Johannes Ehrmann: „Die Winzigkeit des Glücks, Brief an meine Töchter“, ersch. am 21. Juli 2017
Unsere Reise
Wir sitzen im Auto, Papa wie immer vorne links, neben ihm Mama, und dahinter ich in meinem schwarzen Römer-Sitz mit dem orangefarbenen Pult. Wir fahren durch den Sommer, eine enge Straße, wir kommen zwischen steilen Felswänden hindurch, der Wagen legt sich in die Kurve, dann sind die Felsen weg und alles reißt auf. Wir sind im Freien, ich höre das Klavier aus dem Kassettenradio, und unter uns liegt golden glitzernd das Meer.
Das ist sie, meine erste Erinnerung, der älteste Moment, der in mir geblieben ist. Bis heute hat nichts und niemand ihn verdrängen können aus dem alten Winkel meines Wesens. Ich kann ihn spüren, wenn ich will, diesen Augenblick, diesen Gefühlsakkord, ich muss drei gewesen sein oder vier. Irgendwann, Jahre später, ist mir die Kassette wieder in die Hände gefallen, und ich habe das Klavier gehört, das Schlagzeug, die Stimme des Sängers, that’s just the way it is, und alles war wieder da. Da saß ich wieder, hinten rechts in unserem gelben Passat-Kombi, die Nase an der Scheibe, ein heißer Sommer gegen Ende eines Jahrtausends, das ihr nie kennen werdet.
Das Licht, das Meer … Ich kann es sehen, wenn ich will. Den Ort, an dem alles losgegangen ist, manchmal hole ich ihn hervor von da unten, dann erfüllt er mich für eine Weile und hilft mir beim Weitermachen.
Weit weg das Meer, weit weg die Berge von der großen, flachen Stadt, unerreichbar die Erinnerung in unseren ersten Wochen mit euch. Unsere Berliner Welt ist winzig, zwei Zimmer für vier Menschen, die Decken scheinen mir noch niedriger als sonst. Wir igeln uns ein, drehen die Heizung auf, stecken euch unter unsere Strickjacken, lassen euch schlafen auf der bloßen Haut. Noch immer schwankt eure Temperatur, sechsunddreißig acht, sechsunddreißig drei, wir sollen noch nicht mit euch nach draußen, wo der falsche Frühling Einzug gehalten hat, die kalte Sonne und der polnische Märzwind.
Immerhin, wir sind zuhause, chez nous, wie eure Mutter am Telefon zu ihren Eltern sagt, am sechsten Tag durften wir gehen, alle vier. Aber etwas hinter sich zu lassen, ist das eine, und etwas Neues zu beginnen, noch einmal etwas ganz anderes, das merken wir jetzt.
Alles hatten wir vorbereitet, das Beistellbettchen fest mit zwei Riemen an unser großes Bett gebunden, die schwere Wickelauflage auf die Waschmaschine gehievt, eure Strampler und Bodys und Mützchen sauber gefaltet im Schrank verstaut. Aber nichts ist bereit, das merken wir schnell, am wenigsten wir selbst.
Es dauert Tage, bis wir durchblicken durch all die Bedürfnisse, Wochen, bis wir die nötigen Mengen einschätzen lernen, bis wir vernünftig Haushalten können. Ständig brauchen wir irgendwas, dauernd fehlt es hier oder da, Milchpulver, Wickelunterlagen, Fluortabletten aus der Apotheke, wir haben die falschen Schnuller und Fläschchen, ein Sterilisator muss her, ein Flaschenwärmer, schon wieder neue Windeln. Euer Verbrauch ist sofort gigantisch, jeden Morgen landet ein prallvoller Plastiksack im Müll. Jeden zweiten Tag hetze ich aufs Neue hinüber zum Einkaufszentrum, während eure Mutter euch in Schach hält, auf dem Rückweg bringe ich tütenweise Fastfood mit, weil uns zu allem anderen die Zeit fehlt und die Energie.
