Warum kämpft einer immer weiter, obwohl er einfach nicht gewinnen kann?
Am Tag seines 33. Profikampfes steht Andy Thiele um 4.30 Uhr morgens auf, macht ein paar Liegestütze zum Wachwerden und geht zu Lidl zur Arbeit. Nach einer Acht-Stunden-Schicht fährt er mit dem Regional-Express nach Bernau, einer Kleinstadt nordöstlich von Berlin. Er wird dort an diesem Abend gegen einen Gegner kämpfen, von dem er weiß: Er ist 33 Jahre alt und Palästinenser. Er war angeblich vier Jahre im Gefängnis. Der Gegner kann nicht boxen und wird den Kampf in der zweiten Runde durch Niederschlag gewinnen.
Andy Thiele lässt sich fürs Verlieren bezahlen. Von seinen 32 Kämpfen als Profi gewann er einen. Meist durfte er nicht gewinnen, manchmal wollte er, aber konnte nicht, ein paar Mal fühlte er sich betrogen. Die Manager seiner Gegner kaufen sich die Siege, weil sie das Selbstbewusstsein ihrer Boxer steigern wollen oder um deren Kampfbilanz zu verbessern. Eine perfekte Bilanz ist wichtig, wenn ein Manager einen neuen Boxer aufbauen und vermarkten will.
Die Kampfbilanz von Thiele lautet 1-29-2: 1 Sieg, 2 Unentschieden, 29 Niederlagen.
Warum will ein Mensch ein Boxer werden?
Muhammad Ali wurde ein Boxer, weil er den Jungen verprügeln wollte, der sein Fahrrad gestohlen hatte. Mike Tyson wurde Boxer, weil er der kleine lispelnde Brillenträger war und die älteren Kinder in Brooklyn ihn auslachten. Diesen Männern fehlte etwas im Leben, das spürten sie, und sie wollten wissen, was es ist.
Du fängst mit dem Boxen an, weil du stark sein willst. Du wirst ein Boxer, weil du harte Muskeln willst und die bewundernden Blicke der anderen, denn die verächtlichen kennst du schon. Ein Boxer will sich über seinen Gegner erheben, für den Moment nur, aber der kann lange andauern, wenn der andere am Boden liegt und du über ihm stehst.
Warum wird einer Boxer?
„Ich kriege immer Applaus“, sagt Andy Thiele. „Ich habe fast alles, was man mitbringen muss: Nehmerqualitäten, gute Ausstrahlung.“ Warum gewinne ich nicht?, hat er einmal einen Matchmaker gefragt, so nennt man den Mann, der die Kämpfe organisiert. Andy, sagte der Matchmaker, kein Problem, leg das Geld auf den Tisch, verzichte auf deine Gage, dann gewinnst du.
Andy Thiele boxt in einem anderen Teil der Welt als die Brüder Klitschko, er kämpft nicht in Arenen oder im Spätprogramm von RTL. Wenn Thiele boxt, ist der Glamour weit weg. Sein Ring steht in Stadthallen und Autohäusern. Ruhm gibt es hier nicht, dafür unsaubere Schläge und, wenn du Glück hast, ein johlendes Publikum. Niemand fragt Thiele nach einem Autogramm.
Warum ist Thiele ein Boxer?
„Das Geld, klar“, sagt er, 100 Euro pro angesetzte Runde, das ist meist sein Preis, macht 400, manchmal 1200 Euro für einen Abend. „Und es ist immer ein Training. Ein Kampf ist immer ein Training.“
Thiele kämpft in Bernau an einem Samstagabend. Dort, in einer Mehrzweckhalle, werden die Zuschauer seine 30. Niederlage sehen. Er zieht die Schultern hoch, als er davon erzählt. Es wirkt wie eine Geste, die ihn das Boxen über die Jahre gelehrt hat.
Andy Thiele trägt eine schmale Brille, wenn er nicht im Ring steht, seine Haare sind nach oben gegelt. Sein Lächeln gibt eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen frei. Thiele lächelt oft. Die Augenhöhlen sind ein bisschen geschwollen, sonst erinnert nichts an das Gesicht eines Boxers.
