»Sind Sie ein Held, Monsieur Mekhloufi?«

– Rachid Mekhloufi war ein Star in Frankreichs Fußball, doch er entschied sich, alles aufzugeben und für die Freiheit seiner Heimat Algerien zu kämpfen – mit dem Fußball. Vier Jahre tourte er mit der Auswahl der algerischen Befreiungsfront FLN durch die Welt, spielte in Osteuropa, China, und Nord-Vietnam. (erschienen im 11FREUNDE-Sonderheft ‚Rebellen‘, März 2013)

Monsieur Mekhloufi, lassen Sie uns eine Zeitreise machen.

Gerne.

Es ist Frühjahr 1958. Sie spielen in der französischen Liga bei AS Saint-Étienne, sind in den vorläufigen Kader Frankreichs für die WM in Schweden berufen. Gleichzeitig tobt in Ihrer Heimat Algerien ein Krieg gegen die französische Kolonialmacht.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich nach Frankreich nur als Fußballspieler gegangen bin, wie auch die anderen Algerier. Das erlaubte uns, der Anonymität zu entfliehen und dem Elend. Denn alle Algerier lebten im Elend. Dann wurde ich in die französische Nationalelf berufen, was ich natürlich nicht ablehnen konnte.

Fühlten Sie sich als Algerier, als Franzose oder beides?

Hören Sie, ich habe mich niemals als Franzose gefühlt, das Gleiche gilt für meine gesamte Generation. Ich bin aus einem Ort, der zum Märtyrerort wurde, er heißt Sétif, dort brachte die französische Armee 1945, am Tag des Waffenstillstands, 45.000 Menschen um. An diesem Tag verschrieb ich mich der Revolution.

13 Jahre später gaben Sie ihr gutes Leben als Fußballstar in Frankreich auf. Wie kam es dazu?

Zwei Männer aus meiner Heimatstadt kamen am Vorabend eines Spiels auf mich zu und sagten: »Morgen fahren wir zusammen nach Tunis.“ Ich sagte: „Alles klar, lasst uns gehen.«

Einfach so?

Einfach so. Das Einzige, was ich ihnen sagte, war, dass ich in der französischen Armee war und als Deserteur viel riskierte. Aber es war ein endgültiger Abschied. Es gab keinen Weg zurück, außer nach der Unabhängigkeit.

Sie zögerten überhaupt nicht?

Keine Sekunde! Für mich gab es gar keinen Zweifel, und ich denke für meine Kameraden auch nicht. Es war eine Entscheidung, die man schnell treffen muss – oder gar nicht. Als Fußballer aber fuhren wir ins Ungewisse, wir wussten nicht, ob wir überhaupt jemals wieder würden spielen können. Das war unsere einzige Sorge.

Die Vorbereitungen waren gänzlich im Geheimen abgelaufen?

Ja, der beste Beweis war, dass selbst der FLN in Tunis nicht wusste, dass wir kommen würden. Alles musste genau durchgeplant werden, da alle algerischen Fußballspieler von der französischen Regierung beobachtet wurden. Wenn irgendwelche Informationen durchgedrungen wären, hätten wir in der Falle gesessen.

Wie verlief Ihre Flucht und die der neun anderen Fußballer?

Es gab zwei Gruppen. Die eine fuhr von der Côte d’Azure mit dem Auto nach Italien. Unsere Gruppe floh über die Schweiz. In Genf trafen wir uns mit dem dortigen FLN-Korrespondenten, er nahm uns im Wagen mit nach Italien, von Rom nahmen wir ein Flugzeug nach Tunis.

Hatten Sie während Ihrer Flucht Angst?

Nein, nein. Wissen Sie, der FLN war überall in Europa. Sie hatten überall ihre Organisatoren. Als wir unseren Korrespondenten in Rom gefunden hatten, hielt er schon tunesische Pässe für uns bereit. Die Organisation war gut.

Sie gaben Ihre Karriere auf – und auch die Teilnahme an der WM, die wenige Wochen später in Schweden begann. Haben Sie das bedauert?

Gar nicht. Als ich in Tunis ankam, hatte ich die WM schon vergessen. Das mag Ihnen komisch vorkommen, ich war erst 22, aber, wie gesagt, das Massaker von Sétif hat mich sehr geprägt. Ich habe damals mit neun Jahren viele Dinge gesehen… Schrecklich! Ich habe wohl da schon verstanden, dass ich niemals ein Franzose sein kann.

Gab es nach Ihrer Flucht noch Kontakt mit Ihren früheren Kollegen in der französischen Auswahl?