Plötzlich müssen wir alles selber machen, sind ganz alleine, haben niemanden mehr, der hilft und Rat gibt oder auch nur zuhört, unsere Eltern lange Tagesreisen entfernt, meine in der Pfalz, die eurer Mutter im Burgund, und alle um uns herum sind in ihre eigenen Leben vertieft. Die Hebamme kommt und antwortet nicht auf unsere Fragen, eure Mutter ist verzweifelt, ich genervt. Nachts schlafen wir im Wechsel in getrennten Betten, um wenigstens für ein paar Stunden zur Ruhe zu kommen, und jeder von uns ist so allein wie der andere.
Wir laufen auf Hochtouren und kommen doch nicht vom Fleck, unser Leben kommt mir vor wie ein Wagen, der mit heulendem Motor auf einem einsamen Parkplatz steht. Wir machen und machen, um mit euren Bedürfnissen Schritt zu halten, wir sind glücklich und verzweifelt, sehen euch in die Augen, die ihr erst nach und nach öffnet, versuchen euch zu verstehen, wollen etwas erkennen in euren Gesichtern, ein Lächeln, ein Zwinkern, war da nicht was?
Und für euch beide ist alles noch viel neuer als für uns, selbst an die einfachsten Dinge müsst ihr euch erst gewöhnen, ans Essen und ans Schlafen, an das Licht, den hellen Tag und die tiefe, dunkle Nacht. Sobald die Sonne nachmittags nicht mehr ins Wohnzimmer scheint, das Licht sich ändert, fangt ihr an zu schreien. Dann tragen wir euch durch die Wohnung, bis endlich Schlafenszeit ist. Die erste Nachtschicht ist meine, ich versinke in Kissen und Decken, will nie wieder aufstehen, zwei Stunden später ist die erste von euch wieder wach.
Willkommen im real life, schreibt eine Freundin mit zwei älteren Kindern, aber die Sache ist, es fühlt sich überhaupt nicht so an. War das echte Leben nicht die 33 Jahre davor? Vom Wohnzimmerfenster sehe ich die Leute drüben im Park, auf Fahrrädern, zu Fuß, junge Pärchen Hand in Hand. Ich sehe mich und eure Mutter in einer Zeit, die so weit weg scheint, denke an unsere kleinen Reisen, an lange Wochenenden in Barcelona und Prag, an Nächte an der Adria und unseren Sommer in Andalusien. Manchmal denke ich, das ist jetzt für immer vorbei, kurz darauf dann wieder, was für ein Blödsinn das ist.
Jetzt macht sich da also wieder ein alter Kombi auf die Reise, denke ich, 30 Jahre später, nur der kleine Junge von damals sitzt nun vorne links und muss zusehen, dass er die Kurven kriegt. Die Sonne, das Licht, das Meer … Was war es, was mich damals so beeindruckt hat? Die Weite des Blicks, die Kraft der Musik, der weite Himmel, die Freiheit der Bewegung, das Glück des ersten echten Sommers im Süden? Vielleicht ja ein bisschen von allem. Vielleicht ist da zum ersten Mal alles zusammengekommen, was Erfüllung und später Sehnsucht macht, im Kopf, im Herzen des kleinen Kinds, auf seiner ersten großen Fahrt ins Helle.
Was wird eure erste große Erinnerung sein, frage ich mich, welcher Ausblick, welcher Song, welcher Himmel, was wird von all dem in euch bleiben? Ist es nur Zufall oder hat es eine größere Bedeutung, dass es dieser Moment war bei mir und kein anderer? Welche Dinge bleiben uns und bestimmen sie noch Jahre später unser Handeln? War es wirklich nur ein Augenblick oder am Ende doch mehr? Keiner kann mir ja heute mehr sagen, ob es nicht doch die Verschmelzung von Stunden war, von Tagen, Wochen vielleicht, die Summe aller Teilchen von sechs Wochen Sommerferien, einer ganzen Autoreise, (einer ganzen Kindheit sogar?), festgehalten in einem Blick zurück. Ich weiß nicht, was euch einmal beeindrucken wird, vielleicht schon jetzt beeindruckt in diesen ersten, wilden Wochen, keiner kann es sagen.