Der erste schwere Knockout erwischte ihn in seinem dritten Kampf. Ein dummer K.o., sagt er heute, Lucky Punch. „Er trifft mich auf die Schläfe, ich kippe nach vorne und versuche noch, es aussehen zu lassen, als ob ich gestolpert bin.“ Der Ringarzt war gleich da. Komm, wir stehen auf, sagte der Arzt. Nee, lass mal liegenbleiben, sagte Thiele.
„Theoretisch habe ich immer eine Chance“, sagt Andy Thiele. „Was will er machen, wenn ich ihn umhaue?“ Er hat noch nie einen umgehauen.
Einmal übertrug der Fernsehsender Eurosport einen seiner Kämpfe. „Schon bewundernswert, wie Andy Thiele da immer noch mitmischt“, sagte der Kommentator. „Er hat Schwierigkeiten, nasse Papiertüten durchzuschlagen, aber: Er steht.“
Mensch Andy, sagten die Freunde, raste doch mal richtig aus! „Mein Problem ist mein Kopf“, sagt Thiele. „Ich denke zu viel nach. Ich will dem Gegner nicht weh tun.“
Thiele ist meist alleine unterwegs, beim Training, beim Kampf. In seiner Ecke steht dann ein Betreuer des gegnerischen Teams. Manchmal scheint es so, als wäre er auch der einzige, der an den Boxer in sich glaubt. Thieles Freundin sagt über einen Abend, an dem sie ihn kämpfen sah: „Als ob man in ein Flugzeug steigt und hoffen muss, dass man nicht abstürzt. Irgendwann ist er dann runtergegangen.“ Es mache keinen Sinn mehr, seit Jahren schon nicht, sagt sie, „aber damit muss er sich erst abfinden.“
Der Matchmaker, ein kleiner Deutsch-Türke mit Schnurrbart, holt Thiele in Bernau am Bahnhof ab. Der Gegner und sein Betreuer warten im Auto. Sein Gegner ist ein hagerer Typ mit rasiertem Kopf und Buckel, er hat die Augen eines ängstlichen Raubvogels. Er schaut sich ständig um wie einer, der nicht mal der eigenen Mutter vertraut. Thiele hat vor fünf Wochen gegen ihn Sparring gemacht und nach ein paar Runden den Mundschutz rausgenommen und weitergeboxt, um dem Gegner zu erklären, wie der es besser machen könnte.
Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums stehen sich Thiele und sein Gegner an diesem Abend zum ersten Mal wieder gegenüber. Es geht um das Drehbuch. „Ich tue dir nicht weh“, sagt Thieles Gegner, „ich schlag nur auf den Körper.“
„Du kannst mir gar nicht weh tun“, sagt Thiele.
Ein paar Minuten später hat Thiele drei Hundert-Euro-Scheine in der Hosentasche. „Das macht echt den Sport kaputt“, sagt er leise. „Aber ich mach ja mit.“
Ein genaues Drehbuch abzusprechen, zweite Runde, Körpertreffer, das hat es selbst in Thieles Laufbahn selten gegeben. Thiele sagt: „Wer mich nicht klar und deutlich schlägt, der hat im Profiboxen nichts verloren.“ In manchen Momenten wirkt er so, als würde er sich selbst nicht verstehen.
Die Mehrzweckhalle in Bernau liegt in einem Neubaugebiet, gegenüber ist das Jobcenter. Thiele trägt eine Sporttasche über seiner Schulter und eine Lidl-Tüte in der Hand. Er hat sich auf der Arbeit ein Oktoberfest-Outfit gekauft, für seine Geburtstagsparty. Thiele wird in ein paar Wochen 30.
