Der Ring, der uns verbindet

Auf dem Weg über die Swinemünder Brücke kommen, langsamen Schrittes, die Zweifel. Eine Geschichte über die Ringbahn? Ehrlich? Im Kreis fahren, von A nach A also, ganz gemütlich, wenn jeder von A nach B hetzt? Nicht ankommen wollen, wo jeder doch gerade ankommen will? Eine Strecke so fahren, wie es sie eigentlich gar nicht gibt, weil sie niemand so erlebt: Den Ring einmal komplett – wer macht das schon, außer betrunkenen Kids in der Nacht zu Sonntag? Jetzt ist Berufsverkehr. Einsteigen, losfahren, aus dem Fenster schauen, zwischendurch immer mal wieder aussteigen.

Ein unzeitgemäßes, vielleicht absurdes Vorhaben. Einmal herum, eine Stunde, 37 Kilometer, 27 Bahnhöfe, sieben Bezirke. Eine Runde Berlin, gegen den Uhrzeigersinn.

Gleich zu Beginn wird es hässlich. Eingequetscht zwischen zwei Einkaufszentren bietet der Bahnhof Gesundbrunnen wenig mehr als Stein gewordene Zweckmäßigkeit. Ein Eingangsgebäude soll demnächst endlich hinzukommen, das Baugerüst steht schon, zuvor hatte sich nur ein mickriger roter Service-Bungalow auf dem Vorplatz verloren. Aber egal, auf, hinein!

„S 42 Richtung Ring, zurückbleiben bitte!“ Türen schließen. Destination: Wedding. Hier oben, zwischen Westhafen und Schönhauser Allee fand 2002 wieder zusammen, was die Mauer einst getrennt hatte. Zum „Ringschluss am Wedding-Day“ rückte die gesamte Berliner Prominenz an. Strahlender Klaus Wowereit. Ewig her. Längst gähnt wieder der Alltag im alten Arbeiterbezirk. Missmutige Gesichter beim Ein- und Aussteigen. Der Blick die Müllerstraße hinunter zeigt drei ewig rote Buchstaben. S. P. D. Kurt-Schumacher-Haus. Ein steinernes Relikt. Die Partei, die hier einst 70 Prozent und mehr einfuhr, haben bei der letzten Abgeordnetenhauswahl, Stimmbezirk 431, von 1 081 Wahlberechtigten noch ganze 91 gewählt.

Keine Zeit für Politik. Nach Ring, zurückbleiben bitte. Mütze aus, Schal lockern, warm werden. Einen ganz eigenen Geruch hat sie, diese S-Bahn, metallen, ein bisschen säuerlich auch, nicht zu verwechseln mit der muffig-warmen U-Bahn. A propos U-Bahn: Heller ist es hier als dort, weiter auch, man hat mehr Platz, und, klar, mehr Aussicht. Über Westhafen und Beusselstraße geht es zur Jungfernheide. Es dominieren große Flächen, hier wird gearbeitet statt gewohnt. Hellweg, Bühnenverleih, Güterwaggons. In der Wellblechwelt ein bisschen alter Backsteinprunk. Behala Westhafen, Gewerbelinie Ring. Beim Halt in Jungfernheide meint man, den Zug schnaufen zu hören. Großes Umsteigen, U7, nach Spandau und Rudow. Dann geht’s nach Süden, scharfe Linkskurve, und rechts tauchen die Märchentürme der Westend-Kliniken auf.

DER RINGBAHN-ROMANTIKER

Als erster Treffpunkt ist gewählt: der S-Bahnhof Westend, Spandauer Damm, Ausfallschneise, irgendwo zwischen Schloss Charlottenburg und Ikea. „Ich war immer ein Liebhaber der Verkehrsmittel“, sagt Jürgen Meyer-Kronthaler. Seit 25 Jahren schreibt der ehemalige Rias- und heutige Deutsche-Welle-Redakteur, „kurz jmk“, für die „Berliner Verkehrsblätter“, kurz „BV“. Eine der zwei großen Liebhaber-Zeitschriften im Berliner Raum. Im Ostteil sind zu Mauerzeiten noch die „Verkehrsgeschichtlichen Blätter“ entstanden, kurz „VB“. Für den Laien kaum zu unterscheiden. Im Lokal „Zur Haltestelle“ trinkt man Schultheiss vom Fass. Das Interieur: Asbach-Uralt-Leuchtreklame, Holzvertäfelung, Wagenrad-Kronleuchter, dunkle Gemälde in Goldrahmen. Unter der Decke: Rettungsring, Fischernetz und Gitarre – Freddy-Quinn-Ensemble. Hinterlegt ist das alles mit 105,5 Spreeradio. Wir sind, kurz gesagt, in einem dieser großartigen Altberliner Saufläden.

Das Leben von Meyer-Kronthaler, Jahrgang 1950, große randlose Brille, Seitenscheitel, Sakko über Pullunder über Hemd, ist ein Leben in und mit der Bahn. Erster Bänderriss, Ehrensache, beim Abspringen vom fahrenden Zug. Gute, alte Zeit. Meyer-Kronthaler erzählt von früher. Von den Knutschtouren der Nachkriegszeit, als Pärchen sich in die meist leeren Mutter-Kind-Abteile verkrochen. Von seinem Heimatbahnhof, Halensee, der früher noch so einen schönen großen Glasvorbau hatte. Und vom ursprünglichen Namen: „SS-Bahn!“, sagt Meyer-Kronthaler und lehnt sich zurück. Klug gesetzte Kunstpause. „Kurz für Stadtschnellbahn.“ Puh. Das alte Kürzel spuckte der Volksmund im Laufe der Vierziger recht schnell wieder aus. Darauf ein großer Schluck.

„Können Sie mal die Luft aus den Gläsern lassen?“ Schwieriges Thema jetzt: die S-Bahn nach dem Krieg. „Schon allein aus Daffke hab ich die genommen“, sagt Meyer-Kronthaler. Denn die Elterngeneration boykottierte „Ulbrichts Stacheldrahtbahn“ nach 1961. Betrieben wurde sie weiterhin von der Reichsbahn, gefahren von linientreuen DDR-Bürgern. Die S-Bahn, ein Kuriosum des Kalten Kriegs: „Ein maroder, rumpelnder, total überalterter Wagenpark“, sagt Meyer-Kronthaler. Als die Stones-Fans 1965 die Waldbühne verwüsten, werden auf der Heimfahrt die Züge gleich mit zerlegt. „Die S-Bahn war Freiwild, da war viel Kalter Krieg dabei auf beiden Seiten. Jeder Gullydeckel war politisch.“

Die während der Teilung verfallenen Ringbahnhöfe wurden nach 1990 Stück um Stück wieder aufgebaut, die Strecken saniert. Trotz der andauernden S-Bahn-Krise, die auch Meyer-Kronthaler alias jmk in seiner Zeitschrift kritisch begleitet, ein versöhnliches Fazit vom Liebhaber: „Die Ringbahn ist doch ein wunderbares Symbol für die Vereinigung. Die Menschen in Ost und West haben in den gleichen Zügen gesessen. Es war ihre gemeinsame S-Bahn.“ Schöner Schlusssatz.