Wenn ihr beide schlaft oder zufrieden seid und sich die Dinge für eine Weile beruhigen, erzählen eure Mutter und ich uns manchmal von eurem Anfang, vom Beginn unserer Reise, er lässt uns nicht los. Zwei Blickwinkel auf die Plötzlichkeit der Ereignisse. Die Monitore, das grüne Tuch, die Stimmen der Ärzte, von denen ich nur die weißen Schlappen sehen konnte, und dann schon dieser Schrei, der mir durch den ganzen Körper gefahren ist, und keine Zeit, zu überlegen, was das heißt. Schon hatte ich etwas im Arm, das ich nie zuvor gesehen hatte, ein Leben, ein neues Leben, eingewickelt in warmen weißen Tüchern. Und dann, keine drei Minuten später, gleich noch eins, auf dem Arm eurer Mutter, so plötzlich alles, so unvermittelt, ein Schrei und dann noch einer und alles ist über den Haufen geworfen, zwei Paar Augen blinzeln ins grelle Deckenlicht, zwei winzige Wesen aus einer anderen Welt.
Ihr selber, Frida und Ella, werdet euch daran natürlich unmöglich erinnern können. Wir werden euch davon erzählen, eines Tages. Und dann? Wohin wird euch eure Reise einmal führen, wohin können wir euch mitnehmen über die Jahre, was werden wir euch zeigen? Möglichst viel, denke ich, Gutes wie Schlechtes, egal, Hauptsache, ihr seht, wie groß diese Welt ist, wie kompliziert und anstrengend und schön.
Es scheint alles so bedeutsam, jede Entscheidung kann alles beeinflussen. Ich sitze auf der Couch im Wohnzimmer, ihr liegt gut angeschnallt in euren gepolsterten Wippstühlchen, eure Beine in Wolldeckchen gewickelt, die Schnuller im Mund. Ich halte euch mit beiden Füßen in Bewegung, warte darauf, dass ihr einschlaft. Ich höre den Baulärm da draußen, die Lastwagen, die über die Brücke nebenan rumpeln. Ich sehe die braunen Staubschwaden am Balkon vorbeiziehen. Um uns herum werden sie geschlossen, die letzten Lücken der vernarbten Stadt, 600 Wohneinheiten hinten, 100 gegenüber, hochpreisig oder austauschbar oder beides zusammen.
Bald wird hier kein Platz mehr für uns sein, wir müssen weg, das ist klar, unser Schlafzimmer wird feucht, wenn es unter null ist, noch einen Winter wollen wir nicht hier sein, nicht mit euch, es geht nicht. Nur wohin? Ihr braucht bald ein eigenes Zimmer, Platz für zwei Betten, wo sollen wir ihn finden, wo unser neues Zuhause, wenn wir doch nicht mal entschieden sind, wo wir anfangen sollen zu suchen? Wenn etwas frei wird hier in der Gegend, dann ist es zu teuer oder nicht zu bekommen. Und alle, die noch eine bezahlbare Wohnung haben, klammern sich daran, so lange sie können. Die neue Stadt, der Magnet Berlin. Stößt er uns ab?
Ihr fangt an zu murren in euren Stühlen, ich setze mich auf den Rand der Couch und schaukele ein bisschen kräftiger. Ich sehe eure Augen, die groß auf mir ruhen. Ihr scheint schon so viel von mir zu erwarten, euer Blick traut mir mehr zu als ich mir selbst. Noch seid ihr hier drinnen, gut verpackt, noch lassen wir euch nicht los und nicht gehen, noch längst nicht, aber irgendwann müssen wir doch. Irgendwann werdet ihr reisen, erst mit uns, dann auch allein (oder miteinander), weit weg, übers Meer, vielleicht sogar bis ans Ende der Welt, in das Land der sengenden Sonne, wo sie Fußball mit einem Ei spielen und die Tiere ihre Kinder im Beutel durch den Busch tragen. Viel weiter als bis dahin geht es nicht von hier aus, wenn ihr nicht gerade zum Mond wollt.