Ja, den gab es, aber wissen Sie, ab der Minute, in der ich ging, schaute ich nicht mehr zurück. Ich verfolgte die Spiele der Franzosen nicht mehr, ich schaute mir nicht mal die WM in Schweden an. Alles was ich sagen kann, ist, dass ich mit Just Fontaine um einen Platz im Sturm konkurrierte, dem Mann, der bis heute die meisten Tore bei einer WM erzielt hat. Aber ich bereue nichts. Ich habe Stellung bezogen, und damit hat es sich.

Einige andere entschieden sich, in Frankreich zu bleiben.

Ja, einige blieben. Einige algerische Spieler wollten nicht gehen, weil sie noch ihr Studium beenden mussten.

Haben Sie Verständnis dafür?

Ja. Keiner wurde gezwungen, zu gehen. Einige entschieden sich zu bleiben.

Sie aber gingen. Fühlen Sie sich als Held, Monsieur Mekhloufi?

(lacht) Nein, nein. Die Helden liegen unter der Erde. Wir haben doch nur Fußball gespielt. Wir haben immer noch unseren Beruf ausgeübt. Wir waren privilegiert.

Sie repräsentierten die Befreiungsfront auf dem Fußballfeld.

Der FLN hat dieses Team natürlich nicht aus Liebe zum Fußball gegründet. Es ging darum, auf den Krieg in Algerien aufmerksam zu machen. Wissen Sie, zu dieser Zeit wussten selbst die Menschen in Frankreich gar nichts über den Krieg, weil die Regierung alles zensierte.

Gegen wen traten Sie als erstes an?

In Tunis veranstalteten wir das erste nordafrikanische Fußballturnier der Geschichte. Im April 1958 spielten wir gegen Libyen, Tunesien und Marokko. Wir haben gewonnen.

Wie organisierten Sie die Spiele? Die FIFA lehnte Ihre Elf ab.

Stimmt, aber die FIFA hatte nur im Westen Macht. Wir spielten im Nahen Osten, in Asien und Osteuropa, in den Ländern des Kommunismus.

Stimmt es, dass Sie mit Ho Chi Minh gefrühstückt haben?

Oh ja! Der vietnamesische Anführer lud uns zu sechs Uhr morgens ein. (lacht) Und er hatte nicht mal richtige Schuhe an. Er trug alte Reifen an den Füßen, die mit Schnüren zusammengehalten wurden! Es war ein großartiger Empfang von wunderschöner Einfachheit. Er sprach exzellentes Französisch und wir redeten über General Diap, der die französische Armee in Dien Bien Phu besiegt hatte. Er sagte uns: »Ihr habt uns im Fußball besiegt, wir haben die Franzosen im Krieg besiegt, und auch ihr werdet sie im Krieg besiegen.«

Ihre Waffe war der Ball.

Ja, wir haben in der ganzen Welt auf die algerische Sache aufmerksam gemacht. Und wir gaben nicht klein bei. In Polen wollten sie die algerische Flagge nicht hissen. Also weigerten wir uns zu spielen. Das war unsere Mindestvoraussetzung. Außerdem waren wir sehr gute Spieler, und unsere Spiele waren außergewöhnlich.

War es wichtig, die Spiele zu gewinnen und guten Fußball zu zeigen?

Unsere Mannschaft war ihrer Zeit voraus, technisch waren wir so gut wie heute Barcelona. Die Palästinenser haben das gleiche versucht wie wir, aber weil sie kein gutes Team hatten und die meisten Spiele verloren haben, hörten sie wieder auf. So etwas funktioniert nur, wenn man die richtigen Ergebnisse und die richtigen Spieler hat.

Wovon haben Sie gelebt?

Die algerischen Behörden gaben uns Wohnungen in einem Neubaugebiet nahe Tunis. Wir verdienten 50 Dinar im Monat. Ich weiß nicht, was das heute in Euro wäre, aber es war mehr eine Geste als alles andere.

Es war nichts im Vergleich zu Ihrem Gehalt in Frankreich.

Ja. Aber dass sie uns überhaupt etwas gaben, war eine nette Geste.

Was haben Sie in dieser Zeit gelernt?

In den vier Jahren mit dem FLN wurde ich ein verantwortungsvoller Mann. Ich entwickelte mich persönlich, lernte viel dazu, nicht nur über Politik und Gesellschaft, auch über das Leben an sich. Ich lernte zu sprechen, wie ich heute spreche. Vorher war ich ein naiver junger Mann gewesen, der Fußball spielte. Fußballer hatten damals in Frankreich nichts zu sagen, man machte sich über sie lustig. Aber ich entwickelte mich auch auf dem Platz.