Doch unten auf dem Bahnsteig hat jmk, ewiger Bahnfahrer, noch einen Spruch parat. Er schaut missbilligend beim Entwerten zu, sagt: „Django stempelt nicht. Django hat Monatskarte.“

Gute Laune bei der Weiterfahrt. Die ganze Ringbahn-Romantik ist ja schon ansteckend, am Bahnhof „Messe Nord / ICC“ überfällt einen gleich der Gedanke: Wie viel schöner war doch der alte Name. Witzleben! In den Blick komm: das gemeinsame Erlebnis Ringbahn. Die Rituale: Das Wegziehen des Rucksacks vom Nebensitz, wenn sich jemand setzen will. Die stummen Codes. Das Aneinander-vorbei-Starren. Die müde Stille im Feierabendverkehr. Das Abfahrtssignal, unverkennbares „Döö-dööööö-dööp“, verewigt von Elektro-DJ Paul Kalkbrenner im Film „Berlin Calling“. Zurückbleiben bitte, Nostalgie und Spinnereien abschütteln, vorbei geht es am Flaggenmeer der Messe und dem silbernen Kongressding, vorbei am Westkreuz, das ohnehin nur zum Umsteigen taugt. Schnell weiter jetzt! Vorbei an Halensee, Pronto Autoservice, Natursteingalerie, immer neue riesige Brachflächen und das immer neue Staunen darüber, wie viel Platz diese Stadt noch hat.

Die Bahn ist jetzt fast leer. Hohenzollerndamm, Heidelberger Platz, die Häuser verändern sich, werden älter, massiver. Hier hat die Stadt plötzlich Giebel. Bürgerliches Berlin. Vor den wuchtigen Gründerzeitdomizilen, entlang der Stadtautobahn aber auch: endlose Graffiti-Galerien. Fette, bunte Buchstaben, hastig nebeneinandergequetscht. Ringbahn, Abenteuerspielplatz der Heranwachsenden. Das Licht der Öffentlichkeit meidet die Sprayerszene, ist nachtaktiv. „Trainwriting“, das Bemalen von Zügen, das ist das ultimative Wagnis für die Gruppen, es ist gefährlich, die Aktionen in Depots oder auch an Bahnhöfen sind perfekt durchgeplant – wie ein Bankraub. Das Adrenalin ist dabei fast so wichtig wie gute Farbe. Bei Youtube kann man leicht die entsprechenden Videos finden, produziert von den Crews mit narzisstischer Akribie. Üblicher Ablauf: Vermummte Gestalten stürmen aus dem Gleisbett, die Dosen in Umhängetaschen, dann stäubt schon die Farbe, teils beidhändig wird die Grundierung auf die Waggons gemalt. Ein paar Umrisse, fertig. Die Anwesenheit des Zugführers stört keinen. Was soll er machen, allein gegen zehn? Die Crew ist längst weg, bevor die Polizei auftaucht.

Hinter dem Bundesplatz geht es ein Stück hinauf zum Innsbrucker Platz. Der Blick weitet sich. Nie war er bisher größer, der graue Himmel über Berlin. Am Schöneberger Gasometer geht es in sanfter Kurve wieder hinunter, zum Südkreuz, bunte Wände all the way.
Zwischenstopp bei der Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin“

DIE POLIZISTEN

„Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Wenn wir als Uniformierte mal einen Sprüher erwischen, dann sind die schon strunzdoof.“ Ralf Brunner, Bundespolizei-Hauptmeister, Stromberg-Bärtchen, kleine Augen hinter der Brille, sitzt im engen Pausenraum seiner Wache, tief unten im Bahnhof Südkreuz. Zwischenstopp bei der Ordnungsmacht. Kopfschüttelnd setzt Brunner seinen Kaffee ab. „Das sind große Crews, 20 Mann, die gehen in die Bahn rein, texten alles zu, und wenn der Bahner kommt, malen sie den auch noch voll. Die kennen da nichts.“ Die Strecke zwischen Bundesplatz und Ostkreuz, das ist Brunners Revier, und das seines Partners Norman Förster. Der ist im Team der Mann für die lockeren Sprüche. So wie: „Der Beamte wird nach oben mit Mütze begrenzt.“ Allgemeine Heiterkeit.

Weniger Heiterkeit dagegen bei der Jagd auf Sprüher, die erledigen andere, zum Beispiel die Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin“. Brunner und Förster dokumentieren meist nur. „So frech“ seien die Sprayer geworden, sagt Förster, 43, gegelte kurze Haare, breites Lachen, dass sie sogar die Zugkehre direkt neben der Wache bemalten. „Bis wir da sind, haben wir nur noch ein schönes Bild vor uns.“

Ansonsten sind es hauptsächlich „alte Bekannte“, die die beiden auf ihren Einsätzen am südlichen und östlichen Ring treffen, sagen sie, meist jugendliche Mehrfachtäter. „Die diskutieren wahnsinnig gerne.“ Hin und wieder müssen sie auch eine der beliebten Ringbahnpartys auflösen, Bier auf Bollerwagen, ein paar Dutzend Kids, Musik. Der Ring ist eine Szene für sich, unter der Woche Pendlerbahn, an Frei- und Samstagen Partyzug und Club-Zubringer. Ohne Bierflasche in der Hand fällt im Sommer selbst die Zivilstreife auf. Und ab zwei Uhr nachts kommt dann die Zeit einer ganz bestimmten Tätergruppe. „Diebstahl zum Nachteil Schlafender“ heißt es im offiziellen Polizeisprech, wenn die dösenden Helden der Nacht in der Ringbahn ihrer Habseligkeiten beraubt werden. Insgesamt aber sei der Ring sicher. 2012 wurden 3 028 Delikte verzeichnet, davon 634 Diebstähle – bei gut 300 000 Fahrgästen an Werktagen.

Förster und Brunner trinken ihren Kaffee aus großen Tassen und erzählen in entspannter Haltung. Oberboss Joachim Gauck schaut derweil mit mildem Lächeln von der Wand aus zu. Gute Story: wie sie einmal einer abreisenden türkischen Familie den Koffer mit Reisepässen wiedergebracht haben – gefunden von einer türkischen Familie in Neukölln. Oder der liebeskranke Gymnasiast vom Bundesplatz, den sie nach gutem Zureden wieder aus den Gleisen begleiten konnten.

Plötzlich aber sitzen die beiden kerzengerade da, Augen weit offen, und halten sich an den Taschen ihrer Schutzwesten fest. Bedrohung der Gedanken. „Der Tote hier oben“, sagt Förster und senkt den Blick. Letzter Juni, ein Mann springt seinem Rucksack hinterher ins Gleisbett, die einfahrende Ringbahn sieht er nicht. Hilflose Retter. „Der hat geschrien, aber wir konnten auch nichts machen.“ Förster schüttelt den Kopf. „Selbst die Feuerwehr nicht, die haben noch zwei Stunden versucht, ihn zu befreien. Aber die konnten den Zug ja auch nicht wegdrücken.“ Brunner beugt sich wieder nach vorne, sagt: „Man spricht mit anderen darüber, klar. Aber man lässt es nicht an sich heran.“

Oben auf dem Bahnsteig dann, beim Fototermin, rollt ausgerechnet ein zugesprühter Zug hinter den Polizisten ein. Sie können, müssen wieder lachen, besser hätte sich selbst Förster die Pointe nicht ausdenken können.