Melbourne, Australien. Meine erste große Reise alleine war das, in dieses heiße, fremde Land, mit 16 Jahren, genau zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein also, dem schwierigsten Alter von allen, weil wir noch so viel lernen müssen und doch schon denken, dass wir alles, alles besser wissen. Eine lange Reise, auf der so viel entstanden ist, nicht zuletzt eine von diesen wunderbaren Freundschaften, die keine Entfernung kennen. Zwei Jungen aus der zehnten Klasse, die nicht viel mehr als der Zufall zusammengeführt hat, der Wunsch, die Sprache des anderen zu lernen. Es wäre so viel einfacher und logischer gewesen, sich nach der Rückkehr schnell wieder aus den Augen zu verlieren. Aber wir sehen uns noch, mein Freund Lachlan und ich, wir besuchen uns immer wieder und lachen dann und trinken und erzählen, wie es der Familie geht und allem anderen. Und wenn ihr eines Tages nach 24 Stunden aus dem Flieger steigt, werden da Menschen sein, denen ihr nicht gleichgültig seid. Was für ein schöner Gedanke: Ihr seid schon auf der ganzen Welt bekannt.
Das also kann passieren, wenn ihr euch auf Reisen begebt, ihr findet neue Menschen, die ein Lächeln in der Seele tragen, und eure Welt wird größer als sie vorher war.
Es wird nicht leicht gewesen sein für meine Eltern, mich damals ziehen zu lassen, schwerer sicher als für mich. Ich erinnere mich an die letzte Nacht in Deutschland, mein Flug ging früh morgens von Frankfurt aus, und mein Vater und ich sind mit dem Auto von Berlin aus zu Oma und Opa gefahren, den Eltern meiner Mutter. Bei ihnen schliefen wir, zwei Stunden nur entfernt vom Flughafen im kleinen Saarland, wo ich geboren und aufgewachsen bin, bis ich acht war.
Spät an diesem letzten Abend in Deutschland dann warfen die Jungs von draußen Steinchen an meinen Rollladen, ich hörte sie meinen Namen rufen. Ich war schon im Bett, konnte aber noch nicht schlafen, sie waren meine längsten, alten Freunde, noch aus dem Kindergarten und der Grundschule, jedes Jahr hatten wir uns mehrmals gesehen, Weihnachten, Ostern, im Sommer, sie wussten immer, wann ich da sein würde, und bevor ich wegging, wollten sie mit mir noch einen trinken gehen, ein bisschen quatschen und lustig sein, ein paar Meter weiter gab es ein Fest.
Unten standen sie in der Einfahrt meiner Großeltern, ich oben am Fenster im zweiten Stock, alle anderen schliefen schon und ich hatte am nächsten Tag nichts weiter zu tun, als mich in ein Flugzeug zu setzen und ans andere Ende der Welt zu fliegen. Und doch ging ich nicht mit. Ich stand da im Fensterrahmen und schüttelte den Kopf, immer wieder.
Warum? Aus falschem Gehorsam, aus Vorsicht, Faulheit? Was für ein Idiot ich war, ein Kind. Sie hatten an mich gedacht, meine alten Freunde, sie wollten noch einmal los, bevor alles anders würde, sie wussten, worum es hier ging, und ich habe sie beiseite geschoben und es nicht mal gemerkt. Irgendwann sind sie gegangen.
Wenn ich heute daran denke, schüttele ich den Kopf über mich selbst. Ein Moment, den ich nicht ergriffen habe, aus Dummheit und Kurzsicht. Aus Furcht, vor was auch immer.