„Ah, die Tschechen-Connection ist auch schon da“, sagt Thiele und deutet auf einen silbernen Minivan mit Dachlader: „Czech Boxing Team“, steht auf der Tür. Die Tschechen, sagt Thiele, kommen, das Auto voll, über die Grenze, legen sich für ein paar Hundert Euro im Ring hin und fahren dann wieder zurück. „Das hat mit Boxen nicht zu tun“, sagt Thiele. „Die stehen nur in Angsthaltung da. Da siehst du nicht eine Kombination. Bei mir sieht man wenigstens, dass ich eigentlich boxen kann.“
In der Nacht hat Andy Thiele vom Kampf geträumt. Er hat den Araber umgehauen, entgegen der Absprache, und dann hat er ihm die Geldscheine auf den Bauch geschmissen. „Das müsste ich echt bringen.“ Thiele lacht. „Aber wer weiß, was die dann abziehen.“
Auf dem Weg zur Halle ruft Verena an. „Nein, Schatz, wirklich… Du brauchst für den Käse nicht extra kommen… Halb neun bin ich spätestens im Ring, und zwei Minuten später bin ich wieder raus… Ach, nein. Das ist doch ein Drehbuch… Alles gut. Der Typ hat mehr Schiss als ich. Wirklich.“
Dass ihr Freund sich verkaufe, das gefalle ihr nicht, sagte Verena vor dem Kampf, als Thiele nicht dabei war. „Warum soll er weiter seine Gesundheit aufs Spiel setzen? Wie bei diesem bösen Kampf damals.“
Am 17. Juni 2010 strahlte die Sonne über Kiel. Eine Open-Air-Veranstaltung. Andy Thiele boxte im Hauptkampf gegen Hamid Rahimi. Zwölf Runden, ein Intercontinental-Titel im Mittelgewicht des kleinen Verbandes „Global Boxing Council“.
Es gibt ein Video bei YouTube, es heißt „Hamid Rahimi Titelkampf“. Man erfährt in dem Video nichts davon, dass Thiele bis eine Woche vor dem Kampf einen Gips um die Hand trug, dass er kaum trainiert hatte. Was man sieht: wie Rahimi in der ersten Runde mit Innenhänden auf Thiele einschlägt, mit unsauberen Kopfhaken, auch dann noch, als der sich wegdreht. Thiele bleibt irgendwie stehen, erholt sich wieder, Rahimi wird müde, es geht bis in die elfte Runde. Elf Runden Boxen ohne Vorbereitung. „Da hatte ich echt Glück“, sagt Andy Thiele.
Das Ende des Videos guckt er sich nie an. Rahimi drischt auf ihn ein, Thiele bricht zusammen, sein Betreuer führt ihn zum Hocker in der Ringecke wie einen Besoffenen. Die Zuschauer johlen. Rahimi lässt sich feiern. Dann schaut er rüber zu Thiele und ruft: „Hey, hey, hol mal einer den Rettungswagen!“
Ein Riss im Schädel, eine Einblutung ins Gehirn, das ist die Diagnose. Die Ärzte verlegen Thiele auf die Intensivstation. Nach drei Tagen entlässt er sich selbst.
Wochenlang schluckt er zu jeder Mahlzeit Schmerzmittel, drei Mal täglich 800 Milligramm Ibuprofen, und hat trotzdem noch Kopfschmerzen. Fünf Monate später steht Thiele wieder im Ring, Autohaus König, Berlin-Tempelhof, technischer K. o. in der 3. Runde. „Ich hatte das Geld damals nötig“, sagt er.
Bernau, eine halbe Stunde vor dem Kampf. Thiele packt in der Kabine seine Handschuhe aus. Hose und Schuhe hat er nicht dabei. „Nicht gefunden“, sagt er. Als hätte er das Boxen teilweise schon hinter sich gelassen.
Der Matchmaker leiht ihm ein schwarzes Paar Schuhe, Größe 42, eine Nummer zu klein. Thiele zeigt den anderen seine Handschuhe. „Aus Lugano“, sagt er. Bei einem Titelkampf dürfen auch die Verlierer die Ausrüstung behalten. „Lugano, supertoll da“, sagt Thiele, „die Natur, der See, die ganzen Ferraris.“ Das war sein erster Zwölf-Runden-Kampf damals, eine knappe Punktniederlage. „Hat den Kampf nicht widergespiegelt, das Ergebnis“, sagt Thiele. „Ein guter Kampf. Ich war gekaufter Gastgegner.“
Die Leone-Handschuhe sind weiß, schlank und gut verarbeitet, die italienische Flagge ist aufs Handgelenk genäht. Einer der anderen Boxer, ein junger Türke, streift sich den rechten über und schlägt sich damit in die flache Hand. „Die sitzen richtig bombe, Alter!“ – „Gegen wen boxt du?“, fragt Thiele ihn. – „Tschechen.“ – „Hau ihn nicht gleich um. Probier was aus.“ – „Krass, wie gut die sitzen, die Dinger. Leihst du mir die?“ – „Wann bist du dran? Siebter Kampf? Da bin ich schon weg.“ Thiele dreht den Kopf zur Decke. „Tscheche, Tscheche“, sagt er. „Ich will auch mal gegen einen Tschechen boxen. Aber die wollen alle nicht.“
„Kein Problem“, sagt der Betreuer seines Gegners und reibt Daumen an Zeigefinger. „Gar kein Problem. Hängt nur vom Geld ab.“
Kann man auf einen gekauften Sieg stolz sein? Und wichtiger noch: Kann man stolz sein, wenn man weiß, dass man verliert? Und wie man verliert? Es ist diese Frage, die sich Andy Thiele an diesem Wochenende immer wieder stellt, manchmal auch laut. Der Gedanke arbeitet in ihm.
