteren Ende“, sagt er. Erfolgreiche Urlaubs-Nachverhandlungen mit dem Chef vorausgesetzt.

Das Feilschen um den Urlaub gab es auch in Dudenhofen bei Speyer. Dort arbeitet Michael Malmer bei einem Online-Shop. In der Kurve ist Malmer „Dudenhofens Sohn“. Zwei Wochen Urlaub für Südafrika hat er herausgeschlagen, natürlich auch mit Option auf mehr, falls Deutschland noch weiterkommt. Am kommenden Wochenende geht es los, doch von großer Vorbereitung noch keine Spur: „Ich habe mich impfen lassen, das ist alles.“

Koffer packen? „Das mache ich einen Tag vorher.“ Hotel? „Darum kümmern sich die Kollegen vor Ort.“ Karten? „Da soll es vor dem Stadion immer Möglichkeiten geben.“ Man merkt: Malmer ist Profi unter den deutschen Banner-Pionieren. Mit seiner Fahne ist er der Nationalelf nach Dubai, Schanghai oder Baku gefolgt. Was soll ihn noch schocken?

Seit zwölf Jahren ist Malmer Bannerträger, er war mit dem Fußball überall in der Welt. „Es ist dieses Abenteuergefühl, das mich fasziniert“, sagt er. „Man erlebt in der Gruppe jeden Tag etwas auf diesen Reisen.“

In Südafrika werden ihn fünf Bekannte aus der Fahnenszene erwarten, dann geht es mit dem Auto durchs Land. Im letzten Jahr bei der U21-EM in Schweden hat es Malmer so gut gefallen, dass der 28-Jährige trotz Arbeit drei Mal zwischen Deutschland und Skandinavien hin und her geflogen ist.

Damals holten die Deutschen den Titel. Im Wiederholungsfall in diesem Jahr würde der lange Turnierverbleib Malmer und Niemann rund 5000 Euro kosten. Aber das sei es wert, sagen die beiden. Man müsse halt bei Unterkunft und Flügen sparen, auch mal am Flughafen schlafen.

Und alles für einen guten Platz am Zaun. „Man muss schon verrückt in der Birne sein“, sagt Michael Malmer und lächelt.

Beten für den Klassenerhalt

– Hertha BSC ist abgeschlagen Tabellenletzter der Fußball-Bundesliga. Was liegt da näher als die Bitte nach göttlichem Beistand? Ein Gottesdienstbesuch in der Vereinskapelle. (ZEIT online)

„Für die Spieler von Hertha BSC: dass sie sich in Zukunft noch mehr zutrauen mögen, als sie das bisher vielleicht taten. Wir bitten dich, erhöre uns.“ Vor den letzten Worten hebt Gregor Bellin den Blick und die 35 Gottesdienstbesucher stimmen mit ein. Dass Bellin diese spezielle Fürbitte spricht, hat einen Grund: Der ökumenische Wortgottesdienst, den der katholische Diakon zusammen mit dem protestantischen Prälat Bernhard Felmberg leitet, findet nicht in einer herkömmlichen Gemeinde statt, sondern im Berliner Olympiastadion. Vor jedem Heimspiel kommen in der kleinen Kapelle Fußballfans zusammen, um gemeinsam zu singen und zu beten. Natürlich auch für Hertha.

Hertha BSC, das derzeit größte Sorgenkind des Berliner Sports, hat die Gebete nötig. Selbst die Leiden Hiobs scheinen erträglicher als das, was die Mannschaft den Zuschauern und sich selbst in der ersten Hälfte der Saison zugemutet hat. Tabellenletzter mit großem Rückstand.

Schließen die christlichen Fans deshalb die Hertha besonders in ihr Gebet mit ein? „Klar“, sagt ein Besucher des Gottesdienstes, „das macht wohl jeder von uns.“ Als Fußballfan sei es für ihn „eine tolle Sache“, dass er vor dem Spiel seine Gedanken an Gott wenden und direkt danach das Geschehen auf dem Rasen verfolgen könne. „Die Gemeinschaft ist wichtig, in der Gemeinde genauso wie unter uns Fans“, fügt Thorsten Heinrich hinzu. Er ist Mitglied im Fanclub „Totale Offensive“ und besucht die Messe regelmäßig mit anderen Mitgliedern der Spandauer Josuagemeinde. Auf der Website der gläubigen Hertha-Fans ist der Christenfisch abgebildet – in Weiß auf blauem Grund. Darunter findet sich der Leitspruch „Gegen den Strom“.

Gegen den Strom schwimmen auch die Spieler des besten Fußballvereins der Hauptstadt in der Rückrunde, eigentlich kann nur noch ein mittelgroßes Wunder dem Verein aus dem Keller helfen. In seiner Predigt greift Prälat Felmberg die Kellermetapher auf. „Jesus Christus ruft uns zu: Euer Herz erschrecke nicht!“, zitiert er die Jahreslosung, um dann die verfahrene Situation der Berliner Fußballer mit scheinbar aussichtslosen Lebenslagen zu vergleichen, in die der Lichtstrahl Gottes dennoch hereinscheint. „Stufe für Stufe können wir uns daran emporziehen“, ruft Felmberg mit fester Stimme der kleinen Gemeinde zu. Nach der Predigt erklingt Ein feste Burg ist unser Gott, die Nummer 362 aus dem Gotteslob.

An den Lichtstrahl Gottes zu glauben fällt in diesen bitterkalten Wintertagen den Hertha-Anhängern schwer. Explizit für Punktgewinne ihrer Mannschaft beten die Kapellenbesucher aber nicht, wie sie sagen, „sondern eher dafür, dass die Spieler von Verletzungen verschont bleiben und neue Kraft und Motivation schöpfen“, sagt Heinrich. „Das Leben geht weiter, auch wenn Hertha absteigt“, ergänzt ein anderer Besucher.

