Die Winzigkeit des Glücks (Leseprobe)

Johannes Ehrmann: „Die Winzigkeit des Glücks, Brief an meine Töchter“, ersch. am 21. Juli 2017

Unsere Reise

Wir sitzen im Auto, Papa wie immer vorne links, neben ihm Mama, und dahinter ich in meinem schwarzen Römer-Sitz mit dem orangefarbenen Pult. Wir fahren durch den Sommer, eine enge Straße, wir kommen zwischen steilen Felswänden hindurch, der Wagen legt sich in die Kurve, dann sind die Felsen weg und alles reißt auf. Wir sind im Freien, ich höre das Klavier aus dem Kassettenradio, und unter uns liegt golden glitzernd das Meer.

Das ist sie, meine erste Erinnerung, der älteste Moment, der in mir geblieben ist. Bis heute hat nichts und niemand ihn verdrängen können aus dem alten Winkel meines Wesens. Ich kann ihn spüren, wenn ich will, diesen Augenblick, diesen Gefühlsakkord, ich muss drei gewesen sein oder vier. Irgendwann, Jahre später, ist mir die Kassette wieder in die Hände gefallen, und ich habe das Klavier gehört, das Schlagzeug, die Stimme des Sängers, that’s just the way it is, und alles war wieder da. Da saß ich wieder, hinten rechts in unserem gelben Passat-Kombi, die Nase an der Scheibe, ein heißer Sommer gegen Ende eines Jahrtausends, das ihr nie kennen werdet.

Das Licht, das Meer … Ich kann es sehen, wenn ich will. Den Ort, an dem alles losgegangen ist, manchmal hole ich ihn hervor von da unten, dann erfüllt er mich für eine Weile und hilft mir beim Weitermachen.

Weit weg das Meer, weit weg die Berge von der großen, flachen Stadt, unerreichbar die Erinnerung in unseren ersten Wochen mit euch. Unsere Berliner Welt ist winzig, zwei Zimmer für vier Menschen, die Decken scheinen mir noch niedriger als sonst. Wir igeln uns ein, drehen die Heizung auf, stecken euch unter unsere Strickjacken, lassen euch schlafen auf der bloßen Haut. Noch immer schwankt eure Temperatur, sechsunddreißig acht, sechsunddreißig drei, wir sollen noch nicht mit euch nach draußen, wo der falsche Frühling Einzug gehalten hat, die kalte Sonne und der polnische Märzwind.

Immerhin, wir sind zuhause, chez nous, wie eure Mutter am Telefon zu ihren Eltern sagt, am sechsten Tag durften wir gehen, alle vier. Aber etwas hinter sich zu lassen, ist das eine, und etwas Neues zu beginnen, noch einmal etwas ganz anderes, das merken wir jetzt.

Alles hatten wir vorbereitet, das Beistellbettchen fest mit zwei Riemen an unser großes Bett gebunden, die schwere Wickelauflage auf die Waschmaschine gehievt, eure Strampler und Bodys und Mützchen sauber gefaltet im Schrank verstaut. Aber nichts ist bereit, das merken wir schnell, am wenigsten wir selbst.

Es dauert Tage, bis wir durchblicken durch all die Bedürfnisse, Wochen, bis wir die nötigen Mengen einschätzen lernen, bis wir vernünftig Haushalten können. Ständig brauchen wir irgendwas, dauernd fehlt es hier oder da, Milchpulver, Wickelunterlagen, Fluortabletten aus der Apotheke, wir haben die falschen Schnuller und Fläschchen, ein Sterilisator muss her, ein Flaschenwärmer, schon wieder neue Windeln. Euer Verbrauch ist sofort gigantisch, jeden Morgen landet ein prallvoller Plastiksack im Müll. Jeden zweiten Tag hetze ich aufs Neue hinüber zum Einkaufszentrum, während eure Mutter euch in Schach hält, auf dem Rückweg bringe ich tütenweise Fastfood mit, weil uns zu allem anderen die Zeit fehlt und die Energie.

Plötzlich müssen wir alles selber machen, sind ganz alleine, haben niemanden mehr, der hilft und Rat gibt oder auch nur zuhört, unsere Eltern lange Tagesreisen entfernt, meine in der Pfalz, die eurer Mutter im Burgund, und alle um uns herum sind in ihre eigenen Leben vertieft. Die Hebamme kommt und antwortet nicht auf unsere Fragen, eure Mutter ist verzweifelt, ich genervt. Nachts schlafen wir im Wechsel in getrennten Betten, um wenigstens für ein paar Stunden zur Ruhe zu kommen, und jeder von uns ist so allein wie der andere.

Wir laufen auf Hochtouren und kommen doch nicht vom Fleck, unser Leben kommt mir vor wie ein Wagen, der mit heulendem Motor auf einem einsamen Parkplatz steht. Wir machen und machen, um mit euren Bedürfnissen Schritt zu halten, wir sind glücklich und verzweifelt, sehen euch in die Augen, die ihr erst nach und nach öffnet, versuchen euch zu verstehen, wollen etwas erkennen in euren Gesichtern, ein Lächeln, ein Zwinkern, war da nicht was?

Und für euch beide ist alles noch viel neuer als für uns, selbst an die einfachsten Dinge müsst ihr euch erst gewöhnen, ans Essen und ans Schlafen, an das Licht, den hellen Tag und die tiefe, dunkle Nacht. Sobald die Sonne nachmittags nicht mehr ins Wohnzimmer scheint, das Licht sich ändert, fangt ihr an zu schreien. Dann tragen wir euch durch die Wohnung, bis endlich Schlafenszeit ist. Die erste Nachtschicht ist meine, ich versinke in Kissen und Decken, will nie wieder aufstehen, zwei Stunden später ist die erste von euch wieder wach.

Willkommen im real life, schreibt eine Freundin mit zwei älteren Kindern, aber die Sache ist, es fühlt sich überhaupt nicht so an. War das echte Leben nicht die 33 Jahre davor? Vom Wohnzimmerfenster sehe ich die Leute drüben im Park, auf Fahrrädern, zu Fuß, junge Pärchen Hand in Hand. Ich sehe mich und eure Mutter in einer Zeit, die so weit weg scheint, denke an unsere kleinen Reisen, an lange Wochenenden in Barcelona und Prag, an Nächte an der Adria und unseren Sommer in Andalusien. Manchmal denke ich, das ist jetzt für immer vorbei, kurz darauf dann wieder, was für ein Blödsinn das ist.

Jetzt macht sich da also wieder ein alter Kombi auf die Reise, denke ich, 30 Jahre später, nur der kleine Junge von damals sitzt nun vorne links und muss zusehen, dass er die Kurven kriegt. Die Sonne, das Licht, das Meer … Was war es, was mich damals so beeindruckt hat? Die Weite des Blicks, die Kraft der Musik, der weite Himmel, die Freiheit der Bewegung, das Glück des ersten echten Sommers im Süden? Vielleicht ja ein bisschen von allem. Vielleicht ist da zum ersten Mal alles zusammengekommen, was Erfüllung und später Sehnsucht macht, im Kopf, im Herzen des kleinen Kinds, auf seiner ersten großen Fahrt ins Helle.

Was wird eure erste große Erinnerung sein, frage ich mich, welcher Ausblick, welcher Song, welcher Himmel, was wird von all dem in euch bleiben? Ist es nur Zufall oder hat es eine größere Bedeutung, dass es dieser Moment war bei mir und kein anderer? Welche Dinge bleiben uns und bestimmen sie noch Jahre später unser Handeln? War es wirklich nur ein Augenblick oder am Ende doch mehr? Keiner kann mir ja heute mehr sagen, ob es nicht doch die Verschmelzung von Stunden war, von Tagen, Wochen vielleicht, die Summe aller Teilchen von sechs Wochen Sommerferien, einer ganzen Autoreise, (einer ganzen Kindheit sogar?), festgehalten in einem Blick zurück. Ich weiß nicht, was euch einmal beeindrucken wird, vielleicht schon jetzt beeindruckt in diesen ersten, wilden Wochen, keiner kann es sagen.

Wenn ihr beide schlaft oder zufrieden seid und sich die Dinge für eine Weile beruhigen, erzählen eure Mutter und ich uns manchmal von eurem Anfang, vom Beginn unserer Reise, er lässt uns nicht los. Zwei Blickwinkel auf die Plötzlichkeit der Ereignisse. Die Monitore, das grüne Tuch, die Stimmen der Ärzte, von denen ich nur die weißen Schlappen sehen konnte, und dann schon dieser Schrei, der mir durch den ganzen Körper gefahren ist, und keine Zeit, zu überlegen, was das heißt. Schon hatte ich etwas im Arm, das ich nie zuvor gesehen hatte, ein Leben, ein neues Leben, eingewickelt in warmen weißen Tüchern. Und dann, keine drei Minuten später, gleich noch eins, auf dem Arm eurer Mutter, so plötzlich alles, so unvermittelt, ein Schrei und dann noch einer und alles ist über den Haufen geworfen, zwei Paar Augen blinzeln ins grelle Deckenlicht, zwei winzige Wesen aus einer anderen Welt.

Ihr selber, Frida und Ella, werdet euch daran natürlich unmöglich erinnern können. Wir werden euch davon erzählen, eines Tages. Und dann? Wohin wird euch eure Reise einmal führen, wohin können wir euch mitnehmen über die Jahre, was werden wir euch zeigen? Möglichst viel, denke ich, Gutes wie Schlechtes, egal, Hauptsache, ihr seht, wie groß diese Welt ist, wie kompliziert und anstrengend und schön.

Es scheint alles so bedeutsam, jede Entscheidung kann alles beeinflussen. Ich sitze auf der Couch im Wohnzimmer, ihr liegt gut angeschnallt in euren gepolsterten Wippstühlchen, eure Beine in Wolldeckchen gewickelt, die Schnuller im Mund. Ich halte euch mit beiden Füßen in Bewegung, warte darauf, dass ihr einschlaft. Ich höre den Baulärm da draußen, die Lastwagen, die über die Brücke nebenan rumpeln. Ich sehe die braunen Staubschwaden am Balkon vorbeiziehen. Um uns herum werden sie geschlossen, die letzten Lücken der vernarbten Stadt, 600 Wohneinheiten hinten, 100 gegenüber, hochpreisig oder austauschbar oder beides zusammen.

Bald wird hier kein Platz mehr für uns sein, wir müssen weg, das ist klar, unser Schlafzimmer wird feucht, wenn es unter null ist, noch einen Winter wollen wir nicht hier sein, nicht mit euch, es geht nicht. Nur wohin? Ihr braucht bald ein eigenes Zimmer, Platz für zwei Betten, wo sollen wir ihn finden, wo unser neues Zuhause, wenn wir doch nicht mal entschieden sind, wo wir anfangen sollen zu suchen? Wenn etwas frei wird hier in der Gegend, dann ist es zu teuer oder nicht zu bekommen. Und alle, die noch eine bezahlbare Wohnung haben, klammern sich daran, so lange sie können. Die neue Stadt, der Magnet Berlin. Stößt er uns ab?

Ihr fangt an zu murren in euren Stühlen, ich setze mich auf den Rand der Couch und schaukele ein bisschen kräftiger. Ich sehe eure Augen, die groß auf mir ruhen. Ihr scheint schon so viel von mir zu erwarten, euer Blick traut mir mehr zu als ich mir selbst. Noch seid ihr hier drinnen, gut verpackt, noch lassen wir euch nicht los und nicht gehen, noch längst nicht, aber irgendwann müssen wir doch. Irgendwann werdet ihr reisen, erst mit uns, dann auch allein (oder miteinander), weit weg, übers Meer, vielleicht sogar bis ans Ende der Welt, in das Land der sengenden Sonne, wo sie Fußball mit einem Ei spielen und die Tiere ihre Kinder im Beutel durch den Busch tragen. Viel weiter als bis dahin geht es nicht von hier aus, wenn ihr nicht gerade zum Mond wollt.

Melbourne, Australien. Meine erste große Reise alleine war das, in dieses heiße, fremde Land, mit 16 Jahren, genau zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein also, dem schwierigsten Alter von allen, weil wir noch so viel lernen müssen und doch schon denken, dass wir alles, alles besser wissen. Eine lange Reise, auf der so viel entstanden ist, nicht zuletzt eine von diesen wunderbaren Freundschaften, die keine Entfernung kennen. Zwei Jungen aus der zehnten Klasse, die nicht viel mehr als der Zufall zusammengeführt hat, der Wunsch, die Sprache des anderen zu lernen. Es wäre so viel einfacher und logischer gewesen, sich nach der Rückkehr schnell wieder aus den Augen zu verlieren. Aber wir sehen uns noch, mein Freund Lachlan und ich, wir besuchen uns immer wieder und lachen dann und trinken und erzählen, wie es der Familie geht und allem anderen. Und wenn ihr eines Tages nach 24 Stunden aus dem Flieger steigt, werden da Menschen sein, denen ihr nicht gleichgültig seid. Was für ein schöner Gedanke: Ihr seid schon auf der ganzen Welt bekannt.

Das also kann passieren, wenn ihr euch auf Reisen begebt, ihr findet neue Menschen, die ein Lächeln in der Seele tragen, und eure Welt wird größer als sie vorher war.

Es wird nicht leicht gewesen sein für meine Eltern, mich damals ziehen zu lassen, schwerer sicher als für mich. Ich erinnere mich an die letzte Nacht in Deutschland, mein Flug ging früh morgens von Frankfurt aus, und mein Vater und ich sind mit dem Auto von Berlin aus zu Oma und Opa gefahren, den Eltern meiner Mutter. Bei ihnen schliefen wir, zwei Stunden nur entfernt vom Flughafen im kleinen Saarland, wo ich geboren und aufgewachsen bin, bis ich acht war.

Spät an diesem letzten Abend in Deutschland dann warfen die Jungs von draußen Steinchen an meinen Rollladen, ich hörte sie meinen Namen rufen. Ich war schon im Bett, konnte aber noch nicht schlafen, sie waren meine längsten, alten Freunde, noch aus dem Kindergarten und der Grundschule, jedes Jahr hatten wir uns mehrmals gesehen, Weihnachten, Ostern, im Sommer, sie wussten immer, wann ich da sein würde, und bevor ich wegging, wollten sie mit mir noch einen trinken gehen, ein bisschen quatschen und lustig sein, ein paar Meter weiter gab es ein Fest.

Unten standen sie in der Einfahrt meiner Großeltern, ich oben am Fenster im zweiten Stock, alle anderen schliefen schon und ich hatte am nächsten Tag nichts weiter zu tun, als mich in ein Flugzeug zu setzen und ans andere Ende der Welt zu fliegen. Und doch ging ich nicht mit. Ich stand da im Fensterrahmen und schüttelte den Kopf, immer wieder.

Warum? Aus falschem Gehorsam, aus Vorsicht, Faulheit? Was für ein Idiot ich war, ein Kind. Sie hatten an mich gedacht, meine alten Freunde, sie wollten noch einmal los, bevor alles anders würde, sie wussten, worum es hier ging, und ich habe sie beiseite geschoben und es nicht mal gemerkt. Irgendwann sind sie gegangen.

Wenn ich heute daran denke, schüttele ich den Kopf über mich selbst. Ein Moment, den ich nicht ergriffen habe, aus Dummheit und Kurzsicht. Aus Furcht, vor was auch immer.

Nein, nein, denke ich jetzt. Ihr müsst doch da raus und wir müssen euch rauslassen, sonst bleibt alles klein in unserem Leben.

Ein paar Wochen nach der Geburt machen wir die ersten Gänge mit euch durchs Viertel. Eure Mutter zieht euch auf unserem Bett die Strickjäckchen an und die Ringelmützen, ich fahre mit dem Aufzug in den Keller, hole den Doppelwagen und schlage die Decken zurück, damit wir euch hereinheben können.

Draußen ist es sonnig, aber noch nicht ganz warm, die Zeit, wenn die Sommerjacke zu dünn ist und man unter dem Wintermantel schwitzt. Wir schieben euch am alten Fußballstadion vorbei mit seinen vier kahlen Flutlichtmasten, unter dem Baustellengerüst und der U-Bahn-Brücke an der Eberswalder Straße hindurch. Dann holpert der Wagen über das krumme Pflaster hinter der Kulturbrauerei, eure Köpfe werden wild hin und her geworfen, aber ihr schlaft tief und unbeirrbar. Wir setzen uns an den letzten freien Tisch vor dem Café, bestellen Buletten und Macchiato und warten auf Christopher und Karolina. Ihr liegt eingequetscht zwischen Holztischen und Klappstühlen, unsere Freunde kommen, wir essen und trinken und reden und freuen uns, dass in der ganzen Zeit nur eine von euch aufwacht und gefüttert werden will.

Auf dem Heimweg fühle ich mich so gut wie lange nicht, ich spüre den Kaffee im Magen und die Nachmittagssonne auf der Haut, wir halten ein paar Mal vor Schaufenstern, gucken uns Möbel an und Lampen, stellen sie in Gedanken in unsere neue Wohnung, die es noch gar nicht gibt.

Wir wissen noch nicht, wo wir in einem Jahr sein werden, wo in fünf, in zehn … Von wo in der Welt ihr uns anrufen werdet in 20 Jahren, welche Ländervorwahl wir dann wählen, um euch in euren Studentenzimmern zu erreichen. Wie lange einmal die Fahrt, der Flug in euer Leben dauert.

Ihr habt viel Glück, ihr wachst, wie selbstverständlich, mit zwei Sprachen auf, mit meinem Deutsch und dem Französisch eurer Mutter, hört dazu noch das einfache Englisch, das wir untereinander sprechen. Zwei Sprachen werdet ihr können, vielleicht drei, ganz von alleine.