Zwei Stunden vor seinem Kampf sitzt er beim Griechen, Restaurant Athos, ein paar Schritte von der Halle entfernt, vor sich auf dem Tisch steht ein Kräutertee. Thiele erzählt von den Anfängen, von vielen Schulhof-Prügeleien, der frühen Scheidung der Eltern. „Mein Vater hat geboxt“, sagt Thiele. Der Vater verließ die Familie, als Andy klein war. Die Mutter verbot ihrem Sohn das Boxen.
Thiele erlebte viel Gewalt als Kind. Er will nicht, dass geschrieben steht, wer ihn schlug. Einmal musste er ins Krankenhaus zur Behandlung.
Er kam auf ein Berufsschul-Internat in Schönebeck bei Magdeburg. Er war ein schmaler Junge mit wenig Selbstbewusstsein. Ein Opfer. Er sah den Aushang vom Boxverein. So oder so ähnlich beginnen die Geschichten vieler großen Boxer, und eben auch die Geschichten der Verlierer.
„Ich mag das Gefühl beim Boxen, die Halle klatscht, das sind Leute, die dich gar nicht kennen“, sagt Andy Thiele. „Das ganze Feeling. Das Taktieren im Ring. Das ist unbeschreiblich. Ich will auch was zeigen.“ Thiele versteht etwas vom Boxen, er kann lange über verschiedene Ring-Strategien reden, er steht nachts auf, weil er sich Kämpfe aus den USA anschauen will. Als er in Bernau beim Griechen sitzt und erzählt, mit strahlenden Augen, wird klar, er liebt das Boxen. Und eine Frage wird immer größer: Warum betrügt er diesen Sport?
Thiele erinnert sich an das Gefühl des Sieges. 31. Mai 2008, Halle, Sachsen-Anhalt, so steht es in der Statistik, ein grünes W dahinter, „Win“. Punktsieg, vier Runden. Ein ehrlicher Erfolg, sagt Thiele. Es fühlte sich gut an. Würde er gerne mal sehen, den Kampf, aber es hat damals keiner mitgefilmt.
Thiele redet und redet. Er spricht von einem Fußballspiel, bei dem er mitspielte. 0:7 stand es gegen Borussia Genthin, Thieles Mitspieler ließen die Köpfe hängen. Nur Thiele lief immer weiter, verzweifelt, wütend. Am Ende schoss er das 1:7.
Es sind nur noch ein paar Minuten, bis es losgeht in Bernau. In der engen Kabine reibt sich einer die Arme mit scharfem Balsam ein. Thieles Gegner, Rundrücken, Angstaugen, läuft zwischen den Bänken auf und ab, anderthalb Schritte hin, anderthalb zurück. Thiele wirkt ruhig, wie ein Mann, der einen Entschluss gefasst hat und weiß, dass es der richtige ist.
Er bekommt eine SMS von Verena: „Kannst du mir bitte schreiben, wenn es vorbei ist?“
Der Ansager trägt Smoking und Lesebrille. „Making his way to the Red Corner!“, ruft er ins Mikrofon. „Welcome, Andy Thiele!“ Er trägt ein graues Tanktop über der geliehenen Hose und läuft quer durch die Halle zum Ring. Vom Band singt Donna Lewis „I love you, always forever“. Ein paar Sponsoren-Plakate hängen an der Wand: Toom Baumarkt, McDonald’s, Zweirad-Spezialist, Zahnklinik Bernau, Boxen stoppt Gewalt. Dann marschiert Thieles Gegner ein, zu schweren Riffs und Bässen. Die Halle ist fast leer, keine 100 Leute sind da, kaum jemand klatscht.