DER LOKFÜHRER

„Wollen Sie noch mit?“, fragt der Mann im blauen Wollpulli, mit einem Bein im Führerhäuschen, drei rote Streifen auf der Schulterklappe, Mikrofon in der Hand. Begrüßendes Lächeln. Klaus Rühmann, „Baujahr sechsnfuffzich“, aktuell praktischerweise genauso alt, lädt ein in sein zweites Zuhause. Mitfahrt im Führerstand, Baureihe 480, Berlin-West, ausgeliefert 1987. Vor Rühmann: braune Armaturen, runder Tacho, bunte Knöpfe und der doppelte Schubregler in Messing, links Tempo, rechts Bremse. Rühmann, das wird sofort offensichtlich, hat hier ein Zimmer mit Panoramaausblick, kein Vergleich mit den wenigen Fetzen Berlin, die hinten am hundsgewöhnlichen Fahrgast vorbeifliegen. Hier vorne ist der Horizont breit, fast 180 Grad. „Diese Freiheit“, sagt Rühmann und beschleunigt, „das ist es. Ich bin alleine, keiner redet mir rein.“ Nicht dass er ein Eigenbrötler wäre, im Gegenteil. Die täglichen Begegnungen mit den Reisenden sind ihm wichtig. Ein kommunikativer Mensch wie er ist hier richtig. „Wir sind nun mal Dienstleister, schon immer gewesen.“

Auch Eisenbahner war Rühmann schon immer. Mit seinen Geschwistern spielte er Bahnhofsabfertigung, schon als Kind in der zugigen Altbauwohnung in der Hauptstadt der DDR. „Die S-Bahn ist meine S-Bahn, schon immer gewesen“, sagt Rühmann. Er fühlt sich verantwortlich, er ist es. „Deswegen tut mir das in der Seele weh.“ Was? Nun, das, was in diesem Text bisher kaum Thema war: die Verspätungen, die Ausfälle, die Beschwerden. Mit einem Achsbruch ging es im Mai 2009 los, seitdem ist die S-Bahn in der Krise, die Kunden murren, noch immer fahren nicht so viele Züge wie laut Verkehrsvertrag vorgesehen. Für die Zeit ab Dezember 2017 ist das „Teilnetz Ring“, auf dem Lokomotivführer Rühmann gerade mit knapp 70 Sachen unterwegs ist, öffentlich ausgeschrieben. „Ich bin ja selber davon betroffen“, sagt Rühmann über den Ruf der S-Bahn, die einst der Stolz der Berliner war. „Wir machen täglich unsere Arbeit, so gut es geht. Aber wir sind abhängig von anderen. Wir wollen rollen und wir können nicht rollen.“ Das Leiden des Lokführers.

Das Fahren an sich ist immer schon das Gleiche gewesen, links Schub, rechts Bremse, Signale beachten, zurückbleiben bitte, doch drumherum ist alles anders. Als Klaus Rühmann anfing, 1976, war er Angestellter der Reichsbahn und steuerte seine Züge durch ein anderes Land. Leichtere Arbeit damals, mehr Züge, kleinere Strecke, weniger Stress. Klarer sozialistischer Ablauf, Berufsverkehr von fünf bis sieben und wieder von drei bis fünf. „Dann war Ruhe.“

Am weiten, weiten Tempelhofer Feld vorbei rauscht der Zug, auf seinem ewig gleichen und immer anderen Weg, Richtung Neukölln. „Berlins größter Fernsehdienst – durch ihr Vertrauen“: Brandwandwerbung aus einer verlorenen Zeit.

Eines Morgens kommt der DDR-Bürger Rühmann ins Betriebswerk Grünau – und keiner ist da. Alles sitzt in der Kantine, schart sich um einen Kollegen, der neben einem Sixpack Kindl hockt und mit großen Augen von drüben erzählt. „So habe ich mitbekommen, dass die Mauer weg ist“, sagt Rühmann, strahlendes Lachen. „Die Tage und Wochen danach, das war krass, eine tolle Zeit.“ Rund um die Uhr sind sie gefahren, die Züge rappelvoll, die Menschen feierten die Freiheit, die Rühmann da vorne immer schon erahnt hatte.

Nicht alles ist seitdem anders, aber einiges besser geworden. Im totalitären System ging der Einzelne unter. „Wenn du einen überfahren hast, bist du weitergefahren.“ Ihm selbst sei das zum Glück nie passiert. Heute ist Rühmann als Teamleiter verantwortlich für 70 andere Lokführer. Wenn etwas passiert, macht er sich auf den Weg. Wie oft passiert etwas im Jahr? Keine Zahlen von Bahnseite. Von Klaus Rühmann aber jetzt die Versicherung: „Die Kollegen sind nicht alleine.“ Und: „Wir sorgen dafür, dass sie wieder ins Rennen kommen.“

Mit Rühmann vorne im Zug rauscht die Stadt schnell vorbei, 80 Kilometer pro Stunde fährt er jetzt, echte Berliner Geschwindigkeit. „Kennen Sie den Passauer Dom?“ fragt Rühmann, während der Zug am Ostkreuz langsam zum Stehen kommt. „ 500 Jahre Bauzeit – als man vorne fertig war, fing man hinten schon wieder an zu renovieren. Da wird immer ein Baugerüst dranstehen. Das ist für mich Berlin.“ Einen, der noch nie hier war, würde er einfach mitnehmen auf eine Runde, erklärt Rühmann abschließend. „Komm mit!“, würde er sagen. „Ich zeig dir mein Berlin!“

Nur noch das letzte Viertel Ring ist übrig, das Viertel der großen Alleen: Frankfurter, Landsberger, Greifswalder, Prenzlauer, Schönhauser. Vom Friedrichshain hinauf auf den Prenzlauer Berg. Kaputte Baracken, glänzende Hotels, spiegelndes Velodrom. Von den Schlachthöfen an der Storkower Straße ist kaum etwas übrig, wo früher Rinder versteigert wurden, ist nun ein Radhaus. Immer wieder auch die Irren auf den Bahnsteigen. Reden, brabbeln vor sich hin, die hilflos Betrunkenen, am hellichten Tag. Der Ring ist wie ein Magnet für sie, vielleicht, weil er ihrem Leben entspricht. Einsteigen, endlos fahren, und nie ankommen.

Ich zeig dir mein Berlin. Welches Berlin eigentlich – ist das die Frage? Vielleicht aber ist es auch bereits die Antwort. Denn unter Umständen ist ja gerade dies das Besondere: dass jeder sich sein Berlin immer wieder neu erkämpfen kann, neu erkämpfen muss, die Reisenden, stumm oder grölend, missmutig oder ausgelassen, der Lokführer, immer die surrende Freiheit im Kopf, die schunkelnden Party People, die Beamten, die Irren und die Sprayer. Brunner und Förster, Rühmann und jmk. Am Ring kommen sie alle zusammen und trennen sich wieder – Tag für Tag aufs Neue. Wem gehört Berlin, wem gehört der Ring?

Nun, wem nicht?

DER DICHTER

Der Mann in der Daunenjacke, zerzauste blonde Haare, schaut aus eisblauen Augen. „Möchten Sie ein originelles Gedicht hören?“ Omit nennt er sich, „so heißt mein Name rückwärts“, sagt er. Obdachlos ist er nicht, anders als die Motz-Verkäufer, mit denen er meist verwechselt wird. Eine „psychiatrische Vergewaltigung“ hat er dafür hinter sich, wie er sagt, angezettelt vermutlich von seinem Vater, so genau weiß das Omit nicht mehr. Seine kleinen Verse trägt er auf handgeschriebenen Zetteln mit sich. Jeden Tag ist er am Ring unterwegs, morgens halb acht, abends halb acht, obwohl ihn die Bahner nicht haben wollen. Er zahlt die tägliche Verkaufsgebühr von 30 Euro nicht. Doch unverdrossen führt er seinen Kampf gegen die Windmühlen des Alltags, der Vernunft.