Wo führt sie euch hin, eure Reise? Welche Dinge werdet ihr umarmen, welche schnell wieder fallen lassen? Vielleicht werdet ihr ja die Musik entdecken so wie eure Mutter als kleines Mädchen, ein Arbeiterkind in einer kleinen Stadt mitten in Frankreich. Die Neugier hat sie weggezogen von ihrem Elternhaus, jede Woche aufs Neue, bis ans andere Ende der Stadt in das mächtige Gebäude des Konservatoriums. Ganze Nachmittage hat sie da am Klavier verbracht, oben unterm Dach, stundenlang hat sie dort gespielt, eure Mutter, und nicht weil irgendjemand das gewollt oder bestimmt hätte, sondern weil sie selber es so liebte. Die Musik hat etwas geöffnet für sie, mit ihrem Chor ist sie das erste Mal in ihrem Leben verreist, hat in Osteuropa zusammen mit Überlebenden der deutschen Lager gesungen, und wenn sie von diesem Tag erzählt, strahlen ihre Augen heute noch.

Ja, vielleicht werdet ihr den schönen Klang zu eurem Begleiter machen, werdet auf Orchesterreise gehen oder eurer Lieblingsband hinterherfahren. Vielleicht werdet auch ihr diese Momente erleben, in denen die Musik euch rettet und wieder auf die Beine bringt. Oft denke ich an einen meiner letzten Tage in den USA zurück, am Ende meines Jahres als Gaststudent in Pennsylvania. Ich hatte mir ein Konzert des Philadelphia Orchestra angesehen, ein warmer strahlender Sonntagmorgen im Mai. Als ich Minuten nach der Aufführung hinten am Konzerthaus vorbei kam, habe ich sie gesehen. Erst einen Mann mit einem Trompetenkoffer auf dem Rücken, dann einen Cellisten, dann zwei Flötistinnen, dann noch ein paar andere. In schneller Folge sind sie aus dem Hinterausgang geschlüpft und schnell auseinander gegangen, heimwärts, zur Familie oder zu Freunden ins Café, in den Rest ihres Sonntags, hier und da ein leises Pfeifen im Mundwinkel, als hätten sie zwei Stunden am Fließband der Margarinenfabrik gestanden statt Beethoven und Berlioz in den Saal zu zaubern und in unsere Herzen.

Wie beneidenswert, dachte ich damals, glücklich und gerührt auf meinem Weg durch die Stadt, die ich bald wieder verlassen würde. Wie schön, solch einen Beruf zu haben, wie glücklich jeder, der mit dem, was er am besten kann, mit Talent und Kunst oder wie man es nennen will, Woche für Woche die Menschen bewegen kann und sich nicht mal groß was drauf einbilden muss.

Auch ihr beide werdet Dinge entdecken, die euch berühren, die bei euch bleiben für eine Weile oder für immer. Vielleicht werdet ihr etwas davon zu eurem Leben machen wie die Musiker, die ich gesehen habe, wie eure Mutter damals als Kind oder eure Oma mit ihrer Geige. Wer weiß. Es wird nicht leicht für uns, für eure Mutter und mich, euch zum einen nicht zu bremsen, aber auch nicht zu erdrücken mit unseren eigenen Wünschen. Ihr sollt spielen, ihr beiden, das dürfen wir nicht vergessen, sollt erst einmal keine Last spüren und keine Sorge, dafür sind ja wir Großen da.

Ich denke jetzt an meine Eltern. Ich sehe ihre Gesichter in der Küche am Weihnachtstag, bevor ihr geboren wurdet. Ich sehe ihr Lächeln, die erwachsenen Kinder um sich, die schon arbeiten, studieren, eigene Familien gegründet haben, im Bauch der Schwiegertochter die nächsten beiden Enkel.

Ich sehe die Gesichter meiner Eltern, die Freude über den gemeinsamen Moment, die Erleichterung darüber, es bis hierher geschafft zu haben. Sich zusammen durchs Dickicht geschlagen zu haben, durch all die verschwitzten Nachmittage und die Fiebernächte, durch die kalten Schulmorgen und die stillen Abende, vielleicht ängstlich, aber nie entmutigt, oft todmüde, aber nie ganz leer, erschlagen, aber nie ohne Mut, und jeden Tag aufs Neue darum bemüht, dem Grau des Alltags doch noch ein bisschen Farbe beizumischen. Für uns, für sich selbst, einfach, damit es weitergeht, weil sie doch weitergehen muss, diese Reise mit ihren zigtausend Kurven, deren Ende niemand kennt. Und warum soll sie nicht für alle ein bisschen besser und schöner sein, als sie sein müsste.

Auch unsere Tage sind jetzt alle gleich, wir strampeln genauso wie ihr beide, eure Mutter und ich, jeder Tag gleich und doch immer anders. Da ist ein Lachen, ein Augenzwinkern, ein neues Geräusch, das ihr macht, ein kurzer Ausflug ins Licht, die gute Nachricht nach der schlechten.

Sie hatten recht, denke ich, es geht so schnell. Der Motor läuft, die Räder drehen sich, bald ist schon der Sommer da, und hinter der nächsten Kurve kommt das Meer.

Johannes Ehrmann
Die Winzigkeit des Glücks
Brief an meine Töchter
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Invincible

2004 schaffte Arsenals Weltauswahl das Unmögliche: ein Jahr Premier League ohne Niederlage. Längst aber ist Londons Avantgarde in der Geldflut verschwunden (11FREUNDE Spezial, Frühjahr 2016)

Wir müssen natürlich mit diesem Tor anfangen.

Mit dem Tor des Königs.

Frühling ist es, April 2004, alles steht auf dem Spiel und der König steht am Mittelkreis. Er steht da halblinks hinterm Kreis, ganz locker und easy, und wartet auf den Ball. Und er kriegt ihn, auf den rechten Fuß, seinen goldenen Fuß, und dann joggt er los. Die anderen stehen da, in Schwarz-Weiß, und der Deutsche ist der erste. Steht da, der Deutsche, breitbeinig und steif und deutsch, und checkt viel zu spät, wie der König schon immer schneller wird, sieht aus wie ein Morgenläufer im Park und ist doch schon ein Gepard, und Hamann the German merkt es jetzt erst und rutscht und grätscht und trifft nur sich selbst, und dann fällt er auf die Schnauze.

Klatscht einfach lang hin.

Da ist der König schon am Strafraum. Sechzehn Meter noch, und auf der Kreidelinie steht der Scouser. Steht da und zuckt ein bisschen wie ein Kaninchen im Spotlight. Und der König macht es leicht, ganz leicht, legt sich den Ball nach innen, scheinbar, schießt, scheinbar, und schießt schon wieder nicht, und Carragher the Scouser verliert alles, was er mal hatte, das Gleichgewicht und seine Würde, er fällt und knallt seinem Kollegen vors Knie, Jamie Carragher, eben ein Fußballprofi, jetzt eine Marionette mit verhedderten Schnüren.

Und jetzt stehen sie ganz alleine am Fünfmeterraum, drei Rot-Weiße, und die beiden anderen weichen zurück, und Thierry Henry, der König bringt es zu Ende, wie nur er es zu Ende bringen kann, flach, mit der rechten Innenseite, wie ein Kurzpass, unhaltbar ins lange Eck.

Sein Tor.

3:2. Arsenal führt wieder. Arsenal wird nicht verlieren. Nicht heute, gegen Liverpool, Henry macht noch das vierte, nicht übermorgen in Newcastle, nicht in zwei Wochen bei den alten Freunden von der White Hart Lane. Nein, Arsenal wird gar nicht mehr verlieren. Die Gunners werden Meister und keiner wird sie schlagen. Das wissen sie jetzt.

Sie haben das Triple verzockt in dieser einen, schlimmen Aprilwoche, das ja, Samstag gegen United, Dienstag gegen Chelsea, aber jetzt ist es vorbei, sie führen wieder und sie werden jetzt nicht mehr verlieren, nicht in der Liga, nicht in diesem Jahr. Sie werden bis zum Ende gehen, das wissen sie jetzt wieder, die Fans und die Spieler, ungeschlagen in 38 Spielen in der besten Fußballliga der Welt, und Thierry Henry hat ihren Glauben gerettet, Henry, The King, wer sonst, wer sonst.

THE INVINCIBLES, das sind sie, das werden sie für immer sein, dieses Team des Arsenal Football Club von 2003/2004, gecoacht von Henrys Landsmann Arsène Wenger, dem Fußballirren, der sich das eben einfach in den Kopf gesetzt hat, eine perfekte Saison, schon zwei Jahre zuvor hatten sie kein einziges Auswärtsspiel verloren, aber der Boss war noch nicht zufrieden. Meister, nun gut. Aber es muss doch immer noch besser, noch perfekter gehen, chers messieurs, il faut, il faut. Fast hätte er alles zerstört damit, der strenge Elsässer, die Spieler haben ihm schon die Schuld an der verpassten Meisterschaft 2003 gegeben, es hilft nicht, es geht nicht gut, too much pressure, Boss.

Und überhaupt, wer nimmt sich so was vor?

Etwas, das undenkbar ist, nie da gewesen im modernen Spiel im Heimatland des Fußballs, seit 1889, Preston North End. Sie sind die einzigen, die es vorher geschafft haben, aber, bei aller Liebe, das waren nur 22 Spiele, und das war 1889.

INVINCIBLE, in dem Wort steckt noch das erhabene Latein von ganz, ganz früher, die Sprache der Legionäre und Gladiatoren. Ein Wort wie in Marmor gemeißelt. Ein Wort, das eine goldene Trophäe verdient, bis heute die einzige, die von den Herren der Premier League je in Auftrag gegeben worden ist. Eine goldene Equipe, ein goldenes Jahr. Die letzte Meisterschaft, der letzte große Titel von Arsenal bis auf weiteres, ein frühes letztes Hurra in Wengers immer noch andauernder Amtszeit.

VINCERE, das heißt siegen, aber auch: seinen Willen durchsetzen.

Wie also bleibst du ein Jahr ungeschlagen?

Du kaufst Spieler, die es hassen, hassen, HASSEN, zu verlieren.

Gestatten, Jens Lehmann und Sol Campbell. Gestatten, Kolo Touré, Freddie Ljungberg und Patrick Vieira. Salut, Thierry Henry und Dennis Bergkamp. Heute schon verloren, Ray Parlour, Martin Keown? Wollte schon sagen.

Und dann noch dieser Manager, der das Spiel auf der Insel einmal auf links zieht. Der selbst beim Mittagessen noch ans Gewinnen denkt, chew to win, kauen, kauen, erinnert er die Spieler, sonst fährt der Körper zu sehr runter, die Leistung, die Leistung.

„Der Fußball kann Glück und Schönheit bringen, unerwartet. Etwas, das der Kunst nahe ist.“ So gehen Wenger-Sätze. Und er ist natürlich auch einer von denen, die es einfach nicht können, einfach nicht ertragen: „Jede Niederlage ist eine Narbe in deinem Herzen“, sagt Wenger, „eine Narbe, die niemals verschwindet. Der Moment, in dem du leidest wie sonst nie.“

Ein Bekloppter. Alles Bekloppte. Mal einen kleinen Einblick? Da werden sie dann am Ende also vorzeitig Meister, 35. Spieltag, im Stadion ihres liebsten Nord-Londoner Feinds, bei Tottenham. 2:2. Schlusspfiff. Premiership. Und Wenger sagt, er sei enttäuscht gewesen. Und Campbell und Lehmann wollen sich gegenseitig auf die Fresse hauen.

Oder dieses Gesicht von Martin Keown, 6. Spieltag bei United, als er Ruud van Nistelrooy nach dem Abpfiff mit einem Kranich wie aus Karate-Kid halb in den Nacken springt. Diese Fratze! Fuck you very much, Van, du hast eine Rote Karte geschunden und einen Elfer gekriegt, aber geschlagen hast du uns nicht!

Oder die Geschichte von Kolo Tourés Probetraining, als er nacheinander Henry, Bergkamp und dann auch noch Wenger selber umpflügt. Der feingliedrige Boss sitzt hinterher verkniffen in der Kabine, hält sich Eis auf den geschwollenen Knöchel und sagt: „Ich mag seinen Willen. Ab morgen spielt er bei uns.“

Touré, den 21-jährigen No-Name von der Elfenbeinküste, macht Wenger zum Innenverteidiger. Hat der Junge noch nie in seinem Leben gespielt, macht aber nichts, findet der Coach. Lernt er es eben. Hat ja Lehmann, Campbell und Vieira um sich herum.

Wenger ist es egal, was vorher war, das Gewöhnliche ist für ihn keine Kategorie: „Wenn du dich fragst, welche Position zu einem Spieler passt, schau dir seine Persönlichkeit an.“ Den ruhigen, fokussierten Henry macht er vom Flügelspieler zum eiskalten Mittelstürmer – und damit am Ende zum besten Arsenal-Torschützen aller Zeiten. 30 von 73 Arsenal-Toren schießt er allein im goldenen Ligajahr. 228 insgesamt. Und den flinken Ashley Cole hat Wenger im Ligaalltag Linksverteidiger lernen lassen: Crashkurs an der Seite von Tony Adams. Läuft.

Und dann erst The Crazy German hinten im Kasten. Lehmann ist der einzige Neuzugang im Sommer 2003, die letzte Addition für die seit Jahren zusammengewachsene Truppe. Ein spielender Keeper, ein schneller, fixer, nach dem alten Türsteher Seaman. Mad Jens, noch so ein Besessener, der sich mit Kraftwerk-Beats vor den Spielen in Fahrt bringt, ein permanenter Seiltänzer, der immer wieder mal abschmiert. Aber eben auch einer, der es absolut nicht abkann, eins mehr aus dem Netz zu holen, als die anderen vorne gemacht haben. Welcome to the team, Jensie.

Arsenals Vice-Chairman David Dein hat Wenger mit kleinem bis mittelgroßem Geld eine echte Weltauswahl zusammengestellt, und 2004 schwebt sie scheinbar unaufhaltsam dem dritten Ligatitel in sieben Jahren entgegen. Aus Frankreich, Holland und Schweden, aus Brasilien, Kamerun, Nigeria und der Elfenbeinküste kommen die Stützen des Teams. Wo sind die Engländer?, meckern sie auf der Insel. Warum Englands Beste nehmen, wenn wir die Besten der ganzen Welt entdecken können?, sagt Wenger. „Das waren die UN unter rot-weißer Kanonenflagge“, fasst es Amy Lawrence zusammen, die das ultimative Buch über 2003/04 geschrieben hat, es heißt, natürlich, „Invincible“.

Ein neuer Fußball, eine neue Stadt. Auch London streckt und reckt sich rings um die Jahrtausendfeierlichkeiten. Old Kingtown schmückt sich neu, und während Wenger bei Arsenal die alten Betten ausschüttelt, ein neues Trainingszentrum forciert, die Süßigkeiten streicht und einen Osteopathen einfliegen lässt, kriegt London sein neues Auge an der Themse, eine Brücke nur für Fußgänger rüber nach St. Paul und mit der Tate Modern im alten Ölkraftwerk an der Southbank im Millenniumsjahr auch endlich, endlich sein eigenes MoMA.

Fußball als Kunst, nichts weniger predigt Arsène Wenger, und Bergkamp, Henry und Co. kommen dem Ideal so nahe wie lange niemand mehr. Die echte, die bildende Kunst wird derweil zum Weltereignis made in London. Die Frieze Art Fair, die erste große internationale Kunstmesse, zieht 2003 im Regents Park allein am ersten Tag 10.000 Leute an, Olafur Eliasson schafft es mit seinem Weather Project in der Tate-Turbinenhalle auf die Titelseiten der Zeitungen, die Young British Artists, allen voran Damien Hirst, sind in aller Munde, und Britpop rules the music world. 2005 schließlich kriegt nicht Paris, nicht Madrid, New York oder Moskau die Olympischen Sommerspiele, sondern … ja, genau.

Die Dinge kommen in Bewegung und prallen aufeinander, London, Stadt der Gegensätze, „kosmopolitisch und provinziell verträumt“, so steht es 2004 in MERIAN, „prächtig und schäbig, eine Stadt der scharfen Kontraste, in der Eliten und Lumpenproletariat koexistieren“. Ein Ort, in dem es (noch) beides im gleichen Rang gibt, das Alte und das Neue, das Angeranzte und das Glänzende.

Und Arsenal ist Avantgarde in seinem ganz eigenen Atelier, randvoll mit Erinnerungsstücken, das alte Highbury, das 90 Jahre Fußballgeschichte verströmt und nun Spieler aus zehn Geburtsländern unter der großen runden Analog-Uhr auflaufen sieht. Hinter der prachtvollen Fassade des East Stand ist das ein zutiefst englisches Stadion, mit seinen vier offenen Ecken, den überlappenden Terrassen und den Backsteinhäusern gleich nebenan. Hier, wo noch Ali gegen Henry Cooper geboxt hat, läuft der Ball nun schneller als jemals zuvor, die Konterattacken fliegen nur so über das winzige Spielfeld, Ljungberg, Pirès, Bergkamp, Henry, Tor.