Nein, nein, denke ich jetzt. Ihr müsst doch da raus und wir müssen euch rauslassen, sonst bleibt alles klein in unserem Leben.
Ein paar Wochen nach der Geburt machen wir die ersten Gänge mit euch durchs Viertel. Eure Mutter zieht euch auf unserem Bett die Strickjäckchen an und die Ringelmützen, ich fahre mit dem Aufzug in den Keller, hole den Doppelwagen und schlage die Decken zurück, damit wir euch hereinheben können.
Draußen ist es sonnig, aber noch nicht ganz warm, die Zeit, wenn die Sommerjacke zu dünn ist und man unter dem Wintermantel schwitzt. Wir schieben euch am alten Fußballstadion vorbei mit seinen vier kahlen Flutlichtmasten, unter dem Baustellengerüst und der U-Bahn-Brücke an der Eberswalder Straße hindurch. Dann holpert der Wagen über das krumme Pflaster hinter der Kulturbrauerei, eure Köpfe werden wild hin und her geworfen, aber ihr schlaft tief und unbeirrbar. Wir setzen uns an den letzten freien Tisch vor dem Café, bestellen Buletten und Macchiato und warten auf Christopher und Karolina. Ihr liegt eingequetscht zwischen Holztischen und Klappstühlen, unsere Freunde kommen, wir essen und trinken und reden und freuen uns, dass in der ganzen Zeit nur eine von euch aufwacht und gefüttert werden will.
Auf dem Heimweg fühle ich mich so gut wie lange nicht, ich spüre den Kaffee im Magen und die Nachmittagssonne auf der Haut, wir halten ein paar Mal vor Schaufenstern, gucken uns Möbel an und Lampen, stellen sie in Gedanken in unsere neue Wohnung, die es noch gar nicht gibt.
Wir wissen noch nicht, wo wir in einem Jahr sein werden, wo in fünf, in zehn … Von wo in der Welt ihr uns anrufen werdet in 20 Jahren, welche Ländervorwahl wir dann wählen, um euch in euren Studentenzimmern zu erreichen. Wie lange einmal die Fahrt, der Flug in euer Leben dauert.
Ihr habt viel Glück, ihr wachst, wie selbstverständlich, mit zwei Sprachen auf, mit meinem Deutsch und dem Französisch eurer Mutter, hört dazu noch das einfache Englisch, das wir untereinander sprechen. Zwei Sprachen werdet ihr können, vielleicht drei, ganz von alleine.
Wo führt sie euch hin, eure Reise? Welche Dinge werdet ihr umarmen, welche schnell wieder fallen lassen? Vielleicht werdet ihr ja die Musik entdecken so wie eure Mutter als kleines Mädchen, ein Arbeiterkind in einer kleinen Stadt mitten in Frankreich. Die Neugier hat sie weggezogen von ihrem Elternhaus, jede Woche aufs Neue, bis ans andere Ende der Stadt in das mächtige Gebäude des Konservatoriums. Ganze Nachmittage hat sie da am Klavier verbracht, oben unterm Dach, stundenlang hat sie dort gespielt, eure Mutter, und nicht weil irgendjemand das gewollt oder bestimmt hätte, sondern weil sie selber es so liebte. Die Musik hat etwas geöffnet für sie, mit ihrem Chor ist sie das erste Mal in ihrem Leben verreist, hat in Osteuropa zusammen mit Überlebenden der deutschen Lager gesungen, und wenn sie von diesem Tag erzählt, strahlen ihre Augen heute noch.