Eine junge Frau in dickem Wollschal ist interessiert. „Ich liege neben den Versuchen“, hebt Omit an, „überlebenslang – hinaus, zwischen den Händen und Beinen, meines Tages, ohne Sein. Denn auch dieses Lied ist wie ein Ring, jedes Mal, wenn es gelesen wird, passt es sich perfekt der Situation an.“ Die Frau im Wollschal will nicht zahlen. „Okay, danke“, sagt Omit, lächelt und steht auf. An der Tür kommt sie ihm nach. „Aber du hast voll die schöne Stimme, du solltest Märchenerzähler werden.“ Beim Aussteigen schaut der Dichter prüfend in den Himmel. „Märchenerzähler, warum nicht? Originelle Märchen, ja, vielleicht sollte ich mal Märchen schreiben.“

Abschied von Omit. Am Ende soll es nun noch einmal in die Kneipe gehen. „Molle und Korn 2,50 Euro“, so die klare Ansage auf einer Tafel vor der Gaststätte „Nordring“. Stargarder Straße, Ecke Greifenhagener. Hier hörte der Ostring einst auf. Im Niemandsland zwischen dem S-Bahnhof Schönhauser Allee (DDR) und S-Bahnhof Gesundbrunnen (BRD) kamen fünf Menschen ums Leben. Heute ist alles schön bunt. Eine Eisenbahnerkneipe inmitten von Antikläden, Pizzerien und Babyshops.

Hinter dem Tresen ist das Reich von Heiner, Schnurrbart, Pullover, gerötete Haut. Hinter seinem Rücken das Schild: „Legt euer Geld in Alkohol an – wo sonst gibt es 40 %?“ Gleicher Muff wie in der „Haltestelle“, eine halbe Ringumdrehung weiter westlich. Beruhigend, dass beiderseits der Mauer die gleichen Kneipen überlebt zu haben scheinen. Von den rot-gelben Zügen, die hier an jeder Wand hängen, will Heiner nichts wissen. „Ach, die S-Bahn, die hat ja so viele Minuspunkte, die letzten Jahre waren ja unter aller Sau, na hallo!“ Heiner guckt grimmig. „Nee, mit der S-Bahn hatten wir noch nie was zu tun!“ Warum genau die Kneipe dann heißt, wie sie heißt, und aussieht, wie sie aussieht, ist an diesem Abend nicht mehr herauszufinden. Heiner tanzt lieber zu Nena. „Irgendwie, irgendwo, irgendwann.“ Draußen liegt dunkel die Stadt, und der Barmann bringt es auf den Punkt: „Hauptsache, der Hahn läuft!“

Der Korn verwischt den Rest des Abends. Hassgeliebter Ring, hassgeliebtes Berlin, wieder und wieder aufs Neue, Runde für Runde, jeden Tag. Dies war ein langer. Zeit, nach Hause zu fahren. (Tagesspiegel)

Ick könnt mir dauernd küssen!

Am Anfang steht direkt eines dieser klassischen Berliner Probleme. Den ausgemachten Treffpunkt, das „Süße Café“ in der Grüntaler Straße, gibt es nicht mehr. „Vor sechs Wochen bin ich noch dran vorbeigelaufen“, sagt Steffen Greschner. Kurzes Achselzucken und der schnelle Alternativvorschlag: Die Eckkneipe „Zum Dicken“, 50 Meter weiter. Dort angekommen sagt Greschner: „Genau darum bin ich gerne in Berlin.“ Anfang Januar hat er zusammen mit seiner Mitstreiterin Anja Prüfer das Blog „Unnützes Berlinwissen“ ins Leben gerufen. Die Seite macht sich gut, bei Facebook hat sie nach drei Wochen bereits mehr als 300 „Gefällt mir“-Angaben.

Besucher können sich an kleineren und größeren Geschichten über die Stadt erfreuen, sie lernen zum Beispiel, dass Berlins kleinstes Haus in der Kreuzberger Oranienstraße steht und das Vorbild für das Brandenburger Tor in Athen.

Und dass die Berliner Ortszeit eigentlich 6:22 Minuten hinter der Mitteleuropäischen Zeit hinterherhinkt. Offizielle Selbstbeschreibung der Seite: „Die große Stadt und die vergessenen Geschichten dahinter. Skurriles und Geschichtsträchtiges. Blödsinn und Erstaunliches. Zeug, das keiner wissen wissen muss. Unnütz vielleicht. Berlin eben.“

„Die kleinen, teils amüsanten Geschichten im historischen Kontext“, so fasst Greschner das zusammen, amüsante Zitate sind auch mit dabei. Wie das des Schriftstellers Jean Paul, wonach Berlin „mehr ein Weltteil als eine Stadt“ sei. Am besten beschreiben ließe sich der Inhalt der Seite, sagt Greschner, unter dem Label Kneipenwissen. Das „Wusstest-du-eigentlich?“, wie es tagtäglich auch hier im „Dicken“ im Dunst der Zigaretten ausgetauscht wird.

Das Team steht dabei für die Dualität der Großstadt. Prüfer, 29, ist die Alteingesessene, in Weißensee aufgewachsen, nun Weddingerin. Und Greschner, nun, der kommt ursprünglich aus Stuttgart, was natürlich sofort auch Thema ist. Weil es immer Thema ist. „Es ist nicht böse gemeint“, sagt der 32-Jährige und verdreht die Augen, „aber es nervt, wenn jedes Mal ein Spruch oder ein Witz über die Schwaben kommt.“

Auch aus diesem Grund: Das Blog. „Es ist auch ein Bildungsprojekt“, sagt er. Denn das Attribut „unnütz“ ist natürlich teils ironisiert, wie das in der Generation der beiden unerlässlich ist, damit sich überhaupt jemand dafür interessiert. „Das ist wohl auch so eine Facebook-Sache“, sagt Greschner. „Das leicht Provozierende spricht und zieht die Leute eher an.“

Provozierend scheint auch die Anwesenheit der kleinen Gruppe aus Bloggern, Reporter und Fotograf zu wirken, einer der Stammgäste ruft dazwischen: „Euch Touristen kann er ja knipsen! Aber ich will nicht auf Seite eins landen.“ Wenn das so weitergeht, qualifiziert sich der ältere Herr gleich noch für die Kategorie „Jeplapper“, die den beiden besonders ans Herz gewachsen ist. Dort finden sich typische Altberliner Sprüche. So wie: „Ick find mir hübsch, ick könnt mir dauernd küssen“ oder auch „Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode“. Unwiderlegbar überdies die Weisheit: „Säufste – stirbste. Säufste nich – stirbste ooch. Also säufste.“

Vieles davon stammt aus der lebenslangen Berlin-Erfahrung der Frau im Team, die sagt: „Ich bin ja hier groß geworden, im Spreewasser getauft und so weiter, das meiste kenne ich also selbst.“ Greschner ist in dieser Rubrik eher seliger Empfänger: „Das meiste ist mir neu und ich könnte mich wegpacken.“

Die Berlinerin und der Schwabe, sie ergänzen sich ganz gut. „Er ist immer so korrekt“, flüstert sie, als er von dem Impressum des Blogs erzählt. „Ja, und ich achte auch darauf, dass jedes Foto lizenzfrei ist“, sagt er. Eine Abmahnung über ein paar Hundert Euro könne schließlich schnell das Ende des Spaßprojekts bedeuten. Sicher, irgendwann mal ein paar Euro zu verdienen mit dem „Berlinwissen“, sei keine schlechte Sache. „Vielleicht ein Freitagabend-Kneipentipp für 20 Euro oder einen Abend Bier oder was auch immer“, sagt Greschner.

Doch das alles hat Zeit und die wollen sie ihrer Seite auch geben. „Lieber an den kleinen Punkten genauer hinschauen“, sagt Greschner. „Sonst kommt nur etwas Hektisches heraus. So eine Kneipe wie hier, die sehe ich ja gar nicht, wenn ich nur vorbei hetze zur Haltestelle, zur nächsten Gästeliste.“

Quasi im Vorbeischlendern also stoßen die beiden auf die skurrilsten Fakten. Dass in Reinickendorf Europas größte Fabrik für Fertigpizzen steht, eine halbe Milliarde Euro Jahresumsatz. Und dass Joseph Goebbels und Walter Ulbricht mal gemeinsam auf einer Rednerbühne standen, 1932, beim BVG-Streik, zu dem NSDAP und KPD aufgerufen hatten.