Keine Niederlage, keine Niederlage. Nicht verlieren, bloß nicht! Es geht schon gut los, die ersten Gegner sind nicht die allerschwersten, aber nach fünf Spielen steht dann zum ersten Mal alles auf dem Spiel. Da oben, bei United im Old Trafford, bei denen, die unbedingt Meister bleiben wollen, 0:0 steht es lange, und dann fliegt Vieira vom Platz, nach einem Beinzucker gegen van Nistelrooy. Und dann, ganz am Ende, plötzlich noch ein Elfmeter für die anderen, Ruud, der Holländer, schon wieder, und es könnte direkt alles vorbei sein, allerletzte Minute, und dann die Latte, und dann Schluss.

Und Keown macht den Kranich.

Sie haben nicht nachgegeben, sie haben nicht verloren, mit zehn Mann beim größten Rivalen. Jetzt schlagen sie auch Liverpool in Anfield und das neureiche Chelsea. An Neujahr stehen sie bei 13 Siegen und sechs Unentschieden, aber United ist doch noch einen Punkt vorne. Weiter, weiter! Besser, immer besser jetzt! Dabei hat die Weltauswahl ganz nebenbei mit dem Rücken zur Wand in der Champions League schon das Spiel der Saison gemacht, 5:1 bei Inter Mailand, höchster Europacup-Sieg, und die Gazzetta hebt am nächsten Tag Edvard Munchs „Schrei“ auf den Titel.

Alright. Freuen, Rückflug, weiter.

Im Januar kommen sie dann richtig ins Rollen, neun Spiele, neun Siege in der Liga, bis Ende März geht das so, und bei Henry klappt jetzt alles. Neun Spiele, neun Tore, und er ist ja nicht der einzige. „Wir hatten Henry und Bergkamp“, sagt Vieira später. „Wir wussten, es würde immer was passieren.“

Henry, der 30-Tore-Mann, wird mit Rückblick auf die ganzen Ballstafetten, das Vor-und-quer-und-quer-und-rein schwärmen: „Wir waren so selbstlos, jeder von uns gab den Ball an den weiter, der besser postiert war. Wir wollten immer alles teilen.“ Aber das ist natürlich nichts als Fußballerkitsch. Der Punkt ist wohl eher ein anderer: Alle wussten, was zu tun ist, um den eigenen Willen durchzubringen. Um am Ende das eine Tor mehr zu schießen. Oder um mit Wenger zu sprechen: um so wenige Narben wie möglich davon zu tragen. Kein Mensch aber ist selbstlos, und wenige Teams hatten mehr Ego, mehr Ecken und Kanten als Arsenal ’04. „It was complicated“, fasst Wenger später das Kabinenklima in bester Beziehungssprache zusammen. „LOTS of character“, sagt nur trocken der Haudegen Ray Parlour.

Massig Charakter, aber es geht. Sie halten den Laden zusammen. Nicht zuletzt dank Henry, dem König von Highbury. Sein fünftes Jahr in Nord-London ist sein bestes. Und was für Tore er schießt! Der Knaller gegen ManCity. Die Freistöße gegen Charlton und Blackburn. Das Solo gegen Liverpool, eins von drei Toren von ihm an diesem Tag. Seine Panenkas gegen Newcastle und Leeds. Es sieht so leicht aus. Perfekte Tore. Ein perfektes Jahr. No regrets?

Wenger seufzt: Wir hätten alles gewinnen können. Jedenfalls: auch die Champions League. Aber der Coach hat daneben gegriffen, hat seine erste Elf im FA-Cup gegen das verhasste United ermüdet und muss zusehen, wie Chelseas Wayne Bridge drei Tage später das Champions-League-Aus eintütet. Chelsea? Es ist wie ein Vorbote der Zukunft.

2004 siegt noch einmal der Wengersche Entdeckermodus. Dann übernimmt das ganz große Geld. Abramowitsch. Die Russen und die Scheichs und die Glazers. Es wird jetzt neunstellig gerechnet. Die Fußballwelt gerät aus den Fugen. Das Geld verliert seinen Wert, Spieler werden Aktien, hoffnungslos überbewertet. Und Wenger klammert sich wie ein Schiffbrüchiger an seine Dogmen. Junge Spieler, junge Spieler… Entwicklung… Ein Team… Das Große, Ganze… Die anderen kaufen längst einfach die Besten und verkaufen sie genauso schnell wieder. 2008 legt Manchester City 32 Millionen Pfund für Robinho auf den Tisch. Mehr Geld, als Arsenal für Henry, Bergkamp, Pirès und Ljungberg zusammen gezahlt hatte.

Ganz London wird vom Geld überschwemmt. Die Banker in der City spekulieren die Welt in den Abgrund, und Damien Hirst lässt an zwei Tagen Kunstwerke für 111 Millionen Pfund versteigern. Zehn Mal mehr als der vorherige Rekordhalter, a certain Pablo Picasso. Werte verschieben sich. Welten. Die Liga verändert sich mit der Stadt. Chelsea holt zweimal den Titel, United zieht wieder vorbei. Der Avantgardist Wenger wirkt plötzlich wie ein alter Kauz, der gegen den Zeitgeist anredet: „Du fühlst dich wie mit Steinen gegen Maschinengewehre. Die Leute interessiert es nicht. Sie wollen nur, dass du Meister wirst.“

Neue High-Tech-Stadien schießen aus dem Boden. 2006 verlässt auch Arsenal die Heimat des Fußballs, das Highbury. Zu klein, zu alt. Arenen werden jetzt nach arabischen Fluglinien benannt, um noch ein paar Millionen extra zu machen. Überall in der Stadt rollt die Teuerungswelle, die einfachen Leute fliehen immer weiter raus. Bald pendeln sie eine Stunde und mehr. Die neue Normalität.

Um zu sehen, was aus dem alten Arsenal, was aus London geworden ist, muss man sich nur die Bilder vom „Highbury Square“ anschauen. So heißt die Apartmentanlage, die jetzt da steht, wo mal ein Stadion war, die Seele von Zehntausenden. Es sind helle, funktionale Räumlichkeiten, sie werden angepriesen mit 24-Stunden-Concierge-Service und pitch view von der eigenen Couch, wegen der paar mickrigen Grasparzellen im Inneren der vier Betonungetüme, und das 50-Quadratmeter-Apartment gibt es schon ab einer halben Million Pfund. Vielleicht muss man das sogar günstig finden. Come on, it’s London! Und Tickets für Arsenal kann sich ja auch kaum noch wer leisten. Der Lauf der Zeit, oder?

La-di-da.

Der East Stand ist als einziger noch da, der mit der alten Kanone über dem Portal. Vielleicht hätten sie aber doch besser alles komplett wegreißen sollen, Denkmalschutz hin oder her. Stattdessen dieses Sakrileg. Als ob man diese Luxus-Condos in eine Art-Deco-Tribüne bauen könnte. Ein Seelenort weniger in der alten Fußballstadt London. Bleiben nicht mehr viele.

Aber Wenger, der ist immer noch da. Kein Meistertitel in zwölf Jahren. Kein Champions-League-Finale seit 2006. Ist er der Papst, oder was?, krakeelt Piers Morgan immer lauter.

Ein Verrückter, soll Einstein gesagt haben, macht wieder und wieder das selbe und erwartet immer neue Ergebnisse. Arsène Wenger ist mit diesem Spruch mal konfrontiert worden, und er fand auch keine richtige Antwort darauf. Er schien jedenfalls nicht zu widersprechen.

Und Einstein hatte nicht mal einen Abramowitsch gegen sich, keinen Scheich Mansour.

Warum sagt’s ihm keiner, meckern sie. Warum merkt er es nicht selbst? Warum macht er einfach immer weiter und weiter?

Vielleicht liegt es ja an 2004.

Ein unbesiegbares Team, aber kein perfektes Jahr. Nicht für Wenger, den ewig Suchenden. Vielleicht wäre er längst weg, vielleicht wäre er längst ein ganz anderer, ein neuer Mensch, wenn sie das verdammte Triple damals geholt hätten. Hätten nicht alle, hätte nicht jeder einzelne von ihnen diesen pathetischen Pseudotitel, diese 38 Spiele, ohne Nachzudenken gegen den großen, glänzenden Henkelcup eingetauscht?

Dabei ist es eigentlich egal. Was von 2004 bleibt, sind eh nicht die Zahlen. Was bleibt, sind die Bilder. Die Euphorie. Ein Herzflimmern.

Es ist doch so: Erinnerst du dich an jedes einzelne Kunstwerk, das du je in der Tate gesehen hast? Und spielt es irgendeine Rolle, wie teuer sie sind?

Erinnerungen an eine Stadt, ein Wochenende, ein Fußballspiel, das sind eingefangene Gefühle, nichts sonst. Ein Sound, der herüberweht. Ein entferntes Raunen, das du jederzeit wieder aufdrehen kannst. Weißt du noch, in welcher Minute Thierry Henry das 3:2 gegen Liverpool gemacht hat? Es ist egal.

Aber bist du ein Arsenal-Fan, einer von den echten, alten, ehrlichen, einer aus Highbury, dann weißt du noch genau, was es mit dir gemacht hat, dann hast du es noch ganz klar vor dir und in dir und du spürst, wie es war, damals, als der König übers Feld schwebte.

Es ist noch da, es ist noch da drin, irgendwo. Das ist der Fußball. Und kein Abrissbagger der Welt kommt bis dahin durch.

— Erschienen im 11FREUNDE Spezial „England“, Frühjahr 2016

Unter dem Vulkan

Schickt sie als allererstes hierhin, die Besucher, die Touris, und wenn sie dann noch wollen und können, dann dürfen sie sich gerne den Rest der Stadt anschauen.

Oder vielleicht doch lieber nicht.

Weil der Nettelbeckplatz, dieses große graue Nichts, eben gerade nicht vom Dasein, sondern von der Abwesenheit vieler Dinge lebt. Ohnehin schwierig mit der Existenz hier oben, zehn Minuten nördlich der Friedrichstraße.

Was fehlt ist schon mal ein Plan. Hatten sie hier noch nie.

Dafür jede Menge Fantasie. An der Ecke Reinickendorfer steht einer der bizarrsten Neubauten der Stadt, halb Wäscheständer, halb Bunker, dann gibt es noch ein paar Altbauten und die S-Bahn-Trasse.

Im „Dubrovnik“ wird gerade groß umgebaut, es gibt die Kegler-Klause, den türkischen Bäcker, je zwei Spätis und zwei Dönerbuden direkt nebeneinander. Und jetzt hat 100 Meter die Straße runter auch noch das Wedding Grillhaus aufgemacht.

Läuft.

Der ganze Artikel beim Tagesspiegel.

Der Verlierer

Warum kämpft einer immer weiter, obwohl er einfach nicht gewinnen kann?

Am Tag seines 33. Profikampfes steht Andy Thiele um 4.30 Uhr morgens auf, macht ein paar Liegestütze zum Wachwerden und geht zu Lidl zur Arbeit. Nach einer Acht-Stunden-Schicht fährt er mit dem Regional-Express nach Bernau, einer Kleinstadt nordöstlich von Berlin. Er wird dort an diesem Abend gegen einen Gegner kämpfen, von dem er weiß: Er ist 33 Jahre alt und Palästinenser. Er war angeblich vier Jahre im Gefängnis. Der Gegner kann nicht boxen und wird den Kampf in der zweiten Runde durch Niederschlag gewinnen.

Andy Thiele lässt sich fürs Verlieren bezahlen. Von seinen 32 Kämpfen als Profi gewann er einen. Meist durfte er nicht gewinnen, manchmal wollte er, aber konnte nicht, ein paar Mal fühlte er sich betrogen. Die Manager seiner Gegner kaufen sich die Siege, weil sie das Selbstbewusstsein ihrer Boxer steigern wollen oder um deren Kampfbilanz zu verbessern. Eine perfekte Bilanz ist wichtig, wenn ein Manager einen neuen Boxer aufbauen und vermarkten will.

Die Kampfbilanz von Thiele lautet 1-29-2: 1 Sieg, 2 Unentschieden, 29 Niederlagen.

Warum will ein Mensch ein Boxer werden?

Muhammad Ali wurde ein Boxer, weil er den Jungen verprügeln wollte, der sein Fahrrad gestohlen hatte. Mike Tyson wurde Boxer, weil er der kleine lispelnde Brillenträger war und die älteren Kinder in Brooklyn ihn auslachten. Diesen Männern fehlte etwas im Leben, das spürten sie, und sie wollten wissen, was es ist.

Du fängst mit dem Boxen an, weil du stark sein willst. Du wirst ein Boxer, weil du harte Muskeln willst und die bewundernden Blicke der anderen, denn die verächtlichen kennst du schon. Ein Boxer will sich über seinen Gegner erheben, für den Moment nur, aber der kann lange andauern, wenn der andere am Boden liegt und du über ihm stehst.

Warum wird einer Boxer?

„Ich kriege immer Applaus“, sagt Andy Thiele. „Ich habe fast alles, was man mitbringen muss: Nehmerqualitäten, gute Ausstrahlung.“ Warum gewinne ich nicht?, hat er einmal einen Matchmaker gefragt, so nennt man den Mann, der die Kämpfe organisiert. Andy, sagte der Matchmaker, kein Problem, leg das Geld auf den Tisch, verzichte auf deine Gage, dann gewinnst du.

Andy Thiele boxt in einem anderen Teil der Welt als die Brüder Klitschko, er kämpft nicht in Arenen oder im Spätprogramm von RTL. Wenn Thiele boxt, ist der Glamour weit weg. Sein Ring steht in Stadthallen und Autohäusern. Ruhm gibt es hier nicht, dafür unsaubere Schläge und, wenn du Glück hast, ein johlendes Publikum. Niemand fragt Thiele nach einem Autogramm.

Warum ist Thiele ein Boxer?

„Das Geld, klar“, sagt er, 100 Euro pro angesetzte Runde, das ist meist sein Preis, macht 400, manchmal 1200 Euro für einen Abend. „Und es ist immer ein Training. Ein Kampf ist immer ein Training.“

Thiele kämpft in Bernau an einem Samstagabend. Dort, in einer Mehrzweckhalle, werden die Zuschauer seine 30. Niederlage sehen. Er zieht die Schultern hoch, als er davon erzählt. Es wirkt wie eine Geste, die ihn das Boxen über die Jahre gelehrt hat.

Andy Thiele trägt eine schmale Brille, wenn er nicht im Ring steht, seine Haare sind nach oben gegelt. Sein Lächeln gibt eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen frei. Thiele lächelt oft. Die Augenhöhlen sind ein bisschen geschwollen, sonst erinnert nichts an das Gesicht eines Boxers.

Der erste schwere Knockout erwischte ihn in seinem dritten Kampf. Ein dummer K.o., sagt er heute, Lucky Punch. „Er trifft mich auf die Schläfe, ich kippe nach vorne und versuche noch, es aussehen zu lassen, als ob ich gestolpert bin.“ Der Ringarzt war gleich da. Komm, wir stehen auf, sagte der Arzt. Nee, lass mal liegenbleiben, sagte Thiele.

„Theoretisch habe ich immer eine Chance“, sagt Andy Thiele. „Was will er machen, wenn ich ihn umhaue?“ Er hat noch nie einen umgehauen.

Einmal übertrug der Fernsehsender Eurosport einen seiner Kämpfe. „Schon bewundernswert, wie Andy Thiele da immer noch mitmischt“, sagte der Kommentator. „Er hat Schwierigkeiten, nasse Papiertüten durchzuschlagen, aber: Er steht.“

Mensch Andy, sagten die Freunde, raste doch mal richtig aus! „Mein Problem ist mein Kopf“, sagt Thiele. „Ich denke zu viel nach. Ich will dem Gegner nicht weh tun.“

Thiele ist meist alleine unterwegs, beim Training, beim Kampf. In seiner Ecke steht dann ein Betreuer des gegnerischen Teams. Manchmal scheint es so, als wäre er auch der einzige, der an den Boxer in sich glaubt. Thieles Freundin sagt über einen Abend, an dem sie ihn kämpfen sah: „Als ob man in ein Flugzeug steigt und hoffen muss, dass man nicht abstürzt. Irgendwann ist er dann runtergegangen.“ Es mache keinen Sinn mehr, seit Jahren schon nicht, sagt sie, „aber damit muss er sich erst abfinden.“

Der Matchmaker, ein kleiner Deutsch-Türke mit Schnurrbart, holt Thiele in Bernau am Bahnhof ab. Der Gegner und sein Betreuer warten im Auto. Sein Gegner ist ein hagerer Typ mit rasiertem Kopf und Buckel, er hat die Augen eines ängstlichen Raubvogels. Er schaut sich ständig um wie einer, der nicht mal der eigenen Mutter vertraut. Thiele hat vor fünf Wochen gegen ihn Sparring gemacht und nach ein paar Runden den Mundschutz rausgenommen und weitergeboxt, um dem Gegner zu erklären, wie der es besser machen könnte.

Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums stehen sich Thiele und sein Gegner an diesem Abend zum ersten Mal wieder gegenüber. Es geht um das Drehbuch. „Ich tue dir nicht weh“, sagt Thieles Gegner, „ich schlag nur auf den Körper.“

„Du kannst mir gar nicht weh tun“, sagt Thiele.

Ein paar Minuten später hat Thiele drei Hundert-Euro-Scheine in der Hosentasche. „Das macht echt den Sport kaputt“, sagt er leise. „Aber ich mach ja mit.“

Ein genaues Drehbuch abzusprechen, zweite Runde, Körpertreffer, das hat es selbst in Thieles Laufbahn selten gegeben. Thiele sagt: „Wer mich nicht klar und deutlich schlägt, der hat im Profiboxen nichts verloren.“ In manchen Momenten wirkt er so, als würde er sich selbst nicht verstehen.

