Ein Fan wird zum Staatsfeind

– 50 Jahre Mauerbau: Ein Hertha-Fan aus Ost-Berlin reiste seinem Team im Ostblock hinterher

Berlin (dapd). Zum Glück herrscht Westwind an diesem späten Augusttag im Jahr 1961. Haushoch überragen die steilen Tribünen der „Plumpe“ die S-Bahn-Gleise. Der Wind trägt die Geräusche des Fußballs herüber vom alten Hertha-Stadion am Gesundbrunnen in Wedding zur nahen Norwegerstraße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Dort steht Helmut Klopfleisch, 13 Jahre alt, und lauscht. Er hört das Raunen und Klatschen der Menschen, die sich auf dem Zauberberg türmen und auf dem Uhrenberg, jenen berühmten Steilrängen unter den riesigen Reklametafeln, die stets voll sind, wenn Hertha BSC spielt.

Beim letzten Mal war Helmut Klopfleisch da noch mitten drin. Nun aber steht er jenseits der Gleise und starrt traurig über den frisch abgerollten Stacheldraht. Hertha spielt jetzt in einer unerreichbaren Welt.

„Motor, Aktivist – schon die Namen waren albern“

Das DDR-Regime mauert den Westteil der Stadt ein, und einem 13-jährigen Hertha-Fan aus Pankow bleibt nur noch der Radiobericht des Westberliner Senders RIAS 1. Helmut Klopfleisch presst sich den kleinen Mikki-Empfänger dichter ans Ohr und lauscht seinem Lieblingsreporter Udo Hartwig.

Der Blick des Hertha-Fans aus dem Osten bleibt westwärts gerichtet. Klopfleisch will sich seine Liebe nicht verbieten lassen. Über die DDR-Betriebssportgruppen kann er nur lachen. „Motor, Aktivist – alleine die Namen waren ja albern“, sagt er heute. Mit dem System DDR wird er nicht warm. „Ich merkte schon in der Schule, wie wir angelogen wurden, was uns da für ein Quatsch erzählt wurde“, sagt Klopfleisch.

Doch die allabendlichen Sportnachrichten im Westradio reichen ihm bald nicht mehr. Er will dabei sein. Helmut Klopfleisch beginnt, zu Spielen von Hertha BSC im Ostblock zu reisen, zu Europacupspielen und auch zu belanglosen Freundschafts-Kicks. Aus einem blauen FDJ-Hemd und einem weißen Bettlaken näht ihm seine Mutter eine Fahne. Rings um die Spiele kommt er mit Fans, Spielern und Trainern ins Gespräch.

Wodka aus Zahnputzbechern

Auch das westdeutsche Nationalteam hat es ihm angetan. 1971 fährt er zum EM-Qualifikationsspiel nach Warschau und überreicht dem aus Dresden stammenden Bundestrainer Helmut Schön einen Berliner Bären, als Glücksbringer und Zeichen für die Einheit der Stadt. Zusammen mit Schön, dessen Assistenten Jupp Derwall und Masseur Erich Deuser stößt er im Hotelzimmer mit polnischem Wodka aus Zahnputzbechern auf die deutsch-deutsche Freundschaft an.

Bald ist Klopfleisch im BRD-Fußball bekannt wie ein bunter Hund – und er hat beste Beziehungen. Eines Tages steht Bayern-Präsident Fritz Scherer in der Wohnung der Klopfleischs in Berlin-Weißensee – unter dem Rolli ein signiertes Originaltrikot von Karl-Heinz Rummenigge, dem Idol von Klopfleischs Sohn. „Er hat sich gleich im Flur entblättert“, erinnert sich der Vater lachend. Klopfleischs rege Westkontakte bleiben auch der Stasi nicht verborgen. Bei der Ausreise wird sein Wagen bis auf die Karosserie zerlegt, seine Fahne schmuggelt er mit verölten Ersatzteilen über die Staatsgrenze.

In den 80er-Jahren wird die Lage ernst. Der Fußballfan wird zum Staatsfeind. Er verliert seinen Job als Elektriker. Vor Spielen von Westmannschaften im Ostblock wird er vorsorglich verhaftet und verhört, er erhält einen sogenannten „PM-12“-Ausweis, „wie Sexualstraftäter und andere Schwerverbrecher“, sagt er. Helmut Klopfleisch ist offiziell geächtet, weil er Fußballfan ist.

„Ich wollte einfach meine Freiheit“

Als auch seine Familie von den Behörden offensichtlich benachteiligt wird, stellt er 1986 einen Ausreiseantrag. „Solange es nur um mich ging, konnte ich es aushalten“, sagt er. Seinen 15-jährigen Sohn hat bereits die Stasi umgarnt und versucht, zum Bespitzeln des eigenen Vaters anzustiften. „Es ging mir nicht um Apfelsinen oder Bananen“, sagt Klopfleisch, „ich wollte einfach meine Freiheit.“

Sein Ausreiseantrag wird bewilligt – Ende Juni 1989. Noch am gleichen Abend müssen die Klopfleischs die DDR verlassen. Nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter, die wenige Tage später stirbt, darf er zurück in das Land, das sich eingemauert hat.

Nach der Wende erfüllt sich Helmut Klopfleisch den Traum von der Freiheit. 1990 Italien, 1994 USA, 1996 England – zusammen mit der Nationalmannschaft bereist er die westliche Welt. Fotos zeigen ihn mit Berti Vogts, Boris Becker und beim Golfen mit Franz Beckenbauer.

In der Plumpe aber war er nie wieder. Herthas altes Stadion ist längst abgerissen. 50 Jahre nachdem der kleine Helmut traurig hinüber in den Westen blickte, ragen dort keine Zauberberge mehr auf. Der Fußball ist verzogen. Die neuen Mieter sind hinter der glatten Fassade eines Neubaukomplexes verborgen. Nur die alten Pappeln sind noch da und wiegen sich langsam im Westwind.