Inwiefern?

Ich veränderte meine gesamte Spielweise. Vorher war ich immer nur direkt aufs Tor gegangen. Indem ich in diesem exzellenten Team spielte, nur dadurch, dass ich meine Mitspieler beobachtete, wurde ich ein Stürmer-Organisator.

Sie lernten, den Ball mit den anderen zu teilen?

Ja, ich verteilte den Ball. Ich lernte, den Ball für andere Torschützen aufzulegen.

Wie erging es Ihrer Familie unterdessen, hatten Sie Kontakt zu Ihren Verwandten?

Dass meine Mutter gestorben war, hörte ich erst ein Jahr später. So etwas ist furchtbar. Sie hatte Diabetes, und ich fühlte mich mitschuldig, weil emotionale Schocks gefährlich sind für Menschen, die an dieser Krankheit leiden. Vielleicht, als sie hörte, dass ich aus Frankreich geflohen bin… (schweigt)

Was hörten Sie sonst aus der Heimat?

Einmal, ich glaube es war in Rumänien, kam ein Mann auf uns zu gerannt und rief: »Ihr seid unabhängig!“ Aber er hatte es falsch verstanden. Er meinte den Putsch der Generäle im Jahr 1961. Der arme Mann hat sich was anhören müssen von uns…

Wo erfuhren Sie von der echten Unabhängigkeit?

In Tunis. Wir hörten es von Politikern, Ben Bella, der künftige algerische Präsident, befand sich gerade in der Stadt. Einige ältere FLN-Spieler kehrten nach Algerien zurück, ich war erst 25 und ging nach Genf, um meine Rückkehr nach Frankreich vorzubereiten.

Sie gingen zurück nach Saint-Étienne. Wie wurden Sie, der Deserteur, aufgenommen?

Der Klubpräsident war mutig genug, mich zurückzuholen. Ich war besorgt, ich dachte, die Leute würden ihrem Ärger Ausdruck verleihen, doch als ich zum ersten Spiel ins Stadion einlief: Eisige Stille. Stellen Sie sich vor: 20.000 Menschen, und es herrschte Todesstille. Ich dachte: »Oh, Rachid, heute wirst du bezahlen.« (lacht)

Wie lief Ihr Comeback?

Das Spiel begann, und ich hatte den Ball. Ich machte irgendetwas, das ich noch heute nicht glauben kann, ich weiß nicht, was genau, jedenfalls passte ich den Ball genau zu einem Mitspieler und er traf. Die Leute jubelten und schrien »Rachid ist zurück!« Das Bild des alten Fellagha (Bezeichnung für algerische Freiheitskämpfer, d. Red.) löste sich mit einem Mal in Luft auf. Zurück blieb nur der Fußballer. Und dann begannen die wunderschönen Tage mit Saint-Étienne.

Und Sie, hatte sich Ihre Wahrnehmung der Franzosen durch die Kriegsjahre geändert?

Wir hatten ja nur das Bild der Franzosen in Algerien, nur gegen die waren wir. Sie waren böse, Rassisten. Sie schickten uns auf schlechtere Schulen. Nur dadurch, dass wir nach Frankreich gingen, konnten wir der Segregation entfliehen. Heute mag es in Frankreich rechte Parteien geben, die Rassisten sind und Araber nicht ausstehen können. Aber als ich 1954 nach Frankreich kam, waren die Franzosen dort immer nur sehr nett zu mir.

Was hat Sie all die Jahre im Exil angetrieben?

Alles, was wir brauchten, waren Spiele und Turniere. So blieben wir im Gleichgewicht. Manchmal hatten wir keine Perspektive, dann war es schwieriger. Aber wir spielten 84 Spiele. Und wir trafen auf Menschen und Völker, die nicht wussten, wo Algerien lag und was dort passierte. Wir machten Politik, besuchten Fabriken und diskutierten mit den Arbeitern. Es ging um viel mehr als Fußball, aber der Fußball half uns, weil wir ein großartiges Team hatten und die Leute sich für uns interessierten. Durch uns haben viele von Algerien gehört.

Heute leben Sie in Tunis, wie damals während Ihrer FLN-Zeit.

Nun, ich habe eine Tunesierin geheiratet. Ich hatte ja vier Jahre Zeit, mir eine auszusuchen… Heute lebe ich zwischen Tunis, Algier und Paris, wo mein Sohn lebt. In Algier besuche ich Freunde und arbeite mit dem FLN, die versucht, Fußballschulen aufzubauen. Und hier in Tunis lebe ich direkt am Meer, in einem Haus, das aussieht wie ein Boot. Können Sie sich das vorstellen?