Die Mehrzweckhalle in Bernau liegt in einem Neubaugebiet, gegenüber ist das Jobcenter. Thiele trägt eine Sporttasche über seiner Schulter und eine Lidl-Tüte in der Hand. Er hat sich auf der Arbeit ein Oktoberfest-Outfit gekauft, für seine Geburtstagsparty. Thiele wird in ein paar Wochen 30.

„Ah, die Tschechen-Connection ist auch schon da“, sagt Thiele und deutet auf einen silbernen Minivan mit Dachlader: „Czech Boxing Team“, steht auf der Tür. Die Tschechen, sagt Thiele, kommen, das Auto voll, über die Grenze, legen sich für ein paar Hundert Euro im Ring hin und fahren dann wieder zurück. „Das hat mit Boxen nicht zu tun“, sagt Thiele. „Die stehen nur in Angsthaltung da. Da siehst du nicht eine Kombination. Bei mir sieht man wenigstens, dass ich eigentlich boxen kann.“

In der Nacht hat Andy Thiele vom Kampf geträumt. Er hat den Araber umgehauen, entgegen der Absprache, und dann hat er ihm die Geldscheine auf den Bauch geschmissen. „Das müsste ich echt bringen.“ Thiele lacht. „Aber wer weiß, was die dann abziehen.“

Auf dem Weg zur Halle ruft Verena an. „Nein, Schatz, wirklich… Du brauchst für den Käse nicht extra kommen… Halb neun bin ich spätestens im Ring, und zwei Minuten später bin ich wieder raus… Ach, nein. Das ist doch ein Drehbuch… Alles gut. Der Typ hat mehr Schiss als ich. Wirklich.“

Dass ihr Freund sich verkaufe, das gefalle ihr nicht, sagte Verena vor dem Kampf, als Thiele nicht dabei war. „Warum soll er weiter seine Gesundheit aufs Spiel setzen? Wie bei diesem bösen Kampf damals.“

Am 17. Juni 2010 strahlte die Sonne über Kiel. Eine Open-Air-Veranstaltung. Andy Thiele boxte im Hauptkampf gegen Hamid Rahimi. Zwölf Runden, ein Intercontinental-Titel im Mittelgewicht des kleinen Verbandes „Global Boxing Council“.

Es gibt ein Video bei YouTube, es heißt „Hamid Rahimi Titelkampf“. Man erfährt in dem Video nichts davon, dass Thiele bis eine Woche vor dem Kampf einen Gips um die Hand trug, dass er kaum trainiert hatte. Was man sieht: wie Rahimi in der ersten Runde mit Innenhänden auf Thiele einschlägt, mit unsauberen Kopfhaken, auch dann noch, als der sich wegdreht. Thiele bleibt irgendwie stehen, erholt sich wieder, Rahimi wird müde, es geht bis in die elfte Runde. Elf Runden Boxen ohne Vorbereitung. „Da hatte ich echt Glück“, sagt Andy Thiele.

Das Ende des Videos guckt er sich nie an. Rahimi drischt auf ihn ein, Thiele bricht zusammen, sein Betreuer führt ihn zum Hocker in der Ringecke wie einen Besoffenen. Die Zuschauer johlen. Rahimi lässt sich feiern. Dann schaut er rüber zu Thiele und ruft: „Hey, hey, hol mal einer den Rettungswagen!“

Ein Riss im Schädel, eine Einblutung ins Gehirn, das ist die Diagnose. Die Ärzte verlegen Thiele auf die Intensivstation. Nach drei Tagen entlässt er sich selbst.

Wochenlang schluckt er zu jeder Mahlzeit Schmerzmittel, drei Mal täglich 800 Milligramm Ibuprofen, und hat trotzdem noch Kopfschmerzen. Fünf Monate später steht Thiele wieder im Ring, Autohaus König, Berlin-Tempelhof, technischer K. o. in der 3. Runde. „Ich hatte das Geld damals nötig“, sagt er.

Bernau, eine halbe Stunde vor dem Kampf. Thiele packt in der Kabine seine Handschuhe aus. Hose und Schuhe hat er nicht dabei. „Nicht gefunden“, sagt er. Als hätte er das Boxen teilweise schon hinter sich gelassen.

Der Matchmaker leiht ihm ein schwarzes Paar Schuhe, Größe 42, eine Nummer zu klein. Thiele zeigt den anderen seine Handschuhe. „Aus Lugano“, sagt er. Bei einem Titelkampf dürfen auch die Verlierer die Ausrüstung behalten. „Lugano, supertoll da“, sagt Thiele, „die Natur, der See, die ganzen Ferraris.“ Das war sein erster Zwölf-Runden-Kampf damals, eine knappe Punktniederlage. „Hat den Kampf nicht widergespiegelt, das Ergebnis“, sagt Thiele. „Ein guter Kampf. Ich war gekaufter Gastgegner.“

Die Leone-Handschuhe sind weiß, schlank und gut verarbeitet, die italienische Flagge ist aufs Handgelenk genäht. Einer der anderen Boxer, ein junger Türke, streift sich den rechten über und schlägt sich damit in die flache Hand. „Die sitzen richtig bombe, Alter!“ – „Gegen wen boxt du?“, fragt Thiele ihn. – „Tschechen.“ – „Hau ihn nicht gleich um. Probier was aus.“ – „Krass, wie gut die sitzen, die Dinger. Leihst du mir die?“ – „Wann bist du dran? Siebter Kampf? Da bin ich schon weg.“ Thiele dreht den Kopf zur Decke. „Tscheche, Tscheche“, sagt er. „Ich will auch mal gegen einen Tschechen boxen. Aber die wollen alle nicht.“

„Kein Problem“, sagt der Betreuer seines Gegners und reibt Daumen an Zeigefinger. „Gar kein Problem. Hängt nur vom Geld ab.“

Kann man auf einen gekauften Sieg stolz sein? Und wichtiger noch: Kann man stolz sein, wenn man weiß, dass man verliert? Und wie man verliert? Es ist diese Frage, die sich Andy Thiele an diesem Wochenende immer wieder stellt, manchmal auch laut. Der Gedanke arbeitet in ihm.

Zwei Stunden vor seinem Kampf sitzt er beim Griechen, Restaurant Athos, ein paar Schritte von der Halle entfernt, vor sich auf dem Tisch steht ein Kräutertee. Thiele erzählt von den Anfängen, von vielen Schulhof-Prügeleien, der frühen Scheidung der Eltern. „Mein Vater hat geboxt“, sagt Thiele. Der Vater verließ die Familie, als Andy klein war. Die Mutter verbot ihrem Sohn das Boxen.

Thiele erlebte viel Gewalt als Kind. Er will nicht, dass geschrieben steht, wer ihn schlug. Einmal musste er ins Krankenhaus zur Behandlung.

Er kam auf ein Berufsschul-Internat in Schönebeck bei Magdeburg. Er war ein schmaler Junge mit wenig Selbstbewusstsein. Ein Opfer. Er sah den Aushang vom Boxverein. So oder so ähnlich beginnen die Geschichten vieler großen Boxer, und eben auch die Geschichten der Verlierer.

„Ich mag das Gefühl beim Boxen, die Halle klatscht, das sind Leute, die dich gar nicht kennen“, sagt Andy Thiele. „Das ganze Feeling. Das Taktieren im Ring. Das ist unbeschreiblich. Ich will auch was zeigen.“ Thiele versteht etwas vom Boxen, er kann lange über verschiedene Ring-Strategien reden, er steht nachts auf, weil er sich Kämpfe aus den USA anschauen will. Als er in Bernau beim Griechen sitzt und erzählt, mit strahlenden Augen, wird klar, er liebt das Boxen. Und eine Frage wird immer größer: Warum betrügt er diesen Sport?

Thiele erinnert sich an das Gefühl des Sieges. 31. Mai 2008, Halle, Sachsen-Anhalt, so steht es in der Statistik, ein grünes W dahinter, „Win“. Punktsieg, vier Runden. Ein ehrlicher Erfolg, sagt Thiele. Es fühlte sich gut an. Würde er gerne mal sehen, den Kampf, aber es hat damals keiner mitgefilmt.

Thiele redet und redet. Er spricht von einem Fußballspiel, bei dem er mitspielte. 0:7 stand es gegen Borussia Genthin, Thieles Mitspieler ließen die Köpfe hängen. Nur Thiele lief immer weiter, verzweifelt, wütend. Am Ende schoss er das 1:7.

Es sind nur noch ein paar Minuten, bis es losgeht in Bernau. In der engen Kabine reibt sich einer die Arme mit scharfem Balsam ein. Thieles Gegner, Rundrücken, Angstaugen, läuft zwischen den Bänken auf und ab, anderthalb Schritte hin, anderthalb zurück. Thiele wirkt ruhig, wie ein Mann, der einen Entschluss gefasst hat und weiß, dass es der richtige ist.

Er bekommt eine SMS von Verena: „Kannst du mir bitte schreiben, wenn es vorbei ist?“

Der Ansager trägt Smoking und Lesebrille. „Making his way to the Red Corner!“, ruft er ins Mikrofon. „Welcome, Andy Thiele!“ Er trägt ein graues Tanktop über der geliehenen Hose und läuft quer durch die Halle zum Ring. Vom Band singt Donna Lewis „I love you, always forever“. Ein paar Sponsoren-Plakate hängen an der Wand: Toom Baumarkt, McDonald’s, Zweirad-Spezialist, Zahnklinik Bernau, Boxen stoppt Gewalt. Dann marschiert Thieles Gegner ein, zu schweren Riffs und Bässen. Die Halle ist fast leer, keine 100 Leute sind da, kaum jemand klatscht.

Gong. Die beiden Boxer bewegen sich umeinander. Der Gegner versucht eine Links-Rechts-Kombination zum Kopf, aber seine Beine machen nicht mit. Dann landet ein sanfter linker Haken auf Thieles Körper. Thiele kniet sich hin und verzieht das Gesicht. Der Ringrichter zählt ihn an.

Thiele geht noch vier weitere Male zu Boden, ohne einmal hart getroffen worden zu sein. Nach 1:17 Minute in der zweiten Runde ist Schluss. Der Ringrichter hebt den Arm seines Gegners. Der schaut nach links und rechts, aus den Augenwinkeln, wie einer, der gerade aus dem Supermarkt kommt, die Arme voll geklauter Waren.

„Sah gut aus“, sagt der Betreuer von Thieles Gegner auf dem Weg in die Kabine. „Aber warum lässt du dich das dritte Mal anzählen? Den hätte er da schon abbrechen müssen, normal.“

„Ich hoffe“, sagt Thiele, nachdem er geduscht hat, „man hat wenigstens gesehen, dass ich ihm überlegen war.“ Dann schüttelt er den Kopf. „Schade für den Sport.“

Durch die Dunkelheit läuft Andy Thiele die Hauptstraße entlang zum Bahnhof Bernau. Die weißen Leone-Handschuhe hat er dem jungen Türken gegeben, für seinen Kampf gegen den Tschechen. „Die gibt er mir wieder“, sagt Thiele. Ein Trabbi-Cabrio fährt vorbei und verschwindet hinter der nächsten Ecke. Dann hört man nur noch den Atem des Kämpfers in der Nachtluft.

Warum wird ein Mensch ein Boxer?

Weil er gewinnen will. Aber auch weil er wissen will, wer er ist. Im Ring gibt es keine Ausreden. Dort musst du zeigen, aus was du gemacht bist.

Thiele hat den Boxsport verraten durch seine gekauften Niederlagen. Und wer ihm an diesem Abend in Bernau in die Augen schaut, sieht, dass er selbst am meisten darunter leidet.

Aber es gibt auch die Kämpfe, die Thiele gewinnen will und in denen er es versucht. Kämpfe wie den in Kiel gegen Hamid Rahimi, der ihm mit seinen Fäusten den Schädel brach. Im Video, das den Kampf zeigt, gibt es eine Szene, die vielleicht ein wenig darüber verrät, warum Thiele sich dieses Leben antut. Ganz am Ende steht Rahimi mit dem Ringrichter in der Mitte des Rings und ein Sprecher ruft ihn als Sieger aus. Dann ruft der Ringsprecher: „Sehr verehrte Damen und Herren, ich bitte auch kräftig um Applaus für Andy Thiele.“ Die Zuschauer klatschen. Für sie ist auch der Verlierer ein Sieger, weil er Mut gezeigt hat und Charakter.

Im Hintergrund des Videos, in der Ringecke, in sich versunken, unfähig aufzustehen, sitzt Thiele, hebt mit gesenktem Kopf die Hände nach oben und applaudiert sich selbst. Er hat standgehalten.

Thiele weiß, egal wie oft er auf dem Ringboden lag, gebrochen hat ihn keiner. Er weiß, wer er ist. Und an diesem Abend, so wirkt es, hat er gelernt, wer er nicht sein will.

Er geht still die Straße entlang, die nach Hause führt, aus dem Dunkel tauchen die Lichter des Bahnhofs auf. Er sagt: „Jetzt ist wirklich Feierabend.“

Zwei Wochen später schreibt Andy Thiele eine SMS. Es geht um den Abend in Bernau. In der Nachricht steht nur ein Satz: „Das war mein letzter Kampf.“

Ein halbes Jahr später steht ein weiterer Kampf in seiner Bilanz. Abbruch in der zweiten Runde. Ein alter Kumpel brauchte einen Sieg.

(erschienen in „Knockout: Die 20 besten Geschichten vom Boxen“, Hrsg.: Takis Würger, Ankerherz, Hamburg 2015)

Wasser und Himmel

Wenn du Ruhe suchst in der Stadt, geh ans Ende der Sackgasse. Leicht zu erkennen, die rot-weißen Poller, die Fahrradständer, die zwei Cafés, eigentlich sogar drei, auf der anderen Straßenseite ist ja auch noch eins. Hier haben die Häuser Türmchen und die Fahrradwege Wurzeln.

Die großen Bäume am Ufer. Wasser und Himmel und Bäume und Ruhe. Da, wo die Straße endet.

Pekinger Platz nennt sich das, aber ein Platz ist es nicht, eher ein Ort, und an China erinnert schon gleich gar nichts, steht China doch heute für alles, was es hier eben nicht gibt: Lärm, Smog, Gedränge.

Hier am Nordufer wendet sich der Wedding von sich selbst ab und schaut rüber ans andere Ufer. Grüßt die Lastkähne und die Industriehallen, im Wissen, dass es sich hier auf dieser Seite auf jeden Fall viel besser aushalten lässt. Vielleicht ist er ja sogar nirgendwo schöner, dieser Wedding, als hier, an seiner Grenzpromenade.

Wer es bis hierhin geschafft hat, der hat einiges richtig gemacht.

Der ganze Artikel beim Tagesspiegel.

Immer die Panke hoch

Entlang der Panke soll es sehr schön sein und sehr grün, so hatte man es dem Reporter erzählt. Also zog er sich die Wanderstiefel an und lief los, ein bisschen Ruhe suchend. Gefunden? Naja.

Es war oben am S-Bahnhof, als die Stadt dem Wanderer noch einmal ihr Gesicht zuwandte. Sie trug eine Trainingsjacke der brasilianischen Selecao, die Stadt, sie hatte zwei Kumpels dabei und schleuderte dem Wanderer einen Satz entgegen, ziemlich wütend und atemlos, sodass es mehr wie ein einzelnes Wort klang: Morukwarumbrauchendiesolangeichfickedieja.

Bevor sich der Wanderer auch nur den Ansatz einer geistreichen Antwort überlegen konnte (er wusste ja leider auch nicht, warum!), waren die drei Halbstarken schon um die nächste Ecke verschwunden. Besser so. Nicht ablenken lassen.

Es galt ja einen Plan zu verfolgen.

Der Plan, das war an diesem durchaus schönen Montagmittag, 20 Grad und ein paar weiße Wolken: mal hinaus ins Grüne zu fahren, beziehungsweise: hinein, denn das Grüne lag in diesem Fall mitten in Berlin – entlang des kleinen Flüsschens Panke, das sich quer durch den Berliner Ortsteil Gesundbrunnen schlängelt. Von der Mündung unten an der Müllerstraße sollte die Wanderung gehen bis hinauf zur Bezirksgrenze am S-Bahnhof Wollankstraße, wo Pankows grüner Bürgerpark beginnt. Der Wanderer, der eigentlich nur ein Reporter in Wanderstiefeln war, hatte gehört, dass es sich Panke-aufwärts ganz vorzüglich ausschreiten ließe. Perfekte Voraussetzung, um die Stadt und all ihre Lautheiten gleich zu Wochenbeginn mal hinter sich zu lassen. Gute vier Kilometer, immer am Ufer entlang.

Auf, auf!

Den ganzen Artikel beim Tagesspiegel lesen.

Im März schien die Sonne

15 Jahre nach Ende des Kosovokriegs werden immer noch 1700 Opfer offiziell vermisst. In Suhareka verschwanden 49 Menschen aus Hysni Berishas Familie. Geschichte eines Überlebenden, der die Hoffnung nie aufgegeben hat.

Suhareka, 26. März 1999

Vom Fenster im zweiten Stock kann Hysni Berisha die Straße sehen. Es ist halb eins, aber Mittagsruhe gibt es heute keine. Er sieht seinen Cousin Musli die Straße hinunterlaufen, den weißen Plis auf dem Kopf. Dahinter Muslis Mutter, die alte Hanumshahe, schwer stützt sie sich auf ihren Stock. Die Straße ist abgesperrt, die Polizisten führen die beiden wieder zurück. Hysni Berisha wirkt ruhig, oben am Fenster seines Wohnzimmers, er hat seine Frau und seine sechs Kinder bei sich, seine Angst zeigt er nicht.