„Ich bete nicht für Hertha-Siege“, sagt auch Diakon Bellin. „Den Fußballgott, wie Rudi Assauer ihn einmal beschrieben hat, gibt es für mich nicht, ich habe einen anderen Gottesbegriff.“ Schon seit vier Jahrzehnten pilgert Bellin mit den Massen ins Olympiastadion, die meiste Zeit davon als Fan, seit anderthalb Jahren auch in offizieller Funktion als Geistlicher. An den Zusammenkünften im Namen Gottes vor dem Spiel fasziniert ihn der Querschnitt aus allen Schichten. „Es kommen Leute von der Ehrentribüne genau so wie aus der Ostkurve“, schwärmt er. „Das finden Sie in keiner normalen Gemeinde.“

Unmittelbar vor Spielbeginn stellt sich Bellin an den Ausgang der Katakomben, um den Spielern noch einmal in die Augen zu schauen, dem einen oder anderen Mut zuzusprechen. Je entschlossener die Herthaner dem Diakon Bellin in die Augen sehen, desto ruhiger kann der Fan Bellin die 90 Minuten angehen. „Die Körpersprache sagt sehr viel aus.“

Glaubensgemeinschaft Hertha mit Diakon Gregor Bellin
© Hertha BSC

Glaubensgemeinschaft Hertha mit Diakon Gregor Bellin

Bei aller Leidenschaft ist die Grenzziehung zwischen Fan-Sein und Geistlichkeit klar. „Im blauweißen Ornat werden Sie mich nicht sehen“, sagt Bellin. Religion und Fußball, das ist für ihn eine natürliche Verbindung. „Ich war ja sowieso bei jedem Heimspiel im Stadion.“ Seit der Saison 2008/09 eben nicht mehr in der Ostkurve, sondern auf der Haupttribüne – „wegen der kurzen Wege“, wie er sagt. Das kirchliche Angebot im Stadion besteht für alle Fans. Zwischen vierzig und sechzig Leuten kämen im Schnitt. Einmal sei so viel los gewesen, dass zwei Gottesdienste hintereinander abgehalten wurden. Dass jetzt, in der größten sportlichen Krise, mehr Leute kämen, will Bellin dagegen nicht bestätigen.

„Meine Kumpels stehen immer noch da drüben“, fügt der Fünfzigjährige mit einer Handbewegung auf die Ostkurve hinzu, wo der harte Kern des Berliner Anhangs gegen die klirrende Kälte anhüpft. Die Mannschaft quält sich zu einem 0:0 gegen Borussia Mönchengladbach. Obwohl Bellin vor dem Spiel entschlossene Blicke bei den Herthanern gesehen haben will, ist auf dem Platz kein Elan zu erkennen.

In der Halbzeit flitzt Gregor Bellin schnell nach oben in die Ehrenloge, schüttelt ein paar Hände, isst eine Currywurst. Am gleichen Stehtisch lässt es sich Otto Schily schmecken. Viele, die mit Hertha zu tun haben, kennen Bellin, begrüßen ihn mit einem freundschaftlichen Händedruck, auch zwei Gottesdienstbesucher von vorhin sieht der Diakon hier oben wieder.

Der Kontakt zu Spielern und Funktionären des Clubs sei sehr gut: „Wir werden vom Verein sehr stark unterstützt.“ Dazu gehört unter anderem die Ausstattung der Geistlichen mit Arbeitskarten, die den reibungslosen Zugang zu allen Stadionbereichen garantieren. Eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle bringt die Kapellenbesucher hinunter in den geschützten Bereich zwischen „Players Lounge“ und Pressezone.

Schon fünf Minuten vor dem Schlusspfiff eilt Bellin hinunter, zusammen mit Prälat Felmberg steht er Spalier für die enttäuschten Kicker. Die meisten gehen mit versteinerter Miene an den Geistlichen vorbei, die beide einen Hertha-Schal um den Hals hängen haben – es könnte fast eine Stola sein. Während die bekanntesten Gesichter noch von den Medien ausgefragt werden, hält Bellin ein kleines Schwätzchen mit dem Hertha-Präsidenten Werner Gegenbauer.

Mit ein paar Spielern verabreden sich die beiden für ein kurzes Gebet in der Kapelle. „Akutseelsorge“ nennt Felmberg das, es ginge oft schlicht um eine „emotionale Entlastung“. Nach praktisch jedem Spiel nähmen drei, vier Spieler und Betreuer das Angebot wahr. Bellin erzählt auch die Geschichte eines ehemaligen Hertha-Spielers, der sich vor einer Partie eine Segnung durch den Diakon erbat. Als der dies im nächsten Spiel versäumte und sich der Profi prompt verletzte, ging es nicht mehr ohne Kreuzzeichen vor dem Anpfiff. „Da verbindet sich teils auch Aberglaube mit Gottvertrauen“, sagt Bellin.

Dass die Sportler fest an etwas glauben, scheint wichtiger als die Frage, woran genau. Auch das berühmteste Bild, das in der Kapelle entstand, beantwortet die Frage nicht. Das preisgekrönte Foto wurde vor dem Weltmeisterschaftsfinale 2006 aufgenommen und zeigt den italienischen Spieler Gianluca Zambrotta, der in Spielkleidung und mit einem Ball unter dem Arm auf einem der schlichten Hocker sitzt und andächtig zum Altar blickt. Wofür er gebetet hat, weiß Bellin nicht. „Aber das Ergebnis ist bekannt.“