„Schon der Wikipedia-Eintrag über die Kastanienallee gibt drei, vier schöne kleine Geschichten her“, sagt Greschner. „Dass dort beispielsweise die ersten Filmaufnahmen Deutschlands gemacht wurden, weiß wahrscheinlich niemand.“

Am Schluss noch ein Praxistest für die Macher. Klassische Berliner Schule. Wie nützlich ist es zu wissen, an welcher Seite des U-Bahnhofs man aussteigen muss? Prüfer sagt schnell: „Ist doch egal, ob man den Weg vorher oder hinterher läuft.“ Greschner widerspricht: „Wenn ich nach Hause fahre, lauf ich immer vorher schon dorthin, wo ich raus muss.“ Verblüffend: Der Schwabe als besserer Berliner, wer hätte das gedacht! (Tagesspiegel)

Goldringe am Boden

„Fünf Minuten Stadt“ (Tagesspiegel)

Der Weg zum Bargeld macht Frieren, bitterer Wintermorgen. Der Wind jagt die leere Torstraße in Mitte hinauf. Tür auf zum Vorraum der Bank. Hier drinnen: volles Haus, Nachtlager der Obdachlosen. Ein Mann mit St.-Pauli-Kutte sitzt auf den Steinstufen, neben ihm schläft ein anderer mit auf die Brust gesunkenem Kopf, hinter den beiden noch zwei volle Schlafsäcke. Am Automaten: eine Frau mit Perlen im Haar. Der Mann mit der Kutte, schleppende Sprache der Betrunkenen, will von ihr wissen, wo sie herkommt. Sie zögert, schweigt. Sagt dann: „Karibik! Trinidad and Tobago.“ Er nickt, wie in Zeitlupe. Die Frau dreht sich zum Automaten, dann abrupt wieder zurück.

„But why?“, fragt sie, etwas lauter als zuvor, in seine Richtung. „Warum?“ Er versteht die Frage nicht. „Why you doing this?!“ Sie klingt nun ehrlich entsetzt, schaut sich um, deutet mit der Hand zu den Schlafsäcken. Er schaut sie mit leeren Augen an. „Why you sleeping-on-this-floor?!“ Sie geht schreiend in die Knie, hämmert bei jeder Silbe ihre Fingerknöchel auf den Steinboden. Goldringe klackern. Sie lässt ihn nicht antworten, er versucht es auch kaum. „Warum kein Geld von Jobcenter?! Du! He?!“, schreit sie, gestikuliert mit der einen Hand und hämmert mit der anderen wild auf den Automaten ein, der rattert und ein paar Scheine ausspuckt. Sie hält sich den Zeigefinger quer unter die Nase. „Oh my God. You people make me sick.“ Dann stößt sie die Tür auf, weinend, und die eisige Kälte der Stadt pfeift herein.

Zu Gast in Schwabylon

– Beim Weckenbäcker gibt es alles – außer Zuzügler (Tagesspiegel)

Am Türknauf krallen sich zwei Löwen in einer Brezel fest. Neben dem Eingang prangt die Angebotstafel: „Neu! Chai Latte, 2,- EUR“. Prenzlbergiger geht nicht. Und schwäbischer auch nicht.

„Schwäbische Bäckerei“ steht schlicht über der hohen Fensterfront, Prenzlauer Allee Ecke Danziger Straße, Einflugschneise der Zugezogenen, nur ein paar Straßen liegen Helmholtz- und Kollwitzplatz, die pulsierenden Herzen des sagenumwobenen Schwabylon, auseinander. Kein Wunder, dass Wolfgang Thierse es hier kaum noch auszuhalten scheint. Jetzt haben sie schon ihre eigenen Backstuben.

„Hallo.“ Die junge Verkäuferin ist allein. Um sie herum: weiße Wände mit rosa Bordüren, gekachelter Boden, eine große gläserne Auslage mit marmoriertem Umlauf.

Darunter die Backwaren. Auf den Plastikschildchen: Nußschnecke (mit ß), Schweinohr (ohne e), Kameruner, Kirschplunder, Käsekuchen. Schwäbische Bäckerei? Gibt es denn hier auch was Schwäbisches? „Ja“, sagt die Bäckersfrau und zeigt auf ein kleines Brötchen. „Schwabenecke“ steht da. Eine Art Schrippe, sie sieht etwas verschrumpelt aus.

Badisches Brot weiß die Verkäuferin noch anzupreisen, „ist etwas würziger im Geschmack“. Ob sie selbst aus Schwaben kommt? „Nein, aus Lichtenberg.“ Und der Besitzer, ist der Schwabe? „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er mehrere Sprachen spricht.“ Wer weiß, vielleicht ist ja auch Schwäbisch darunter. Darauf erst mal einen Chai Latte, bitte!

Die Filiale versprüht Tchibo-Charme. Kleine runde Tischchen mit roten Plastikdecken, Topfprimeln aus Plastik. Auf den Ablagen rote Servietten, ein Aufkleber mit zwei grinsenden Pfannkuchen: „Echt heiß… Wir haben in Biskin gebadet.“ So stellt man sich gemeinhin eine Bäckerei vor – eine gute, alte Berliner Bäckerei.

Draußen rauscht hektisch die Stadt vorbei, auf dem Rad, im Auto oder in der Tram. Hier drinnen: gähnende Leere. Wo sind die Kunden, die hungrigen Schwaben? „Normaler Andrang“, sagt die Bäckersfrau. Der Chai Latte ist schon halb leer, da kommt endlich einer. „Zehn Schrippen, bitte.“ Wie bitte? Entschuldigung, wo kommen Sie her? „Na, Berlin, sehense doch.“ Die Frage nach Wolfgang Thierse schneidet der Mann gleich ab. „Hören Sie mir auf mit die Politiker“, brummt er, der Berliner reinen Wassers, winkt ab und ist schon durch die Tür verschwunden.

Der Chai Latte ist leer. Wo sind die Kinderwagen-Muttis, die stark schwäbelnd ihre Weckle bestellen, wo die schnöseligen Stuttgarter, die den armen Hartz-IV-Berliner in die Randbezirke verdrängen? Da steht er plötzlich da: Daunenjacke, Röhrenjeans, Dreitagebart, das ist er, das muss er sein, der Pornohippieschwabe. Klassische Ausfertigung. Und bestellt auch gleich drei Schwabenecken. Kurze Zwischenfrage: Sie sind Schwabe, oder? Der Mann mit der Mütze lächelt. „Nein, aus Thüringen.“ Und die Schwabenecke? „Na, die könnte ja auch ‚Berliner Ecke‘ heißen, ich kauf die nur, weil sie schmeckt.“ Immerhin kennt der Mann ein paar Schwaben: „Jaja, aber keine, die in Berlin wohnen.“

Wir verlassen die „Schwäbische Bäckerei“. Mit der Hand am Messinglöwen ein letzter Gedanke: Der Berliner Schwabe ist, wenn es ihn hier in dieser Gegend gibt, einen Tag nach Neujahr wohl noch zu Hause bei Familie und alten Freunden, in Esslingen oder Obertürkheim, er sitzt allenfalls im ICE zurück in die Wahlheimat. Oder er kauft seine Weckle bei Kamps.