Suhareka, 26. März 2014

Die Porträtfotos in der Turnhalle stehen auf rotem Tuch. Fatime mit dem Kopftuch, das erste Foto, gleich rechts vom Eingang, danach kommen Ismet und Redon, sie schauen aus Kinderaugen. Die Menschen gehen vorbei, blicken in die Gesichter, einige haben die flache Hand auf der Brust, dort, wo das Herz sitzt. Draußen stehen sie bis halb über den Parkplatz. „Bitte bilden Sie Zweier- und Dreierreihen“, sagt der Mann im Dreiteiler. „Bitte gehen Sie schneller.“

Suhareka, 26. März 1999

Es ist still geworden in der Pizzeria zur Mittagszeit. Nur das Krachen der Walkie-Talkies ist zu hören, draußen vor der Tür. Holt den Lastwagen, ruft einer, und bringt sie so schnell wie möglich weg. Die Männer arbeiten zügig, der LKW hat in der Nähe gewartet, die gelbe Plane leuchtet in der Sonne. „Mein Sohn, seid ihr fertig?“, fragt Zokis Mutter. „Ja“, antwortet der Sohn, „wir haben alles erledigt.“ – „Gut“, sagt die Mutter, „dann gute Fahrt.“

„Es war ein schöner Tag“, sagt Hysni Berisha, der Tag, an dem er seinen Cousin Musli noch einmal sah und dessen alte Mutter mit ihrem Stock. „Ein sonniger Tag“, sagt Hysni Berisha. „Im März schien die Sonne, und im April hat es geregnet.“

* * *

In diesem Text geht es nicht um Bill Clinton oder Peter Handke. Nicht um Schröder und Fischer, und auch nicht um Slobodan Milosevic, obwohl er doch vorkommen wird, weil es nicht anders geht. Im Mittelpunkt dieses Textes, dieser Geschichte, steht keiner jener großen Männer, die immer zuerst auftauchen, wenn man nach dem Wort sucht, in Archiven, in Nachschlagewerken, im Internet; ein Wort, das allen noch gut geläufig ist, gerade in Deutschland.

Kosovokrieg.

In dieser Geschichte geht es um einen, der nicht am Verhandlungstisch saß, der nicht um Rat gefragt wurde, der keine Knöpfe gedrückt und keine Befehle erteilt hat an Uniformierte. Es geht um einen Mann, der sich auf die Suche gemacht hat, als längst alle Knöpfe gedrückt, alle Befehle ausgeführt waren. Sein Name ist Hysni Berisha, er stammt aus dem kleinen Ort Suhareka im Süden des Kosovo. Seine Suche hat vor genau 15 Jahren begonnen, im Juni 1999.

Hysni Berisha sucht nach seinen Verwandten, nach seiner Familie. Es ist für ihn eine vielleicht nie endende Aufgabe geworden: die Suche nach den Berishas, die verschwunden sind, an einem sonnigen Freitagmittag im März 1999.

* * *

Seit dem frühen Morgen stehen sie da, die beiden Panzer, keinen Meter haben sie sich bewegt. Ihre Geschützrohre sind auf das Haus gerichtet, das sie in Suhareka nur das Weiße Haus nennen. Alles ist still, bis auf das dumpfe Wummern, das von den Weinbergen herüberweht. Seit acht Uhr beschießt Artillerie die Dörfer. Die Panzer stehen auf der Anhöhe hinter dem Weißen Haus, ein prächtiges Gebäude mit einer Fassade aus weißem Klinker, daher der Name.

Hysni Berisha, ein kleiner Mann mit sonnengebräuntem Gesicht und tiefen Wangenfalten, spricht ohne Hast. Er macht viele Pausen und wartet geduldig auf den Übersetzer, der die Worte mühsam vom Albanischen ins Englische trägt. Wenn er schweigt und wartet, zieht Hysni Berisha Mundwinkel und die Stirn nach oben, ein Ausdruck zwischen Sorge, Melancholie und einem Lächeln, das fast entschuldigend wirkt.

49 Menschen starben am 26. März in Suhareka“, sagt der Übersetzer. „Darunter 17 Kinder und 18 Frauen.“

* * *

Drei Familien drängen sich ins Weiße Haus, Menschen jedes Alters. Am Tag zuvor, Donnerstag, 25. März, waren sie schon einmal gekommen, die Uniformierten. „Wo ist dein Papa Clinton jetzt?“, haben sie Nexhat Berisha gefragt, Hausherr zu Friedenszeiten, und dann haben sie gelacht und angefangen, auf ihn einzuschlagen, sie haben das Geld genommen, das sie fanden, 50.000 D-Mark, und alles andere, was sie gebrauchen konnten, Fernseher, Elektrogeräte, Heizstrahler und die Computer der OSZE-Beobachter. Die hatten Suhareka verlassen, schon vier Tage zuvor, kurz bevor die ersten NATO-Bomben fielen auf die serbischen Stellungen im Kosovo. Grünes Camouflage tragen die Männer, als sie am 25. März in Nexhat Berishas Haus kommen. Danach steigen sie wieder in ihre Wagen und lassen die Angst zurück.

Sie kamen zu den Häusern der Berisha-Familie, weil die OSZE ins Weiße Haus gezogen war“, sagt Hysni Berisha. „Aber auch, weil wir Albaner waren.“

Beginnend im Januar 1999 und bis zum Datum dieser Anklageschrift andauernd, haben Slobodan MILOSEVIC, Milan MILUTINOVIC, Nikola SAINOVIC, Dragoljub OJDANIC und Vlajko STOJILJKOVIC eine Kampagne des Terrors und der Gewalt geplant, angestiftet, befohlen, durchgeführt sowie auf anderem Wege unterstützt und begünstigt, die gegen die im Kosovo in der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) lebenden kosovo-albanischen Zivilisten gerichtet ist.

Die Operationen wurden mit der Zielsetzung unternommen, einen erheblichen Anteil der kosovo-albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo zu vertreiben, um eine dauerhafte serbische Kontrolle über die Provinz zu sichern. Um diese Vertreibungen zu begünstigen, haben die Kräfte der BRJ und von Serbien bewusst eine Atmosphäre der Angst und der Unterdrückung geschürt, durch Anwendung von Gewalt, Gewaltandrohung sowie gewalttätige Handlungen.

(Aus der Anklageschrift gegen Slobodan Milosevic, 22. Mai 1999.)

Mostar, Sarajevo, Srebrenica. Zehntausende ermordert, Hunderttausende vertrieben, Brücken zerstört, Häuser verbrannt: Auf dem Balkan hatte der Tod bereits viele Namen, als 1999 noch einmal alles von vorne losging. Und die Welt schaute erneut zu, aus sicherer Entfernung, von den Bergen nahe Suhareka konnte man alles sehr gut sehen, die Dörfer und den Qualm und die Lastwagen, die leer ins Tal fuhren und voll beladen wieder zurückkehrten.

* * *

2014

Die Pizzeria, 15 Jahre später. Putz, Staub, Trümmer, sie haben alles so gelassen, die schwarzen Wände, die kaputten Gipssäulen, nur ein dünner Glasvorbau ist vor den Eingang gesetzt worden. Die Einschusslöcher liegen kaum je zwei Zentimeter auseinander. Die Täter haben dem Schicksal wenig Platz gelassen.

Der Morgen vor der Trauerfeier. Das Billard-Café nebenan hat schon geöffnet. Menschen gehen vorbei, tägliche Gänge durchs Stadtzentrum. Der Kameramann von Al-Jazeera beschwert sich über die Lichtspiegelung. Der Fotograf versucht, durch die Scheibe zu fotografieren. Die Reporter rauchen. Da kommt Hysni Berisha, schnelle Schritte in weiten Anzugbeinen, den Schlüssel in der Rechten.

Die Pistole auf dem Boden, mit Staub überzogen. Es knirscht unter den Schuhen. Ein Klicken. Der Fotograf hat sein Motiv. Die Pistole ist aus Plastik, ein Kinderspielzeug.

* * *

13. Juni 1999, der Frieden ist fünf Tage jung, als Hysni Berisha in die Pizzeria zurückkehrt, zum ersten Mal. Zusammen mit den Soldaten der Kosovo Force kommen die Menschen wieder in ihre Stadt, und Hysni Berisha sieht die Pizzeria und etwas später, auf der Hauptstraße, sieht er den Kastenwagen mit der Aufschrift CNN. Er führt sie hin, die Journalisten aus Amerika, mit Handzeichen, Lauten, er zeigt ihnen alles, auch den Schnuller, der auf dem Boden liegt, und abends ist Suhareka in den Weltnachrichten.

Am 13. Juni beginnt sie, die Suche von Hysni Berisha. Von Haus zu Haus geht er zunächst, beginnt, die Angehörigen zu befragen, treibt Zeugen auf, stellt schließlich eine erste Liste zusammen mit den Namen derer, die verschwunden sind. Fieberhaft suchen die Menschen nach ihren Angehörigen, in diesen ersten Nachkriegstagen, sie reißen die frischen Gräber auf und lassen sie offen liegen, wenn sie nicht die Ihren finden. Zwei Tage sucht Hysni Berisha allein, dann bittet er die Soldaten um Hilfe, die KFOR, fortan ist er mit zwei professionellen Forensik-Teams unterwegs, er zeichnet Karten der Fundorte, der Gräber, alles von Hand, betreibt Nachforschungen, identifiziert Leichen, Dutzende, Hunderte. Macht eine erste Aussage für den Strafgerichtshof in Den Haag.

Später gründet Hysni Berisha eine Organisation, die Vermisstenorganisation von Suhareka, sie hat zunächst ein Mitglied und ihr Name ist „Shpresim“, das bedeutet so viel wie: weiter hoffen; die Hoffnung nicht aufgeben.

„Die Hoffnung war immer bei mir“, sagt Hysni Berisha. „Es gab Momente ohne Hoffnung, aber ich habe nach vorne geschaut und weitergemacht. Dank ihr, dank der Hoffnung, haben wir die 24 gefunden.“

* * *

2014

In der Sporthalle kommt Moll aus den Boxen. Schwarzes Tuch vor einem der Basketballkörbe, in der Mitte eine Papprose. Die Tribünen auf beiden Seiten füllen sich, es müssen an die 1.000 Menschen sein. 15 Jahre später. Die erste offizielle Trauerfeier.

Am Fußende der Särge sind Zettel angeheftet, weißes A4, darauf die Namen und der Fundort. Ba-046, steht da, Ba-09, Ba-47-1. Ba, das steht für Batajnica, ein Militärgelände nördlich von Belgrad, 400 Kilometer entfernt von Suhareka.

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1999

Die Bagger sind schon da, als die Müllmänner aus Prizren am Schießstand von Korisha ankommen. Nachts arbeiten sie sonst nie. Zwei Bagger, zwei Lastwagen, mit kühlbaren Containern. Es regnet in Strömen, eine kalte, nasse Nacht, Anfang April 1999. Die Schaufeln der Bagger graben sich in die Erde. Die Polizisten arbeiten unten, die Müllmänner laden das, was sie finden, auf die Laster. Sie zählen die Körper nicht, aber es sind mindestens 80, vielleicht 90, sie tragen Straßenkleidung und sie riechen schon. Bis um zwei Uhr morgens dröhnen die Bagger auf dem Schießstand der Jugoslawischen Volksarmee, der zwischen Suhareka und Prizren liegt, und ihre Scheinwerfer erleuchten die Nacht.

Die gleiche Nacht, die gleiche Gegend: Hysni Berisha findet keinen Schlaf. Ab nach Albanien, haben die Polizisten gerufen, als sie ihn und seine Familie und all die anderen verbliebenen Albaner aus ihren Häusern geholt haben, ab zur Grenze mit euch! Über fünf Kilometer lang der Treck, der kurz vor Prizren vorerst angehalten wird. Vom Rand des provisorischen Lagers sieht Hysni Berisha zwei grelle Lichtkegel, Motorengeräusch dringt durch den Regenschleier. Er kann sich nicht erklären, was sie da tun, warum sie arbeiten, mitten in der Nacht.

Im September kehrt Hysni Berisha zurück nach Korisha, er begleitet wie immer die Forensiker. Ein Foto finden sie in der Erde des Schießstands, ein Foto und eine Jacke und schließlich den Federkasten. Der schlimmste Tag, sagt Hysni Berisha, das war dieser 1. September 1999, der erste Schultag. Der kleine Mirat Berisha wäre in die zweite Klasse gekommen. Stattdessen finden sie nur seinen Federkasten, voller Erde, zehn Wochen nach der Befreiung.

* * *

Die Männer kommen zu Fuß, es ist nicht weit von der Polizeistation zum Weißen Haus. 30 Männer, alle in Uniform, nur Milorad Nisavic kommt ganz in Schwarz. Boss, so nennen sie Nisavic in Suhareka. Sein Hotel heißt so, „Boss Hotel“. Hier wohnten die OSZE-Beobachter. Dann zogen sie ins Weiße Haus, dort war es billiger. Das konnte dem Boss nicht gefallen.

30 Männer umringen das Haus, es ist kurz vor halb eins, und Zoki und Miki sind auch da. Die Berishas erkennen sie trotz der Vermummung. „Bujar!“, ruft Zoki nach einem der Berishas, „Bujar, komm raus!“

Zoran Petkovic spricht fließend Albanisch, er kennt die Familie gut, sie nennen ihn Zoki, er war Fahrer in ihrer Firma, fuhr Lastwagen und Busse im „Bau- und Industrieunternehmen 19. November Suhareka“. Früher hat Zoki oft bei den Berishas zu Abend gegessen. Zoki und sein Bruder Miki und all die anderen stehen nun draußen vor dem Haus, jeder mit einer Kalaschnikow in der Hand, und das Böse hat eine vertraute Stimme.
„Komm raus, Bujar“, ruft Zoki. „Komm schon raus.“

* * *

2014

Alan Robinson, der Chef der EU-Forensiker im Kosovo, sagt: „Das Ausmaß, in dem die Leichen hier bewegt worden sind, habe ich noch nirgendwo gesehen.“

An acht Stellen haben sie Menschen gefunden in Batajnica, 705 insgesamt, dazu noch einmal 380 weitere „Gegenstände von forensischem Interesse“, so heißt es offiziell. Die Identifizierung der Vermissten, ein gigantisches Puzzlespiel, das nicht immer gelingt. Als sie die Fälle von Batajnica wieder aufrollen, finden Robinson und seine Kollegen die Überreste von acht verschiedenen Menschen in einem einzigen Leichensack.
Nur wenige Gramm eines Knochens brauchen die Experten, um einen DNA-Abgleich durchzuführen mit einem der Hinterbliebenen, und doch lösen sie mittlerweile kaum mehr 50 Fälle pro Jahr. Von einst 6.000 Namen stehen auch 15 Jahre später immer noch 1.700 auf der offiziellen Liste der Vermissten des Kosovokriegs, geführt vom Internationalen Roten Kreuz, und die Zahl sinkt immer langsamer.

24 Särge stehen in der Sporthalle auf rotem Tuch, doch 25 fehlen, sie fehlen noch immer.

„Es wird leichter sein nach diesem Tag“, sagt Hysni Berisha, „auch für mich. Unsere Seelen werden etwas leichter sein. In 15 Jahren haben wir nie aufgehört, zu suchen, als Familie haben wir an die verschiedensten Türen geklopft. Lange hatten wir keinen Ort, aber jetzt wissen wir, wo wir 24 Blumen hinlegen können.“

Auch die Politik ist gekommen, die Staatspräsidentin, langer grüner Mantel, der Premierminister, im Anzug, grau und maßgeschneidert. Hashim Thaci sitzt in der ersten Reihe, er hat dieser Tage viele Termine, fast jeden Tag eine Trauerfeier irgendwo im Land, 15 Jahre später. 17 Massaker gab es alleine in der Großgemeinde Suhareka, über 500 Namen schrieb Hysni Berisha auf seine Liste.

Hysni Berisha sitzt in der Sporthalle nicht in der ersten Reihe, er steht die gesamte Trauerfeier hindurch, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, da, wo die Stuhlreihe endet. Am Abend wird man ihn trotzdem in den Nachrichten des Fernsehsenders KTV sehen, hinter der Präsidentin, die gerade ein Interview gibt, und keiner wird wissen, wer dieser Mann ist mit dem müden Blick und den tiefen Falten in der Wange.

* * *

Drei Familien rennen weg, nur weg, das Weiße Haus im Rücken, neben dem die Männer liegen, Bujar und Nexhat und Faton, gleich am Hinterausgang liegen sie. Die Berishas rennen, so schnell sie können, Frauen, Kinder, Alte, alle in verschiedene Richtungen. Nexhats Frau Shyhrete und ihre Tochter Herolinda rennen über die Straße, hin zu dem kleinen Einkaufszentrum neben der Busstation, Majlinda rennt nach rechts, die Straße hinunter, den kleinen Redon auf dem Arm, das Kind schreit, 22 Monate alt, aber auf dem Foto in der Sporthalle sieht Redon Berisha noch jünger aus.

Am meisten weinen die Alten. Alte Frauen und alte Männer, weinend gehen sie aus der Halle, in den grauen Tag, die Männer tragen den Plis, die Frauen ein weißes Kopftuch. Die Särge sind zu lang, sie ragen hinten ein Stück über das Podest hinaus. Nur vier der Särge nicht, sie sind weiß lackiert und kaum einen Meter lang. Am meisten weinen die Alten, sie haben Kinder und Enkelkinder.