Ja, vielleicht werdet ihr den schönen Klang zu eurem Begleiter machen, werdet auf Orchesterreise gehen oder eurer Lieblingsband hinterherfahren. Vielleicht werdet auch ihr diese Momente erleben, in denen die Musik euch rettet und wieder auf die Beine bringt. Oft denke ich an einen meiner letzten Tage in den USA zurück, am Ende meines Jahres als Gaststudent in Pennsylvania. Ich hatte mir ein Konzert des Philadelphia Orchestra angesehen, ein warmer strahlender Sonntagmorgen im Mai. Als ich Minuten nach der Aufführung hinten am Konzerthaus vorbei kam, habe ich sie gesehen. Erst einen Mann mit einem Trompetenkoffer auf dem Rücken, dann einen Cellisten, dann zwei Flötistinnen, dann noch ein paar andere. In schneller Folge sind sie aus dem Hinterausgang geschlüpft und schnell auseinander gegangen, heimwärts, zur Familie oder zu Freunden ins Café, in den Rest ihres Sonntags, hier und da ein leises Pfeifen im Mundwinkel, als hätten sie zwei Stunden am Fließband der Margarinenfabrik gestanden statt Beethoven und Berlioz in den Saal zu zaubern und in unsere Herzen.
Wie beneidenswert, dachte ich damals, glücklich und gerührt auf meinem Weg durch die Stadt, die ich bald wieder verlassen würde. Wie schön, solch einen Beruf zu haben, wie glücklich jeder, der mit dem, was er am besten kann, mit Talent und Kunst oder wie man es nennen will, Woche für Woche die Menschen bewegen kann und sich nicht mal groß was drauf einbilden muss.
Auch ihr beide werdet Dinge entdecken, die euch berühren, die bei euch bleiben für eine Weile oder für immer. Vielleicht werdet ihr etwas davon zu eurem Leben machen wie die Musiker, die ich gesehen habe, wie eure Mutter damals als Kind oder eure Oma mit ihrer Geige. Wer weiß. Es wird nicht leicht für uns, für eure Mutter und mich, euch zum einen nicht zu bremsen, aber auch nicht zu erdrücken mit unseren eigenen Wünschen. Ihr sollt spielen, ihr beiden, das dürfen wir nicht vergessen, sollt erst einmal keine Last spüren und keine Sorge, dafür sind ja wir Großen da.
Ich denke jetzt an meine Eltern. Ich sehe ihre Gesichter in der Küche am Weihnachtstag, bevor ihr geboren wurdet. Ich sehe ihr Lächeln, die erwachsenen Kinder um sich, die schon arbeiten, studieren, eigene Familien gegründet haben, im Bauch der Schwiegertochter die nächsten beiden Enkel.
Ich sehe die Gesichter meiner Eltern, die Freude über den gemeinsamen Moment, die Erleichterung darüber, es bis hierher geschafft zu haben. Sich zusammen durchs Dickicht geschlagen zu haben, durch all die verschwitzten Nachmittage und die Fiebernächte, durch die kalten Schulmorgen und die stillen Abende, vielleicht ängstlich, aber nie entmutigt, oft todmüde, aber nie ganz leer, erschlagen, aber nie ohne Mut, und jeden Tag aufs Neue darum bemüht, dem Grau des Alltags doch noch ein bisschen Farbe beizumischen. Für uns, für sich selbst, einfach, damit es weitergeht, weil sie doch weitergehen muss, diese Reise mit ihren zigtausend Kurven, deren Ende niemand kennt. Und warum soll sie nicht für alle ein bisschen besser und schöner sein, als sie sein müsste.
Auch unsere Tage sind jetzt alle gleich, wir strampeln genauso wie ihr beide, eure Mutter und ich, jeder Tag gleich und doch immer anders. Da ist ein Lachen, ein Augenzwinkern, ein neues Geräusch, das ihr macht, ein kurzer Ausflug ins Licht, die gute Nachricht nach der schlechten.
Sie hatten recht, denke ich, es geht so schnell. Der Motor läuft, die Räder drehen sich, bald ist schon der Sommer da, und hinter der nächsten Kurve kommt das Meer.
Johannes Ehrmann
Die Winzigkeit des Glücks
Brief an meine Töchter
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