Respekt am Grill und auf dem Platz

– Der Berliner Fußball-Verband müht sich um Integration – immer wieder kommt es zu Rassismus und Gewalt

Berlin (dapd). Die Frau im Kopftuch wird freudig begrüßt, kurz darauf brutzelt saftiger Sis Kebab neben goldenen Maiskolben auf dem Grill, dazu gibt es deutschen Kartoffelsalat. Und dann beginnt das Spiel, das die afrikanischen, türkischen oder deutschen Eltern der Nationalspieler vor dem Fernseher verfolgen. „Mas Integracion“, der Imagefilm des DFB war vier Jahre lang vor jedem Länderspiel zu sehen und ist sicher einer der meistgesehenen TV-Spots aller Zeiten.

Eine multikulturelle Nationalelf eines perfekt integrierten Landes – die Realität ist wie so oft ein bisschen weniger bunt und schön als der Film. So brach nach der EM eine krude Debatte über das Mitsingen der Hymne von Spielern mit Migrationshintergrund los.

In Berlin, wo am Donnerstag Bundeskanzlerin Merkel mit deutschen Fußballgrößen die Integrations-Initiative „Geh Deinen Weg“ vorstellt, sind rund 40 ethnische Fußballvereine angemeldet. Sie heißen BSV Hürtürkel, FK Srbija, SD Croatia oder SC Al-Quds. Im Liga-Alltag kommt es immer wieder zu Gewalt und Rassismus, von deutschen Vereinen gegen Migrantenklubs – oder von verfeindeten Ethnien gegeneinander. So wurden Anfang Juni ein Spieler und der Trainer von Hürtürkel nach antisemitischen Beleidigungen gegen den jüdischen Verein TuS Makkabi mit mehrmonatigen Sperren belegt, der Verein erhielt eine Geldstrafe und Punktabzug.

Alexander Sobotta leistete viereinhalb Jahre im Integrationsprogramm des Deutschen Fußball-Bund (DFB) Pionierarbeit, der 34-Jährige ist jetzt selbstständig im Bereich „Diversity Management“ tätig. Für seine Diplomarbeit besuchte er türkische Vereine in Berlin. Sein Fazit fiel „differenziert“ aus. Es gebe Klubs, die sich öffnen wollten und Sozialarbeit leisteten, sagt er, bei Türkiyemspor spielten Fußballer aus rund 20 Nationen. Aber es gebe auch Gegenbeispiele. „Gerade kleinere Vereine sind immer noch Anlaufstellen für Menschen aus der gleichen Herkunftsregion.“

Das bestätigt Bernd Schultz, der Präsident des Berliner Fußball-Verbandes (BFV). Problematisch sei vor allem, die Vereinsvertreter dazu zu bewegen, für Ämter und Gremien zu kandidieren. „Oft konzentrieren sie sich sehr auf sich. Ich sage immer, ‚Leute, bringt euch ein‘, aber sie kapseln sich ab.“ Häufig käme ein Sprachproblem dazu, obwohl Spieler und Betreuer meist schon in der dritten Generation in Deutschland lebten. „Es vermischt sich aber erfreulicherweise mehr und mehr“, sagt der 54-Jährige der dapd.

Zwtl.: Ehrenamt unter Migranten rasant ansteigend

Das ehrenamtliche Engagement unter Migranten ist im Fußballbereich derweil rasant im Anstieg. Von 2007/08 bis 2009/10 wuchs ihr Anteil an der Gesamtzahl laut „Sportentwicklungsbericht“ des DOSB von 7,2 auf 13 Prozent – fast zehn Prozent mehr als im Gesamtsport. Zum Vergleich: 19 Prozent der DFB-Mitglieder haben einen Migrationshintergrund. In Berlin sitzt der Deutsch-Türke Mehmet Matur als Integrationsbeauftragter im Verbandspräsidium. „Er kennt Gott und die Welt bei den Vereinen“, sagt Sobotta.

In der Vergangenheit war der BFV für schleppende Aufarbeitung von Gewalt- und Rassismusfällen kritisiert worden. Das harte Urteil gegen Hürtürkel in diesem Jahr soll auch Symbolwirkung entfalten. „Wir haben die Regeln erheblich verschärft. Wir erwarten Respekt voreinander auf den Plätzen“, sagt Präsident Schultz.

Dass es unter Migranten eine höhere Gewaltbereitschaft gebe, wie oft unterstellt wird, verneint er. „Wir haben das von der Uni Potsdam untersuchen lassen. Sie haben genau so viele Deutsche, die ausrasten, wie Personen mit Migrationshintergrund.“ Er betont jedoch auch, dass es sich bei Einwanderern der dritten Generation auch um Deutsche handele: „Das sind ja keine Leute aus Anatolien, sie sind hier geboren und aufgewachsen. Da hat die Gesellschaft etwas verpasst. Wir als Sport sind nicht der Reparaturbetrieb.“

Separate Ligen sind für Bernd Schultz keine Lösung. „Wir müssen in einer Weltstadt wie Berlin die vielen Kulturen und Nationen in den Vereinen unter ein Dach bekommen.“ Aber auch der Dachverband sei gefragt: „Es muss Aufgabe des DFB bleiben, sich dieser gesellschaftlichen Themen auch weiterhin anzunehmen.“ Multi-Kulti-Grillfeste sind im Berliner Verband übrigens bereits Realität, auch wenn sie bei Problempaarungen unter Umständen vom BFV verordnet werden – Integration auf Befehl sozusagen.

Die Rückkehr des Königs

– Arthur Abraham ist nach überzeugender Leistung erneut Boxweltmeister

Berlin (dapd). Während der neue Weltmeister Arthur Abraham hoch oben auf den Ringseilen stolz seinen funkelnden WM-Gürtel präsentierte, mühte sich sein Promoter abseits des Geschehens um Fassung. Ja, er sei sehr nervös gewesen, nervöser noch als gewöhnlich, gestand Wilfried Sauerland mit belegter Stimme, und zwei kleine Schweißtropfen platschten ihm wie zur Bestätigung aufs Revers. „Erst ab der fünften Runde habe ich mich etwas zurückgelehnt, weil ich merkte, dass Arthur das Ding in der Tasche hat.“

Abraham, 32 Jahre alt, ist seit Samstagabend Boxweltmeister im Supermittelgewicht. Nach teils desaströsen Erfahrungen in dieser Gewichtsklasse hat der ehemalige Mittelgewichts-Champion sich selbst und sein Umfeld versöhnt. „Wir waren sehr weit unten, und heute Abend sind wir wieder ganz, ganz oben“, schwärmte Manager Kalle Sauerland, der Sohn des Promoters. „Die letzten beiden Jahre waren eine harte Zeit, ich habe viele Tiefschläge erlebt“, sagte Abraham. „Jetzt bin ich glücklich.“ Arthur Abraham hat der Last der Erwartung an diesem Abend in Berlin gegen den zähen Robert Stieglitz standgehalten und einstimmig und eindeutig nach Punkten gewonnen.

„Wenn das anders gelaufen wäre heute, ich weiß nicht, wie ich aus dem Tief wieder rausgekommen wäre“, gab sein Trainer Ulli Wegner unumwunden zu. „Arthur hat heute die taktische Linie verfolgt, die wir festgelegt hatten“, lobte der Coach. „Wenn er das macht, kann bei ihm nichts schiefgehen.“

Abraham hatte sich, Teil eins der Taktik, gleich in der ersten Runde mit mutigen Angriffen Respekt verschafft. Stieglitz versuchte mit- und zurückzuschlagen, aber er bekam zunehmend Respekt vor den wuchtigen Haken seines Gegners, er lief ihm auch zunehmend in Konter. Abraham startete außerdem, dies Teil zwei des Schlachtplans, zur Rundenmitte stets eine kleine bis mittelgroße Offensive. Zweite Rundenhälfte gewinnen, beeindruckende Schläge landen, das bedeutet bei den Ringrichtern ja meist: Ganze Runde gewonnen. „Ja, genau das haben wir trainiert“, sagte Wegner.