In der Pizzeria gibt es nicht genügend Stühle. Manche setzen sich auf den Boden. Es sind fast 50 Menschen, keiner ist entkommen, bewaffnete Posten an jeder Ecke. Nach und nach kommen sie alle herein. Die hochschwangere Lirije und Sedats Frau Vjollca mit ihren drei Kindern, Dafina, Drilon und dem achtjährigen Gramoz, und auch ihre Schwägerin Shyhrete mit ihren vier Kindern, den Mädchen Majlinda und Herolinda, Altin und dem kleinen Redon. Als keiner mehr kommt, verriegeln die Polizisten von außen die Türen.

„Mama, sie haben mich verletzt“, sagt Altin, der Elfjährige, zu seiner Mutter, „schau, Mama, sie haben auf mich geschossen, aber sie haben mich nicht ganz erwischt.“

„Ich glaube an Gott“, sagt Hysni Berisha. „Seit 1999 umso mehr. Gott hat alle Rechte, aber getötet hat er mich nicht. Sein Finger war am Abzug, er hätte ihn nur bewegen müssen, aber er hat seine Macht nicht eingesetzt. Gott ist unser Zeuge, und wir Überlebenden sind der Grund, an ihn zu glauben.“

Den Haag, Internationaler Strafgerichtshof, 4. Juli 2002:

ZEUGE: HYSNI BERISHA
KREUZVERHÖR DURCH SLOBODAN MILOSEVIC. Ist es korrekt, hier, wo ihre Angaben stehen, dass Sie ein Anwalt waren?
DER ZEUGE. Ich war kein Anwalt, aber in der Übersetzung vom Albanischen ins Englische ist es so entstanden. Ich war ein Rechtsbeamter in einem Bauunternehmen. Ein Verwaltungsangestellter.
MILOSEVIC. Kann man also folgern, dass Sie keinerlei Ausbildung oder Erfahrung bei Untersuchungen haben, die mit der Ausübung von Verbrechen zu tun haben?
DER ZEUGE. Ich bin dieser Frage nicht beruflich nachgegangen, sondern aus einer humanitären Sicht.

Als sie ihn in den Gerichtssaal bringen, denkt Hysni Berisha an die Wahrheit. Er denkt an all die Menschen, die gestorben sind. Er schaut hinüber zur Anklagebank, und Milosevic begegnet seinem Blick. Milosevic, der Präsident, der sich selbst verteidigt, weil er den Anwälten der Weltgemeinschaft misstraut. Milosevic, der Redner, der intelligente Provokateur. Hysni Berisha denkt an die Opfer, an die Familie seines Onkels, aus der nur sein Neffe Florim geblieben ist. Er denkt an Shpresim, seine Organisation, an seine Suche und die Hoffnung, die er in sich trägt, noch immer. Er spürt, wie sich sein Puls senkt. Wie er ruhig wird. Er denkt nur noch an das, was er sagen will.

„Oh, Shyhrete“, sagt Vjollca, „Shyhrete, was tun die uns nur an?“
„Oh Mami“, sagt Majlinda, „oh Mami, schau nur, Herolinda.“ Und Shyhrete dreht sich um und sieht Herolinda, ihre Tochter, so ein schönes Mädchen, sagt Shyhrete, sie war so ein schönes Mädchen.
„Mama, Mama, kannst du mir bitte Wasser bringen“, fragt der kleine Ismet seine Mutter, „Mama, ich habe solchen Durst.“
„Mozi, lebst du noch?“, fragt Vjollca ihren Sohn Gramoz mit leiser Stimme. „Ja“, flüstert leise Gramoz.
Da fangen sie draußen vor der Pizzeria wieder zu schießen an.

Coffee shop, so wird die Pizzeria genannt in den Dokumenten des Haager Tribunals, die auf Englisch vorliegen, coffee shop, Café.

MILOSEVIC: Sie sagen, dass in diesem Café viele Patronenhülsen lagen, und andere Munition. Bedeutet das, dass jemand aus dem Raum herausgeschossen hat, in dem Sie sich befanden?
DER ZEUGE: Es wurde dort nicht geschossen. Es gab eine Hinrichtung, im Café. Es wurde geschossen, massiv geschossen, im Café.
MILOSEVIC: Nun, das heißt, dass jemand aus dem Café herausgeschossen hat, da sich so viele Hülsen in dem Café selbst befunden haben. Sie reden nicht von Kugeln, Sie reden von Hülsen.
DER ZEUGE: Es war die jugoslawische Polizei. Sie selbst waren der Kommandant. Die ganze Berisha-Familie war dort drin, darunter 18 Kinder und alte Menschen und Frauen. Sie wurden alle dort hineingezwungen, in das Café, und sie wurden hingerichtet mit Schusswaffen. Und dann wurde das Gebäude angezündet, um die Spuren des Verbrechens zu vertuschen. Es gibt Zeugen, die das Massaker überlebt haben und aussagen können, was genau dort passiert ist.

* * *

Die Frau liegt in der Mitte der Straße, auf dem Rücken, und um sie herum ist Blut. „Helfen Sie mir“, sagt Shyhrete Berisha. „Helfen Sie mir, meine ganze Familie ist in dem Laster.“ Malësi e Re, so heißt das Dorf, in dem Shyhrete Berisha von der Ladefläche springt, Malësi e Re liegt zwischen Suhareka und Prizren, vier Kilometer vor Korisha, wo die jugoslawische Armee einen Schießstand hat.

Erst Wochen später erfährt Shyhrete, dass auch Vjollca und der kleine Gramoz hinabgesprungen sind, ein Stück weiter die Straße hinunter, die von Suhareka nach Prizren führt.

Drei Menschen leben.

Der kleine Gramoz sagt lange kein Wort. Ein Fernsehteam will über das berichten, was passiert ist, doch der Junge schweigt. Hysni Berisha spricht mit ihm, er redet auf den Jungen ein, immer wieder, geduldig, erklärt ihm, dass es wichtig ist etwas zu sagen, redet und redet, und der Junge schweigt und schweigt. Du bekommst ein neues Fahrrad, verspricht er ihm schließlich, da fängt Gramoz zu erzählen an. Erzählt, wie ihn die Kugeln trafen, in die Schulter, wie die Körper schwer auf ihn fielen, wie sie ihn hochhoben, an der anderen, der unverletzten Schulter, zum Glück, sagt Gramoz, sonst hätte ich geschrien vor Schmerz und sie hätten es gemerkt. Das alles erzählt nun der Junge, und Vjollca, seine Mutter, sitzt neben ihm und weint, sie weint laut. Bis heute ist sie nicht zurückgekehrt in das Haus mit dem weißen Klinker, sie hat es nie mehr sehen wollen.

* * *

„Ich habe nicht erwartet, dass dieser Tag geteilt sein wird“, sagt Gramoz Berisha in der Sporthalle von Suhareka. „Nach 15 Jahren sind wir erst an der Hälfte unseres Weges angelangt. Das ist unser Schicksal. Aber halbe Gerechtigkeit gibt es nicht. Die Gerechtigkeit ist immer vollständig. Wir sind es nicht, die Angst vor der Zukunft haben müssen, sondern diejenigen, die das Unrecht begangen haben.“

Die Menschen in der Sporthalle klatschen, zum einzigen Mal an diesem Tag.

* * *

Als Hysni Berisha das erste Mal nach Den Haag kommt, Juni 2002, ist Milosevic krank. Zehn Tage lang wartet Hysni Berisha, die meiste Zeit bleibt er in seinem Hotel. Dann schicken sie ihn wieder nach Hause, zurück nach Suhareka, zu seiner Familie, wer weiß, wann es soweit ist. Doch nur drei Tage später wird er erneut in die Niederlande gerufen. Der Angeklagte, so heißt es, sei nun wieder verhandlungsfähig.

MILOSEVIC: Sie sagen auf Seite 3 Ihrer Aussage – Sie erklären, wie die Serben immer morgens angriffen, und Sie sind abends in den Keller gegangen. Haben Sie vielleicht Schutz vor NATO-Bombardierungen in diesem Keller genommen, Mr. Berisha?
DER ZEUGE: Ich weiß, dass Sie versuchen — dass Sie versuchen, die Wahrheit aus dem Weg zu schaffen, aber ich sage, dass jeden Morgen der Beschuss in Richtung der Dörfer begann. Dies war eine Operation gegen die Zivilbevölkerung. Sie selbst wissen, wie Sie sie organisiert haben. Das war nicht — der Grund dafür, dass wir in den Keller gingen, war nicht, weil wir Angst vor der NATO hatten. Die NATO hat Suhareka nie bombardiert. Wir hatten auch nie Angst vor NATO-Angriffen. Das waren unsere Retter.

„Für mich ist es ein Verfahren ohne Bedeutung“, sagt Hysni Berisha. „Er ist gestorben, ohne seine Bestrafung zu bekommen.“

RICHTER MAY: Mr. Berisha, wir haben wenig Zeit. Wir müssen wirklich versuchen, das zu einem Abschluss zu bringen. Wenn Sie sich nur auf die Frage konzentrieren könnten.
DER ZEUGE: Ich wollte Sie nur an die Massaker erinnern, die ich in Suhareka erlebt habe.
RICHTER MAY: Natürlich. Wir haben das im Auge. Wir kennen Ihre Aussagen. Aber die Frage, die Ihnen gestellt wurde, ging um die Häuser, die zerstört wurden. Wie viele Häuser wurden denn zerstört? Können Sie sich erinnern, oder nicht?
DER ZEUGE: Ich erinnere mich, aber das Wichtigste sind doch Leben, die Menschenleben, nicht die Häuser. Ich rede davon, wie viele Opfer gestorben sind.

„Aus der Familie meines Onkels habe ich 16 Menschen verloren“, sagt Hysni Berisha. „Wenn 16 Hühner vom Adler gefressen werden, ist das schlimm. Was aber, wenn er sich 16 Menschen nimmt, 16 Menschen aus deiner Familie?“

* * *

Draußen vor der Turnhalle heben sie die Särge auf Militärlastwagen. Hysni Berisha steht daneben, sieht zu, wie die Särge ankommen, einer nach dem anderen. Drei Soldaten, zwei vorne, einer hinten, nach drei Särgen kommt der nächste LKW. Die Soldaten tragen die Kappen tief im Gesicht. Am Hang stehen die anderen Laster, mit laufenden Motoren. Die Särge sind leicht, in ihnen ist kaum je ein ganzer Mensch.

* * *

Von Suhareka nach Korisha, auf den Schießstand, und von dort nach Norden, nach Serbien, so ging die Reise der Toten. Die Täter holten sie wieder heraus. Als die Invasion absehbar wurde. Als sie merkten, dass die Toten hier, in der Erde des Kosovo, nicht sicher sein würden vor denen, die sie vermissten.

Tekija, Serbien. Der 5. April 1999, 13 Uhr. Als Bosko Radojkovic, Kriminalpolizist von der Spurensicherung, am Donau-Ufer ankommt, sieht er den Kasten eines LKW schräg aus dem Wasser ragen. Mit einem Kran ziehen sie den Wagen aus dem Wasser. Radojkovic liest die Aufschrift: „PIK Progres Export Schlachthaus. Telefonnummer. Telefax. Prizren.“

30 Körper holen Bosko Radojkovic und seine Kollegen in der ersten Nacht aus dem Kühltransporter, bis drei Uhr morgens arbeiten sie, dann sind sie zu erschöpft, um weiterzumachen. In der Nacht darauf noch 56. Männer und Frauen und auch zwei Kinder. Ein Junge, ein Mädchen. Im Rucksack des Mädchens: ein paar Buntstifte, eine Puppe, ein UNICEF-Block, A4. Auf der ersten Seite eine Zeichnung, ein Haus und ein paar Blumen.

Zwei neue Lastwagen. Sie verschwinden in die Nacht, die Donau hinauf, Richtung Belgrad.

Drei Tage lang findet Bosko Radojkovic keinen Schlaf, dann gibt ihm der Arzt eine Beruhigungsspritze.

* * *

Der Geruch von Gras und nasser Erde. Ein kleines Grundstück, vielleicht zwanzig mal zwanzig Meter, direkt an der Straße. 10.000 Euro hat die Gemeinde zur Verfügung gestellt für die Grabstätte der Familie Berisha. Die Pläne sind gemacht, Hysni Berisha zeigt sie stolz, es soll gepflasterte Fußwege geben und Springbrunnen neben den Gräbern, die in fünf Gruppen zu je zehn Gräbern angeordnet sind. 10.000 Euro werden wohl nicht reichen.

Noch gibt es nur die Fundamente, fünf Stück mit je zehn Betonschalen. 24 Platten liegen auf der feuchten Erde. Die Menschen haben ihre Schirme aufgespannt. Zigarettenrauch und gedämpftes Geplauder. Dann drehen sich die Köpfe, es wird still. Die Lastwagen kommen, im Schritttempo fahren sie durch den Regen.

Das Schlimmste am Tod eines Menschen ist vielleicht, dass das Leben für die anderen weitergeht. Das Schlimmste ist die Hoffnung. So lange die Toten nicht gefunden sind, finden auch die Lebenden keine Ruhe. Die Mütter, die Väter, sie wollen nicht aufhören zu glauben, dass ihre Söhne, ihre Töchter und Enkel doch eines Tages in der Tür stehen, wie früher.

„Das Schlimmste“, sagt Hysni Berisha, „das Schlimmste war, dass ich es wusste. Ich hatte die Information, ich trug sie mit mir herum. Aber ich habe nichts gesagt.“ Nur einer Person in jedem Haushalt hat er es mitgeteilt, das, was ihm das Rote Kreuz, was ihm die Forensiker gesagt hatten. Wen sie gefunden hatten. Eine Person pro Familie, die Person, die er für die stärkste hielt. „Ich habe es auf meine Art getan“, sagt Hysni Berisha, „und es war nicht leicht.“

Unter internationalem humanitärem Recht und internationalen Menschenrechtsgesetzen haben Familien das Recht, über das Schicksal ihrer vermissten Verwandten informiert zu werden.
(Internationales Rotes Kreuz)

Der Baggerfahrer lässt den Motor an. Die Männer greifen nach der Kette, die an der Schaufel hängt. Heute gräbt der Bagger nicht, er soll eine Last heben. Zwei Männer machen die Haken an den Griffen der ersten Platte fest. Anweisungen. Handzeichen. Dieselgeruch. Hysni Berisha steht mit den anderen Männern um das offene Grab, auf seinen Schuhen ist Schlamm, der Baggerfahrer versteht die Kommandos nicht. Endlich senkt sich die Platte hinunter, langsam, Stück für Stück. Der Atem steht den Männern in kleinen Wölkchen vor dem Gesicht.

* * *

Nicht nur Milosevic haben sie vor Gericht gestellt, auch die Brüder Petkovic, Miki und Zoki, und Milorad Nisavic, den Boss, auch ein paar andere. Es wurde über ihre Schuld verhandelt, drei Jahre lang, vor dem Bezirksgericht in Belgrad, Kammer für Kriegsverbrechen. 15 Jahre bekam Miki, 20 Jahre der Polizeichef und 13 der Boss. Zoki sprachen die Richter frei. Keiner wollte zugeben, am 26. März am Weißen Haus gewesen zu sein oder vor der Pizzeria. Keiner außer Miki. Ja, ich war da, sagte Miki, aber ich habe nicht geschossen.

„Ich kannte alle, die dort vor Gericht standen“, sagt Hysni Berisha. „Ich kannte sie aus Suhareka. Zoki hat in unserer Nähe gewohnt, direkt neben dem Haus meiner Eltern.“

Hysni Berisha hockt am Rand der Grabstätte, das Kinn in der Hand. Ein Mann sprüht Schaum in die Spalten. Auf den Holztafeln stehen die Namen und darunter zwei Daten. Das zweite Datum ist immer das gleiche: 26.3.99.

Die Eltern liegen zur Straße hin, die Kinder innen. Shyhretes Töchter, Majlinda neben Herolinda, dann ein leeres Grab, dann das ihres Bruders Redon, 23.5.97, und an der Ecke das seines Cousins Ismet, 9.9.96. Auf den leeren Gräbern liegen keine Blumenkränze, der Regen fällt auf den nackten Beton.

Hysni Berishas Blick geht über all die Schirme, wer weiß wohin. Er ist ganz allein unter all den Menschen, auf einer Grabplatte, unter der niemand liegt. Eine halbe Minute vergeht, vielleicht eine ganze. Dann richtet sich Hysni Berisha auf, macht schwankende Schritte und nimmt sich zwei Kränze, in jede Hand einen, Kränze aus Plastikblumen.

Das Leben nach dem Tod. Es muss weiter gehen. Suchen Sie sich ein Hobby, das haben die Psychologen ihm damals gesagt, ein paar Monate nach Kriegsende war das, als die „Ärzte ohne Grenzen“ in Suhareka Station machten. Suchen Sie sich ein Hobby, Mister Berisha, haben sie ihm gesagt, sonst wird das Trauma Sie besiegen. Sonst bringt es Sie um.

„Den Bienen geht es gut“, sagt Hysni Berisha. 32 Stöcke sind es, Tausende Bienen, manchmal geben sie mehr Honig, und manchmal weniger. Kommt darauf an, wie kalt es ist. Diesen Winter hat es viel geschneit, aber jetzt kommt der Sommer.