Gong. Die beiden Boxer bewegen sich umeinander. Der Gegner versucht eine Links-Rechts-Kombination zum Kopf, aber seine Beine machen nicht mit. Dann landet ein sanfter linker Haken auf Thieles Körper. Thiele kniet sich hin und verzieht das Gesicht. Der Ringrichter zählt ihn an.
Thiele geht noch vier weitere Male zu Boden, ohne einmal hart getroffen worden zu sein. Nach 1:17 Minute in der zweiten Runde ist Schluss. Der Ringrichter hebt den Arm seines Gegners. Der schaut nach links und rechts, aus den Augenwinkeln, wie einer, der gerade aus dem Supermarkt kommt, die Arme voll geklauter Waren.
„Sah gut aus“, sagt der Betreuer von Thieles Gegner auf dem Weg in die Kabine. „Aber warum lässt du dich das dritte Mal anzählen? Den hätte er da schon abbrechen müssen, normal.“
„Ich hoffe“, sagt Thiele, nachdem er geduscht hat, „man hat wenigstens gesehen, dass ich ihm überlegen war.“ Dann schüttelt er den Kopf. „Schade für den Sport.“
Durch die Dunkelheit läuft Andy Thiele die Hauptstraße entlang zum Bahnhof Bernau. Die weißen Leone-Handschuhe hat er dem jungen Türken gegeben, für seinen Kampf gegen den Tschechen. „Die gibt er mir wieder“, sagt Thiele. Ein Trabbi-Cabrio fährt vorbei und verschwindet hinter der nächsten Ecke. Dann hört man nur noch den Atem des Kämpfers in der Nachtluft.
Warum wird ein Mensch ein Boxer?
Weil er gewinnen will. Aber auch weil er wissen will, wer er ist. Im Ring gibt es keine Ausreden. Dort musst du zeigen, aus was du gemacht bist.
Thiele hat den Boxsport verraten durch seine gekauften Niederlagen. Und wer ihm an diesem Abend in Bernau in die Augen schaut, sieht, dass er selbst am meisten darunter leidet.
Aber es gibt auch die Kämpfe, die Thiele gewinnen will und in denen er es versucht. Kämpfe wie den in Kiel gegen Hamid Rahimi, der ihm mit seinen Fäusten den Schädel brach. Im Video, das den Kampf zeigt, gibt es eine Szene, die vielleicht ein wenig darüber verrät, warum Thiele sich dieses Leben antut. Ganz am Ende steht Rahimi mit dem Ringrichter in der Mitte des Rings und ein Sprecher ruft ihn als Sieger aus. Dann ruft der Ringsprecher: „Sehr verehrte Damen und Herren, ich bitte auch kräftig um Applaus für Andy Thiele.“ Die Zuschauer klatschen. Für sie ist auch der Verlierer ein Sieger, weil er Mut gezeigt hat und Charakter.
Im Hintergrund des Videos, in der Ringecke, in sich versunken, unfähig aufzustehen, sitzt Thiele, hebt mit gesenktem Kopf die Hände nach oben und applaudiert sich selbst. Er hat standgehalten.
Thiele weiß, egal wie oft er auf dem Ringboden lag, gebrochen hat ihn keiner. Er weiß, wer er ist. Und an diesem Abend, so wirkt es, hat er gelernt, wer er nicht sein will.
Er geht still die Straße entlang, die nach Hause führt, aus dem Dunkel tauchen die Lichter des Bahnhofs auf. Er sagt: „Jetzt ist wirklich Feierabend.“
Zwei Wochen später schreibt Andy Thiele eine SMS. Es geht um den Abend in Bernau. In der Nachricht steht nur ein Satz: „Das war mein letzter Kampf.“
Ein halbes Jahr später steht ein weiterer Kampf in seiner Bilanz. Abbruch in der zweiten Runde. Ein alter Kumpel brauchte einen Sieg.
(erschienen in „Knockout: Die 20 besten Geschichten vom Boxen“, Hrsg.: Takis Würger, Ankerherz, Hamburg 2015)