„Für mich haben Kleinigkeiten den Punktsieg ausgemacht“, sagte Trainer Dirk Dzemski stellvertretend für seinen Schützling, dessen tiefe Cuts nach dem Kampf noch versorgt werden mussten. „Ab der siebten Runde hat er auf dem linken Auge nichts mehr gesehen.“ Am Sieg Abrahams gebe es nichts zu rütteln, sagte er weiter.

Man konnte hinterher mutmaßen, dass Stieglitz schon beim Einmarsch klar wurde, dass der ganze Abend eine Nummer zu groß für ihn war. Die Arena stand klar auf Seite Abrahams, der Magdeburger aus dem kleinen SES-Stall wirkte nicht nur wegen des Einmarsch-Schlagers von DJ Ötzi ein wenig deplatziert in der weiten Glitzerwelt der Hauptstadt, in deren größter, modernster Halle geboxt wurde. Es muss auch dem 31-Jährigen daher früh klar geworden sein, dass das kein Abend war, der auf eine Titelverteidigung ausgelegt war, sondern auf eine Titeleroberung.

„Robert wurde auf keinen Fall deklassiert“, wollte Promoter Ulf Steinforth klargestellt wissen, als zu später Stunde um die Ausdeutung der Niederlage gefeilscht wurde. Nach einigen Zwischenkämpfen soll er ja vertragsgemäß die Revanche gegen Abraham erhalten.

Dieser wiederum soll zunächst am 15. Dezember in Nürnberg boxen. Ob der Gegner dort eventuell Felix Sturm lautet, der sich vor dem Kampf offensiv ins Spiel gebracht hatte, blieb offen. „Naja, er wird sich das heute angeschaut haben“, sagte Kalle Sauerland mit leicht hämischem Blick, „und jetzt wird er sich das sicher noch mal überlegen.“

Irgendwann, da war es Liebe

– Hertha vor der Relegation: Ein Treffen mit Ex-Stürmer Karl-Heinz Granitza an der Wiege des Vereins

Berlin (dapd). Wer versuchen will, den Fußballverein Hertha BSC zu verstehen, der muss dahin gehen, wo er herkommt. Dahin, wo es wehtut. Berlin, Ortsteil Wedding. Gesundbrunnen, Ecke Behmstraße. Hier, wo die Spielkasinos blinken und die Kampfhunde knurren, wo ein gigantisches Einkaufszentrum jede Aussicht nimmt, da ist dieser Klub ursprünglich zu Hause. Wedding, Paradies der Proletarier. Zweihundert Meter von hier stand bis zum Abriss 1974 Herthas Stadion, die „Plumpe“. Hertha spielt nun im Olympiastadion im feinen Charlottenburg.

Von damals übriggeblieben ist die ehemalige Vereinsgaststätte, der „Bierbrunnen an der Plumpe“. Eine dieser Kneipen, vor denen einem schon der abgestandene Kippengeruch entgegenkommt, bei dem man sich immer fragt, ob es eher muffiger Rauch oder rauchiger Muff ist. Es ist eine dieser Kneipen, in denen mittags um zwei schon mächtig was los ist. Ein Mann mit rotem Gesicht und eine aschfahle Frau spielen Billard, die runde Theke ist schon recht ordentlich besetzt. Man trinkt hier sein Bier aus Tulpengläsern.

Karl-Heinz Granitza sitzt an einem Tisch in der Ecke. Über ihm: Herthas letzte Meistermannschaft von 1931. Neben dem Team ein Betreuer mit riesiger Schiebermütze, Lederkoffer in der Hand. Granitza trinkt wie alle aus der Tulpe. „Fassbrause“, sagt er gleich als Erstes. Fassbrause! Ein Ur-Berliner Getränk. Granitza, der in den goldenen Siebzigern für Hertha 34 Bundesliga-Tore geschossen hat, könnte man für einen dieser Ur-Berliner halten. Er ist zwar im Ruhrgebiet aufgewachsen, aber Hertha ist seine Heimat. Und der 60-Jährige besitzt die wichtigste Eigenschaft des Berliners: Er kann ganz vorzüglich motzen.

„Was waren wir früher für eine unglaubliche Heimmannschaft“, sagt er. „Und heute?“ Granitza gibt sich die Antwort selbst. „Heute ist es den Spielern doch größtenteils scheißegal, ob sie zu Hause oder auswärts spielen. Die werden erst nach der Karriere merken, wie stolz sie hätten sein sollen, in diesem Stadion zu spielen.“

Das macht ihn jetzt echt wütend. Am Donnerstag kommt Fortuna Düsseldorf zum Relegations-Hinspiel, und daheim hat Hertha erst vier Spiele gewonnen diese Saison. „Vier Spiele!“, ruft Granitza. Die Leute am Tresen würden schon gucken, wenn nicht Andrea Berg so laut aus der Jukebox schlagern würde. Granitza schiebt seine Brille die Nasenwurzel hoch, er ringt um Worte und schaut aus dem Fenster.

„Irgendwann, da war es Liebe“, schallt es durch den Raum, „vielleicht sogar ein bisschen mehr“. Das Billard-Pärchen schunkelt ein bisschen. „Meine heimliche Liebe war immer Hertha BSC“, sagt Granitza leise. „Wenn die mich nicht damals hätten verkaufen müssen, ich wäre nie weggegangen.“ 1979 wechselt der Stürmer in die USA, für 1,2 Millionen Dollar, wie er sagt. Bei Chicago Sting wird er zum Soccer-Helden, den Hall-of-Fame-Ring trägt er stolz an der rechten Hand. Erst 1990 kehrt er zurück nach Berlin, zu seiner Liebe Hertha. Aber ein Leben mit dieser Liebe war noch nie ein einfaches.

Granitza sagt: „Michael Preetz hat so viele Fehler gemacht, dass es beängstigend ist, dass wir noch die Relegation erreicht haben.“ Er schüttelt den Kopf. „31 Punkte! Was ein Glück, dass der Kölsche Klüngel noch schlimmer war als wir.“ Jetzt ist er bei seinem Thema: Herthas Führungsschwäche. Präsident Werner Gegenbauer und Manager Michael Preetz. „Alleinherrscher“ nennt er die beiden, Gegenbauer auch noch einen „Diktator“: „Es kann doch nicht so weitergehen, die beiden Sonnenkönige können doch nicht ewig so weiter wurschteln. Die müssen so ein Feuer kriegen auf der Jahreshauptversammlung.“

Der 29. Mai soll der Tag seines alten Teamkameraden Michael Sziedat werden. Der war lange Herthas Rekordspieler in der ersten Liga, bis ihn vor zwei Jahren der Ungar Pal Dardai überholte. Sziedat kandidiert am 29. für den Hertha-Vorstand. „Es wäre eine Farce“, sagt Granitza, „wenn die Fans diesen Ur-Berliner nicht mit 99,9 oder 100 Prozent in den Vorstand wählen würden.“

Granitza hofft dann auch auf einen Job im Hertha-Umfeld. Welchen genau, sagt er nicht. Das Problem ist nur: Fußballfans haben ein wahnsinnig kurzes Gedächtnis. Rettet sich Hertha also noch, wird es Ende Mai wohl nicht mal ein Strohfeuer geben.