Wir sind Helden

Fünf Monate haben Grundschulkinder in drei Berliner Kiezchören mit Profi-Musikern geprobt, dann hatten sie ihren großen Auftritt in der Philharmonie. Wir haben sie begleitet. (128 Magazin, Juni 2014)

„Helden“, sagt Marwan, „kenn ich, hatten wir neulich in Englisch. HEROES!“ Marwan spricht das fremde Wort langsam und vorsichtig aus, aber wen er aufgeschrieben hat, weiß er jetzt auch nicht mehr. Ist vielleicht die Aufregung. Man muss das verstehen, es ist Marwans erstes Interview. Es ist der Tag nach seinem zwölften Geburtstag.

Zwölfjährige geben der Presse normalerweise keine Interviews, klar. Es sei denn, sie heißen Macaulay Culkin und haben gerade „Kevin allein zu Haus“ abgedreht. Kennt Marwan natürlich auch, die Kevin-Filme, den ersten findet er am besten, aber er selbst hat noch in keinem Film mitgespielt. Er ist ein ganz normaler Junge aus Moabit, Carl-Bolle-Grundschule, sechste Klasse, Lieblingsfächer Englisch, Mathe, Religion und IE, das steht für Interkulturelle Erziehung.

Warum also sitzt Marwan hier, an einem Cafétisch im Einkaufszentrum MoaBogen, am U-Bahnhof Birkenstraße, vor sich einen riesigen süßen Pfannekuchen, den sie anderswo Berliner nennen, und gleich daneben ein Aufnahmegerät?

Die Antwort hat mit dem Poster zu tun, das seit Dezember in Marwans Zimmer hängt, mit einem Kaugummi, von dem die Zunge blau wird, mit einem Heinzelmännchen und mit einem schwarzen Halstuch. Und mit Judith Kamphues.

„Die ist nicht streng“, sagt Marwan, „die ist nett“. Sie kennen sich, ganz gut mittlerweile, kann man sagen. Seit Oktober, seit den Herbstferien, haben sie sich ja jede Woche gesehen, immer dienstags, immer um halb fünf, Rostocker Straße, Stadtschloss, so heißt dieser Ort, und wie ein König kannst du dich fühlen, wenn du dort warst und anderthalb Stunden gesungen hast, mit heller Stimme, aus voller Kehle.

Aus ganz normalen Berliner Kindern Helden zu machen, das ist der Plan. Vokalhelden, genau genommen, diesen Namen hat die Education-Abteilung der Berliner Philharmoniker für das Projekt ausgesucht. Musikalische Laien für die Musikkultur zu begeistern, das strebt das Programm seit seiner Gründung vor zwölf Jahren an. Menschen zusammenzubringen, das sei doch ohnehin das Beste, was die Musik leisten könne, hat Dirigent Simon Rattle mal gesagt.

Und so kommen sie also zusammen, jede Woche, all die Kinder und Chorleiter und Stimmbildner und Organisatoren und, nicht zu vergessen, die Ehrenamtlichen. Ohne deren Einsatz, zuverlässig, warmherzig, ohne viel Gewese, das hier alles ohnehin nicht funktionieren würde. Geprobt wird in drei sehr verschiedenen Berliner Kiezen, dienstags also in Moabit, im großen Saal im Hochparterre, an dessen Decke rosafarbene Tücher hängen, mittwochs in Schöneberg, direkt an der lauten Pallasstraße, und donnerstags in Hellersdorf, in einem Bungalow, der versteckt an einem Fußgängerweg zwischen Neubauten liegt.

Es ist kurz nach halb fünf an einem Dienstag im Stadtschloss Moabit, und die Helden sind ziemlich laut. „Ich zähle bis drei“, ruft Judith Kamphues, „dann seid ihr alle still. Okay? Und beim zweiten Mal geht ihr alle im Kreis.“ Die Kinder stehen gespannt da. „Und los. Einatmen. Zusammen. Ausatmen. Auseinander. In die Knie wie beim Skifahren. Boxen nach vorne. Aber bitte ohne jemandem wehzutun.“ Alles trippelt durcheinander.

„Was heißt eigentlich Vokal?“, fragt Marwan zwischen zwei großen Stücken Pfannekuchen. Klingt wie Vokabel, findet er. „Heißt das: stark?“ So ist das dann manchmal auch, wenn die Erwachsenen sich gute Sachen für die Kinder ausdenken. Sie kommen in ihre Klassen, holen sie mit Bussen ab, sorgen dafür, dass sie in den Pausen genug Wasser trinken und Bananen essen oder Müsliriegel, aber den Kindern zu erklären, was das komische Wort mit dem V bedeutet, das haben sie glatt vergessen.

Andererseits ist das aber auch Schöne an diesem Alter, zwischen sieben und zwölf: dass man sich noch keine Gedanken über alles machen muss. Dass man Sachen einfach macht. Weil man Lust drauf hat. Warum genau, darüber sollen sich dann doch bitteschön die Erwachsenen einen Kopf machen.

Warum singst du im Chor, Marwan? „Weiß auch nicht.“ Es ist eine Weile still, Marwan zuppelt ein bisschen an dem schwarzen Halstuch, das er immer trägt, es hält auch ein bisschen die Stimme warm, aber es ist eh sein Lieblingstuch. Dann sagt er: „Weil’s Spaß macht.“

Die Kinder in Moabit laufen als Schlingpflanzen durch den Raum und dann als große und kleine Fische, in den großen Spiegeln, die an der Längswand hängen, sieht man sie alle noch ein zweites Mal. Ein Mädchen hat einen grünen Pulli an, auf dem steht „Noise“, und das S ist verdreht. „Schulter kreisen, Unterkiefer lockern“, das Aufwärmen geht lange, eine Viertelstunde oder länger, „das ist wichtig für die Kinder“, sagt Chorleiterin Kamphues. „Die meisten haben von ihren Eltern nach der Geburt eben keine Geige in die Hand gedrückt haben.“

Laut stöhnen sie auf, als das Aufwärmen vorbei ist. „Gibt’s irgendwelche Fragen?“, fragt Judith Kamphues, bevor es weitergeht. – „Jaaaa“, ruft ein Mädchen. – „Was denn?“ – „Nee, doch nicht.“

Liebenswürdige Chaoten, das sind Kinder. „Ein Kessel Buntes“, sagt Judith Kamphues. Sonst arbeitet die 46-jährige gelernte Opernsängerin und Gesangspädagogin meist mit der Elite, zum Beispiel mit den Kindern vom Berliner Staats- und Domchor. Zwei Welten. Dort Kinder, die von kleinauf Proben und Disziplin gewohnt sind, die ständig gefördert und gefordert werden, und hier nun Mädchen und Jungs aus allen Kiezen und Schichten und Familien. Einzige Vorbedingung: Interesse am Singen. „Ich schicke niemanden nach Hause, der sich traut, bei uns mitzumachen“, sagt Judith Kamphues.

Hier, in Moabit, Schöneberg, Hellersdorf, geht es um viel mehr, als dass immer alle sofort den gleichen Ton treffen. Es geht um die Gruppe. Um Toleranz auch, um das Aushalten des anderen, auch wenn der mal einen Fehler macht. Und, klar, um Selbstbewusstsein. „Es geht mir darum, dass die Kinder sich trauen, den Mund aufzumachen, auch woanders, auch in der Schule“, sagt Kamphues. „Dass sie merken: das macht mir Spaß, ich muss mir nicht in die Hosen machen.“

Bist du schon ein Vokalheld oder wirst du einer? Den Posterspruch sieht Marwan jeden Morgen um sieben, gleich nach dem Aufstehen, er hat sich das Poster an die Wand gehängt, das Zimmer teilt er, jüngstes von sieben Geschwistern, sich mit seinem älteren Bruder. Der wird bald schon 14 und seine Stimme ist schon viel tiefer. Dienstags um vier, wenn die Schule aus ist, geht Marwan zusammen mit Mariam, rüber zum Stadtschloss, sind ja nur 500 Meter. Mariam geht auch in seine Klasse. Sonst ist keiner dabei. „Manche sagen, sie kommen mal mit“, sagt Marwan, „aber machen die nicht. Finden die langweilig.“

Neulich, sagt Judith Kamphues, habe sie in ihrem Garten gebuddelt, als ihr plötzlich etwas auffiel. Sie merkte, dass sie an die Kinder dachte, nicht ihre eigenen drei, sondern an die Kinder aus Moabit. „Ich dachte, wie geht’s wohl Mariam, letztes Mal hat sie ja mit der geredet, ob die sich wohl verstehen?“ Die Sorgen einer Mutter, so klingt das. „Ist vielleicht hoch gegriffen, aber ein bisschen wie eine Familie, so wollen wir zusammenwachsen“, sagt sie. „Eine Gruppe schaffen, in der die Kinder wissen, sie sind unter sich, und es ist egal, wie alt sie sind, egal ob Junge oder Mädchen.“

In Moabit teilt Marwan die Notenblätter aus. Marwans Zunge ist heute komplett blau, sein Mund auch. „War ein ganz normaler Kaugummi“, sagt er und grinst ein blaues Grinsen. „Die Heinzelmännchen“, so heißt das Stück, das die drei Kinderchöre aus den drei Berliner Kiezen proben, für ihren großen Auftritt in der Philharmonie. Es ist kein ganz einfaches Chorstück, aber es muss ja auch nicht immer alles piepeinfach sein, auch für Kinder nicht.

Nun fangen sie an zu singen, laut und fröhlich, besonders die letzte Silbe jeder Zeile macht den Kindern Spaß. „Wie war in Köln es doch vordeeeeeem, mit Heinzelmännchen so bequeeeeem.“ Es ist ein langes Lied, aber sie haben es sich ja auch aufgeteilt, drei Stadtteile, drei Chöre, die dann zu einem werden sollen, an einem Samstag Mitte Februar in der Philharmonie. Fünf Proben haben sie. Das ist nicht viel.

„Sie sägten und stachen und hieben und brachen, berappten und kappten“, das Lied ist voller alter, fremder, lustiger Wörter, und die Kinder singen sie und sprechen sie und lachen und dann gibt es eine kurze Pause. Entspannungsübung. Neue Konzentration. Betonung! „Berrrrappten. Und Kkkkappten.“ Die Konsonanten kann man gar nicht klar genug aussprechen. Dann dürfen die Kinder sich setzen.

Jede Probe ist wie eine Welle. Konzentration, Entspannung, Konzentration, Entspannung, immer wieder mal hinsetzen zwischendurch, immer wieder mal lockern, anders geht das hier nicht. Es ist kurz vor halb sechs, die Probe fast schon eine Stunde alt, „gleich ist Pause“, ruft Judith Kamphues, „kommt, einmal noch“. Kinderstöhnen. Aber natürlich stehen alle noch mal auf.

„Eigentlich habe ich gar keinen Held“, sagt Marwan. Er überlegt lange. „Ärzte!“, sagt er nach einer Weile. „Die retten ja Leben.“ Seine Schwester, die wolle Kinderärztin werden, sagt er, Schulsprecherin ist sie schon. Und dann fallen ihm doch noch ein paar ein: „Polizisten. Oder Fluglotsen. Die helfen auch bei einer Notlandung“, sagt er. „Die Feuerwehr!“ Feuerwehrmann, das würde er gerne machen, sagt Marwan, oder Pilot. „Aber eigentlich“, sagt er, „lieber Co-Pilot“. Wobei das mit dem Fliegen so eine Sache ist. Geflogen ist er schon oft, nur vor dem Start hat er immer noch Angst, „ich schlafe dann immer ein“. Vor der Landung hat er sich noch nie gefürchtet. Jeden Sommer fliegt er mit seiner Familie in den Libanon, ans Meer, sechs Wochen, die ganzen Ferien, da gibt es den besten Fisch, und Fisch ist Marwans Lieblingsessen.

„Schniegeln! Striegeln! Schhhhhniegeln! Schhhhhtriegeln!“ Die Kinder zischen um die Wette. Der 15. Februar, der Tag des Auftritts, ein trüber, windiger Tag in Berlin. Foyer des Kammermusiksaals, erster Stock, aus dem großen Außenfenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen, sieht man den Backsteinturm der Matthäuskirche, einen kahlen Baum und einen Baukran. Vor dem Fenster stehen genau 59 Kinder auf drei Stufen. Zum ersten Mal singen sie zusammen, alle drei Chöre, es ist ein Experiment im Experiment. Um halb drei schon ist der Auftritt, direkt vor dem Kinderkonzert, das erste Mal vor Zuschauern. Aufregend. „So“, sagt Judith Kamphues in den Kinderlärm hinein, „Hellersdorf, bitte. Die Bäckermeister, von vorne.“

Und dann kneten sie, die Heinzelmännchen, und fegen und backen und klopfen und hacken, und die Kinder legen sich richtig ins Zeug, genau wie die Heinzelmännchen in dem Lied. Der offene, helle Raum, der besondere Anlass, das wirkt, man spürt das. Was natürlich nicht heißt, dass die Kinder in den kurzen Pausen keine Kinder mehr sind. „Konstantina, komm von deinen Freundinnen weg, ihr macht eh nur Quatsch!“ – „Och, nööö. Letzte Chance?“

Aber dann, direkt bevor der nächste Durchgang losgeht, die Arme der Dirigentin in der Luft, ist es so still, dass nicht mal der Fotograf, der um das Gehäuse seiner Kamera extra einen gepolsterten Schalldämpfer gelegt hat, seinen Finger zu krümmen wagt.

„Das lief super an dem Tag“, sagt Judith Kamphues. „Viel besser, als ich befürchtet hatte. Dass die Kinder sich so gut verstanden haben, toll.“ In den Pausen flitzen sie über den Teppichboden, die weiten Gänge rauf und runter, die Winterstiefel haben noch Klettverschlüsse in diesem Alter, das Leben ist gut, singen, toben und mittags gibt’s Nudeln mit Tomatensoße, „jetzt geht’s zur Raubtierfütterung“, sagt ein Mädchen. „Einmal noch mal Kind sein“, sagt einer der Ehrenamtlichen, „diese Energie, Wahnsinn, und gar keine Regeln, die einem den Atem nehmen.“

Und nach dem Essen liegen dann alle auf dem Boden, sie hören sich noch mal das ganze Stück an, aber nur gesprochen, sie sollen sich ausruhen, aktiv entspannen, wenn man so will, und tatsächlich wird es nach ein, zwei Minuten wieder ganz still, die Kinder liegen lang da, die meisten auf dem Rücken, die Augen schräg nach oben, wo eigentlich ein grauer Himmel ist, und deswegen sieht auch keiner das Männlein mit seinem Zottelbart, das draußen vor der Fensterfront auftaucht, eine Fotokamera um den Hals, ein Mützchen auf dem Kopf, neugierig schaut es herein, was da wohl los ist, ein drolliger Kulturtourist auf Durchreise, und dann trollt er sich schon wieder, die riesige Kamera lustig vor dem grauen Parka baumelnd. Mach’s gut, Heinzelmännchen!

Und dann ist es halb drei, und sie stehen alle da, ordentlich in drei Reihen, dunkle Hosen und Röcke, die T-Shirts sind gelb, rot oder blau, nur Marwan hat ein weißes T-Shirt an und um den Hals natürlich das schwarze Tuch, er steht in der letzten Reihe, fast ganz rechts. Es ist mucksmäuschenstill, eng stehen die Erwachsenen beisammen, nur ein paar Meter entfernt, die Eltern, die Geschwister, die anderen Chorleiter und Stimmbildner und Ehrenamtlichen, es sind ja auch ihre Kinder, die da stehen, und alle sind gespannt.

Und wie sie dann singen – miteinander und ein bisschen auch durcheinander, ein bisschen laut ein paar, ein bisschen leiser dafür ein paar andere – da fällt einem auf, dass hier, auf diesen drei Stufen kein normaler Chor singt, nein, eigentlich singt hier Berlin, und damit ist nicht die Stadt gemeint, viel mehr Berlin steht vielleicht auf diesen drei Stufen als je auf der Bühne des großen Saals an einem Konzertabend. Hier, ja, genau hier, im Foyer des Kammermusiksaals, stehen sie, die Kinder der Stadt, die Zukunft, und singen, so laut und so gut sie können. Hellersdorf singt und Schöneberg und Moabit, Annika und Antonia, Marwan und Mariam, Melissa, Helene und Josefine, Lion, Lilli und Wilhelm und all die anderen, sie sind ganz bunt vor all dem Himmelsgrau und sie singen ein bisschen schräg und wild und wunderbar.

Und die Erwachsenen klatschen sehr laut.

In der Woche nach dem großen Auftritt ist es warm geworden, der Frühling blinzelt einem schon zu. Ein neuer Dienstag, eine neue Probe im Stadtschloss in Moabit. „Ich bin so froh“, sagt Judith Kamphues, „und so stolz auf die Kinder.“ Jetzt sei endlich ein bisschen mehr Zeit. „Jetzt sind die Kinder dran.“ Alle sind noch ein bisschen aufgeregt. Aber es geht weiter.

Aufwärmen. „Alle, die was Grünes anhaben, gehen zusammen in eine Gruppe“, ruft Judith Kamphues in den Kinderlärm. „Was ist denn grün?“, fragt ein Mädchen.

Kosova! Kampion!

Sechs Jahre gibt es das Kosovo, doch die Anerkennung des kleinen Landes verläuft schleppend. Das erste offizielle Länderspiel geriet deswegen zum Volksfest. Auch wenn der Gegner nur Haiti hieß. (11FREUNDE, April 2014)

Eine Haiti-Flagge, ruft Alban, wäre es nicht großartig, wenn wir jetzt eine Haiti-Flagge hätten?

Mit breiten Schritten geht er durch die Innenstadt von Mitrovica, der Regen kommt in feinen Fäden herunter, vor dem alten Kaufhaus trommeln und singen sie schon, und Alban Muja freut sich über seinen Einfall. Haiti, klar, ohne Gegner kannst du kein Fußballspiel machen, und noch gibt es auf der Welt nicht viele, die mit dem Kosovo spielen wollen. Haiti aber will, als Gegner, also eigentlich: Verbündeter, und hat damit das erste offizielle FIFA-Länderspiel des kleinen Balkanlandes ermöglicht, seit sechs Jahren erklärtermaßen unabhängig, aber noch kein Mitglied der internationalen Gemeinschaft, auch nicht im Fußball.

Ein erster Schritt ist das, dank Beschluss des Weltverbands. Da muss man dabei sein.

Willkommen in meiner Heimatstadt, Mann, hat Alban nach dem Aussteigen gesagt, die Arme so weit, als müsste die ganze Welt hineinpassen. Ein glücklicher Kosovare mit Schiebermütze, Vollbart und buntem Halstüchlein. Vorher war er in seinem klapprigen Fiat Punto die 50 Kilometer von der Hauptstadt Pristina nach Mitrovica gefahren, mit kreischenden Scheibenwischern, in der rechten Hand eine qualmende Lucky, in der linken meist das Telefon, alle fünf Minuten rief jemand an, wo treffen wir uns, seid ihr schon unterwegs, auf der Ablage über dem Handschuhfach die Sportzeitung mit den großen Lettern auf dem Titelblatt: Auf geht’s, Kosovo!

Es ist nicht nur ein Fußballspiel, sagt Alban, für uns ist das ein historisches Datum. Für mich sowieso, ich kenne das Stadion, ich habe dort ja selbst gespielt.

Es regnet also, am Morgen des historischen Tages, aber das Wetter muss ja nicht immer ein Zeichen sein für irgendwas. Braune Bäche laufen quer über die abschüssigen Straßen, die Scheiben beschlagen von innen. Der Uni hat Alban heute abgesagt, nicht zum ersten Mal fällt sein Seminar aus, aber zum ersten Mal, wenn er im Land ist und nicht in Berlin, New York oder Ljubljana, er ist viel gereist in den letzten Jahren.

Alban Muja, geboren am 10. September 1980 in Kosovska Mitrovica, ist einer der bekanntesten jungen Künstler seines jungen Landes, im Mai vergangenen Jahres hat ihm die Nationalgalerie in Pristina eine Einzelausstellung gewidmet, sein Name stand auf Plakaten in der ganzen Stadt. Nicht dass ihn nicht auch vorher schon jeder gekannt hätte. Geht er durch die Straßen der Hauptstadt, vergehen kaum je fünf Minuten, bevor er kurz anhalten muss, hallo, wie geht’s, si jeni? A jeni mirë?

Alban Mujas Kunst erzählt viel vom Kosovo: Er hat die neun Jungen fotografiert, die alle den gleichen Vornamen tragen, Tonibler, benannt nach Großbritanniens ehemaligem Premier, albanische Version, Tony Blair wird hier als Retter verehrt, genau wie Bill Clinton, dem sie gleich ein Denkmal gebaut haben in Pristina. Alban hat die junge Frau interviewt, deren Vater sie Palestina genannt hat. Und eines seiner Werke zeigt auch die Ibar-Brücke seiner Heimatstadt, über die niemand mehr gehen will. »Museum of Contemporary History«, so hat Alban das Bild genannt. »Sie verbindet nicht«, sagt er, »sie trennt.«

Die Brücke mit dem aufgeschütteten Erdwall mitten auf der Fahrbahn ist das Symbol geworden für Mitrovica, den Spielort, geteilt zwischen Albanern im Süden und Serben im Norden, und für den langen Weg, den das Kosovo noch vor sich hat. Serbien erkennt die Unabhängigkeit seiner alten Provinz nicht an, Serbien hat Russland im Rücken, und Russland ist UN-Veto-Macht. FIFA-Mitglied werden kann aber nur, wer Mitglied in einer Konföderation ist. Und UEFA-Mitglied werden kann nur, wer UNO-Mitglied ist. So sind die Statuten.

Deswegen wehen auch nur drei Flaggen an den vier Masten des alten Trepca-Stadions, die rote von Haiti, die blaue der FIFA und das gelbe Fair-Play-Banner. Der linke Mast aber bleibt kahl, die blaue Fahne mit dem gelben Umriss des Kosovo nicht aufzuhängen, das war der Kompromiss. »Aber ich habe eine«, ruft Alban und schwenkt sein kleines Papierfähnchen, das sie an alle verteilt haben, die eins wollten. Und dann geht das Feuerwerk los, blau und gelb schießt das Pulver hinter der Tribüne hervor, untermalt von lauten Krachern, und die Leute zücken ihre Handys. Kaum ist der letzte Kanonenschlag verhallt, kommen die beiden Mannschaften auf den matschigen Platz gelaufen, die elf Kosovaren ganz in Weiß, das sieht schön aus im Grau des Tages.

»Es fühlt sich so an«, sagt Enis Alushi, »als würden nicht wir elf Fußball spielen, sondern die ganze Nation.« Der Tag vor dem Spiel: Alushi, 28 Jahre alter Mittelfeldspieler des 1. FC Kaiserslautern, sitzt am Kopfende eines Betts im Hotel Emerald, wo das Team Kosovo untergebracht ist, 15 Kilometer außerhalb von Pristina, direkt an der Ausfallstraße, hinter einer Tankstelle. »Wir machen das auf dem Zimmer«, hat er gesagt. »Eigentlich sollen wir zwischen den Einheiten keine Interviews geben.«

Das Treffen hat also ein bisschen was Konspiratives, Alushi zuppelt noch schnell die Tagesdecke über das Bett, über dem Fußhocker liegen zwei Stutzen zum Trocknen. Es ist eigentlich das Zimmer von Albert Bunjaku, ebenfalls 1.  FCK. Der kommt nach ein paar Minuten hereingeschlendert, Kaffeetasse in der Hand, auch er in weißer Trainingsjacke. »Kosova« steht auf dem Rücken.

Eine knappe Stunde, inklusive Fotos, dann ist Mittagessen. Nicht viel Zeit. Ohnehin nicht ganz leicht, mit professionellen Fußballspielern über ernste Dinge zu reden, sie lernen auf diesem Niveau schon in der Jugend zu reden, ohne etwas zu sagen. Aber um Politik muss es nun mal gehen, heißt doch schon das Stadion nach Adem Jashari, dem ehemaligen UCK-Kommandeur, hier verehrt als Kriegsheld, als Märtyrer. Das Stadion liegt am Ufer des Ibar und seine Sitze sind grün.

»Politik spielt für uns Sportler keine Rolle«, sagt Enis Alushi gleich zu Beginn. »Aber wir wissen, dass es viel Politik gab in den letzten Jahren, damit wir überhaupt auf dem Platz stehen dürfen.«

Auch für Alushi ist es eine Heimkehr, wie Alban Muja ist er in Mitrovica geboren, am 22. Dezember 1985. Hier steht das Haus, in dem er aufwuchs, bis zu dem Tag knapp acht Jahre später, als die Eltern über Nacht die Koffer packten und aufbrachen in das große Land, das Hoffnung versprach, auf nach Deutschland, »hier werden wir doch nicht mehr glücklich«.

Das Haus, in dem Enis Alushi aufwuchs, gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht für ihn, es liegt auf der serbischen Seite. »Bis heute dürfen wir die alte Wohnung nicht betreten«, sagt er. Die Serben im Norden erkennen die Regierung in Pristina nicht an, sie wollen autonom sein oder, besser noch, zu Serbien gehören, vor der Ibar-Brücke stehen auch am Spieltag ein paar Panzerfahrzeuge, »Carabinieri« steht auf den Seiten. »Ich erinnere mich an meine Schulfreunde«, sagt Enis Alushi. »Ab dem Tag habe ich sie nie wiedergesehen. Es war eine gemischte Schule, ich hatte auch mit Serben zu tun, natürlich, als Kind ist man ja kein Politiker.«

Die sind natürlich heute da, die Politiker, das haben sie sich nicht nehmen lassen, die Präsidentin und der Premierminister, selbst zum Abschlusstraining ist Hashim Thaci ja bereits gekommen, das auf einem fleckigen Platz direkt neben dem Braunkohlekraftwerk stattfand, das ganz Kosovo versorgt und dessen Produktivität man dort auch auf den Lippen schmecken kann. »Ihr seid unser Stolz«, hat Thaci zu den Spielern gesagt. »Ihr seid unsere Zukunft, willkommen zu Hause.« – »Ist das erbärmlich«, hat einer der lokalen Fotografen gesagt. »Naja, bald sind Wahlen.«

Die Realität ist hier oft noch dunkler als der Qualm des Kraftwerks, das Land lebt von der internationalen Gemeinschaft, von den Geldsendungen der Exil-Kosovaren, eine halbe Million leben alleine in Deutschland und der Schweiz, und von den EU-Fördergeldern, rund 70 Millionen Euro jährlich. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht Kosovo derweil auf Platz 111 von 175, zusammen mit Äthiopien und Tansania. Schlimmer ist da nur, überhaupt nicht aufzutauchen in einem Ranking, denn während Haiti als stolzer 79. der FIFA-Rangliste anreist, sucht man die Kosovaren dort noch vergeblich.

»Ich musste überhaupt nicht überlegen«, hat Enis Alushi gesagt. »Ich wusste schon, wenn die Anfrage kommt, würde ich ja sagen.« Und nun läuft er da unten über den tiefen Rasen, die Stutzen schon voller Matsch, eben hat er nach einem schier aussichtslosen Ball gegrätscht, kurz vor der Auslinie, und ihn noch bekommen, und jetzt macht Enis Alushi, die Nummer fünf des Kosovo, linkes Mittelfeld, eins, zwei, drei, vier Übersteiger und die 17.000 Kosovaren werden wieder laut, die ersten Minuten des Spiels haben sie noch ziemlich still im Regen gestanden, es ist ja für alle das erste Mal.

»Kosova! Kosova!«, rufen sie nun, und hinter der gegenüberliegenden Fankurve sieht man die Hügel von Nord-Mitrovica, an den Hängen stehen Häuser aus rotem Backstein, und rechts ist das Wahrzeichen der Stadt zu sehen, die riesige Steinlore aus Beton, denn hier, in den Minen von Trepca, lagern Blei, Zink, Silber, Gold, Nickel, Bodenschätze, die Jugoslawien einst reich gemacht haben, damals, als noch mit voller Kapazität gearbeitet wurde, die Minen liegen genau an der Grenze zwischen dem Norden und dem Süden.

»Vielleicht ist es ein kleines Zeichen an andere Nationen«, hat Enis Alushi gesagt, kurz vor dem Mittagessen, »an die, die uns immer noch nicht akzeptieren wollen. Dass wir nicht aufgeben, dass wir unsere Akzeptanz haben wollen und gerade an diesem Ort unser Debüt feiern.«

»Mitrovica war multi-ethnisch«, sagt Alban. »12 bis 15 Prozent waren Nicht-Albaner. Eine Teilung in Nord und Süd gab es nicht, das Wort existierte nicht mal in unserem Vokabular.«

Auf einer Ibar-Brücke, über die er damals täglich ging, fand er statt, der Moment, an dem Alban merkte, dass etwas in eine völlig falsche Richtung läuft. Auf dem Heimweg, nachts, hielten ihn drei Polizisten an. »Woher kommst du so spät«, fragten sie, und Alban Muja entschuldigte sich, sein Serbisch sei nicht so gut. Da schlug ihm der Polizist mit der flachen Hand ins Gesicht. »Sieh zu, dass dein Serbisch besser wird bis zum nächsten Mal«, sagten sie, dann ließen sie ihn laufen.

Die Worte sind alle noch da. »Künstler, male ein Porträt von mir!«, sagte der Befehlshaber zu Albans Vater. »Oder … du weißt schon. Befehl ist Befehl.« Und der Vater, im Klassenzimmer der Schule, die nun ein Internierungslager war, malte das Bild, Kreide auf Schultafel, ein schönes Porträt, und er wurde nicht zu den vier Männern gestellt, die verschwanden für immer. »Ich habe meinen Vater gar nicht wiedererkannt«, sagt Alban, »20 Kilogramm hatte er verloren in der Zeit in der Schule. Ich habe so viel gelernt in diesen Monaten, den ersten sechs Monaten des Jahres 1999. Ich habe gelernt, wie stark ein Mann sein kann, stärker als ein Stein.«

»18 Jahre war ich, aber sie hielten mich für 16«, sagt er. »Meine Eltern hatten mir noch die Haare kurz geschnitten, am Tag vorher, damit ich jünger aussah. Alle Männer sortierten sie aus, von 18 bis 55 Jahren, aber nicht mich, nicht mich.«
»Duam fitoru!«, ruft Alban jetzt zusammen mit den anderen 17 000, die Zigarette im Mundwinkel. »Duam fitoru!« Wir wollen einen Sieg! Er steht halb in einer Pfütze, das Leder seiner Halbschuhe saugt sich voll, aber das Team des Kosovo reißt die Leute jetzt mit, es wird immer stärker gegen Ende der ersten Halbzeit. Die Haitianer, deren rote Trikots ihnen kalt um die Körper schlackern, kommen kaum noch aus der eigenen Hälfte. Aber auch die beste Chance, ein schneller Gegenstoß, eingeleitet von Alushi, hereingegeben von Bunjaku, führt nicht zu einem Tor, das Bein eines Abwehrspielers ist irgendwie noch dazwischen. »Huuuuuuu!«, machen die Zuschauer.

Halbzeit. Die Polizisten auf der Tartanbahn, Gesicht zur Kurve, stehen schweigend da, manche lächeln. In der Reihe vor Alban hat ein Vater den Arm um seinen Sohn gelegt, er ist vielleicht zehn, elf Jahre alt. Vater und Sohn haben beide blaue Kosovo-Kappen auf, die wurden in der Innenstadt verkauft und vor dem Stadion. Der Vater lässt ein Foto machen. Vorne auf beiden Kappen sind sechs Sterne und der gelbe Umriss des Landes. »Geschichte wird nur einmal geschrieben!«, ruft einer von hinten, als die elf Weißen wieder rauskommen. »Ja«, sagt Alban und dreht sich zu ihm um, »aber Geografie ein paar Mal.« Dann freut er sich und zündet sich noch eine Zigarette an.

Dabei ist das Spiel nicht mal hier, im Kosovo selbst, unumstritten. Es gebe nur eine Kombëtare, sagen manche, nur eine Nationalmannschaft, und das sei die albanische. Einige Fans sind lieber nach Tirana gefahren, wo Albanien am Abend gegen Malta spielt. »Albanien ist auch immer mein Team gewesen«, sagt Alban, »aber Kosovo als Mannschaft zu haben ist noch bewegender.«

Für Albanien wird Alban Meha später ein Traumtor schießen, auch er ist in Mitrovica geboren, auch er spielt in Deutschland, beim SC Paderborn. Nein, keiner der albanischen Nationalspieler ist gekommen zu diesem historischen Spiel, auch Xherdan Shaqiri und die anderen Kosovaren aus der Schweizer Nati nicht. Die WM steht bald an, ihre Karrieren sind immer schon fernab der Heimat verlaufen. Und eine kosovarische Flagge im Wembley-Stadion zu schwenken, ist nun mal deutlich einfacher, als ein ganzes Leben aufzugeben für eine Mannschaft, deren Zukunft in den gelben Sternen steht. Absolut verständlich, sagen die einen. Dann sollen sie nicht so tun, die anderen.

Den Leuten im Stadiumi Olimpik Adem Jashari ist es in diesem Moment egal, der Regen hat aufgehört, die Mannschaft des Kosovo gibt eine gute Figur ab, sie kämpft um jeden Ball, kaum eine Rückennummer ist noch zu sehen von all dem Matsch, nur ein Tor will irgendwie nicht fallen. Aber hat nicht Haiti letztes Jahr auch unentschieden gegen das große Italien gespielt? La Ola rollt über die alten Steintribünen. »Kosova! Kampion!«

»Vielleicht«, hat Enis Alushi in seinem Hotelzimmer gesagt, »werden Shaqiri und die anderen, wenn sie sich das Spiel anschauen, ein bisschen neidisch auf uns sein.«

Er hat ein Haus gebaut, für seine Familie, auf dem Grundstück, das ihm seine Großmutter überlassen hat. Es liegt auf der anderen Seite der Brücke, in einer der wenigen ethnisch durchmischten Nachbarschaften. »Das Haus ist bezugsfertig«, sagt Enis Alushi. »Jetzt habe ich hier wieder ein Heim, und ich benutze die Brücke noch.«

Man kann sein Glück nicht immer erzwingen, man braucht Geduld, als kleines Land und als Fußballteam. Und so ist vielleicht dieses torlose Unentschieden, das sich die kosovarische Nationalmannschaft am Ende in ihrem ersten offiziellen Spiel erkämpft und, ja, auch erspielt hat, dann doch das korrekte Ergebnis. Sie haben ihren Willen gezeigt, sie haben die Leute begeistert, ein bisschen zumindest, aber die Zukunft braucht Zeit. Sie müssen sich gedulden.

Alban Muja geht in der drängenden Menge voran, seinen zusammengefalteten Regenschirm über dem Kopf schwenkend wie ein Touristen-Guide, »European Union« steht auf dem Schirm, aber das sieht man jetzt nicht mehr. »Wäre besser gewesen, wenn es nicht geregnet hätte«, sagt er, »aber was soll’s. Schnell nach Hause, dann schaffen wir noch die zweite Halbzeit von Albanien.«