„Glaub mir, ich sterbe nicht noch mal“, schallt es durch die Kneipe. „Du, ich brauch dich nicht.“ Andrea Berg klingt jetzt wie ein drohender Hertha-Fan. Der zweite Abstieg in zwei Jahren… und dann?

Nein, sagt Granitza, und schüttelt energisch den Kopf. „Ich glaube wieder dran.“ Der 3:1-Sieg gegen Hoffenheim am letzten Spieltag, „das war das schönste Erlebnis der ganzen Saison“, sagt er. „Es wird ein fantastisches Gefühl sein, am Donnerstag ins Stadion zu gehen.“

Eigentlich aber hat Karl-Heinz Granitza die Hoffnung nie aufgegeben. In seinem kleinen Blog, in dem er regelmäßig über Hertha schreibt, hat er in den Vorschauen noch nie auf Niederlage getippt. Hinterher schrieb er dann Sätze wie „Hertha quält seine Fans“. Und nun, nach einem Jahr Quälerei, hat der Fußballgott als Zugabe verfügt: Zweimal 90 Minuten, vielleicht mehr. Gespielt wird, bis einer weint.

„Ich glaube, die Spieler haben den Schuss gehört“, sagt Granitza. Die Musik ist verstummt, seine Worte hallen im Schankraum wider, es ist jetzt mucksmäuschenstill im Bierbrunnen. Die Leute gucken. Granitza schaut sich um, dann verabschiedet er sich. Als er weg ist, sagt einer am Tresen: „Naja, der Granitza. Vor Weihnachten hat von denen keiner wat jesagt. Und jetzt kommse aus allen Ecken.“

Schnee, der auf Zaudern fällt

– Erste Halbzeit schlecht, zweite Halbzeit gut – am Ende zieht der HSV vorbei

Berlin (dapd). Nur wenige Minuten nach dem Abpfiff der Bundesliga-Partie zwischen Hertha BSC und dem Hamburger SV schien es, als wollte der dafür Zuständige einen schützenden, weißen Mantel über das zuvor Gesehene legen. Es fing kräftig an zu schneien. Mit reichlich Verspätung fiel er, Flocke um Flocke, dieser erste Schnee des Winters, Ende Januar. Ähnlich lange wie der Winter auf seinen Schnee warten die Berliner Fans nun schon auf ein Erfolgserlebnis ihrer Mannschaft. Die hatte am Samstag versucht, das neunte Heimspiel der laufenden Bundesliga-Saison zu gewinnen. Zum siebten Mal klappte das aber nicht, die Anzeigetafel wies einen 2:1-Auswärtserfolg des HSV aus.

Warum dem so war, darüber waren sich die Beteiligten einig. „Ganz desolat“, hatte Trainer Michael Skibbe sein Team gesehen – in der ersten Halbzeit. Was seine Mannschaft sich da zusammengespielt habe, sagte Skibbe weiter, sei „weit unter Bundesliga-Schnitt“ gewesen. Will heißen: Bestenfalls zweitklassig. Darüber sei zu reden, grollte der bislang glücklose Nachfolger des kurz vor der Winterpause offiziell nicht aus sportlichen Gründen entlassenen Markus Babbel.

Das Reden erledigte Skibbe vor dem Auslaufen am Sonntag. „Ich habe der Mannschaft etwas ins Büchlein geschrieben bezüglich der ersten Halbzeit“, sagte der Coach nur, deutete die Gesprächsinhalte dann aber immerhin an: Dazu zählte er die „große Lethargie“ und den „fehlenden Mut, Fußball spielen zu wollen“.

Seine Spieler widersprachen nicht. „Desolat“ nannte Andreas Ottl die ersten 45 Minuten, sein Kollege Fabian Lustenberger hatte mit „nicht gut“ noch die mildeste Formulierung parat. 0:2 hatten die Berliner zur Pause zurückgelegen, nach einem ersten Durchgang, bei dem sie ihre Zurückhaltung im Zweikampf nur durch die eigene Ideenlosigkeit im Spiel nach vorne übertrafen. „Wir haben keine Zweikämpfe gewinnen können, weil wir zu passiv gespielt und unsaubere Pässe gespielt haben“, befand Skibbe.

Hertha in den ersten 45 Minuten, das war ein Team, das den Ernst der Lage offenkundig völlig verkannte. Und sich einen absolut verdienten Zweitore-Rückstand einhandelte gegen einen Gegner, der nach der 1:5-Klatsche gegen Dortmund vor Wochenfrist sehr wohl auch seine zögerlichen Momente hatte. Hinterher freuten sich die Hamburger, dass es ihnen so einfach gemacht worden war: „Wir wollten offensiv auftreten, das haben wir auch getan. Unser Plan ist voll aufgegangen“, sagte Heiko Westermann. „Der Unterschied zu Dortmund war: Wir haben Fußball gespielt“, sagte Marcell Jansen, der das 1:0 erzielte. „Wenn ich viele Bälle bekomme, kann ich meine Stärken auch ausspielen.“ Viele Bälle bekam er, wie auch der sehr agile Rückkehrer Mladen Petric, dem kurz vor dem Halbzeitpfiff das zweite HSV-Tor gelang. „Wir wollen euch kämpfen sehen!“, hatten die Berliner Fans schon nach einer halben Stunde in die Eiseskälte gebrüllt.

Umso schlechter verdaulich wurde das alles für sie, weil sie dann doch noch die andere, bessere Seite der Hertha vorgeführt bekamen. Doch obwohl die Berliner in der zweiten Hälfte mit zunehmender Vehemenz das Tor ihrer Gäste bestürmten, gelang ihnen nicht mehr als Lasoggas Anschlusstreffer.

Zwischenzeitlich hatte man fast das Gefühl, die Hertha-Profis hätten vor dem Spiel beim Sportwettenanbieter ihres Vertrauens eine entsprechende Handicap-Wette abgeschlossen. Wenn dem so war, schauten sie ihrem Geld allesamt hinterher. Am Ende stand nur die nächste Heimniederlage und der ernüchternde Fakt, dass die Berliner nun auch offiziell die schlechteste Heimmannschaft der Bundesliga sind. Der FC Augsburg schob sich mit dem Punktgewinn gegen den 1. FC Kaiserslautern in dieser Wertung vorbei. Und auch in der Gesamtwertung wird der Boden nach unten immer dünner. Zwei Punkte sind es noch bis zum 16. Platz.

Zudem bricht Skibbe das verteidigende Personal weg: Innenverteidiger Christoph Janker fällt mit Jochbeinbruch sechs Wochen aus, Andre Mijatovic, für Janker erst ins Spiel gekommen, und Rechtsverteidiger Christian Lell fehlen beide in einer Woche gegen Hannover jeweils nach fünfter Gelber Karte. Zumindest bei Roman Hubnik, der mit dickem Knieverband in die Kabine gehumpelt war, gab es Entwarnung: Nur eine Prellung, am Dienstag soll er wieder trainieren.

Skibbe weiß, dass seine Improvisationskunst gefragt ist: „Für die kommende Woche wird es schwierig, einen Defensivverband aufzustellen, der in der Bundesliga das Tor auch mal dichthalten kann.“ Das jedoch dürfte die Grundvoraussetzung dafür sein, dass nach trainerübergreifenden acht Spielen ohne Sieg mal wieder drei Punkte in der Hauptstadt bleiben. Bis zum Frühling sollten sie damit nicht warten.

Ein Fan wird zum Staatsfeind

– 50 Jahre Mauerbau: Ein Hertha-Fan aus Ost-Berlin reiste seinem Team im Ostblock hinterher

Berlin (dapd). Zum Glück herrscht Westwind an diesem späten Augusttag im Jahr 1961. Haushoch überragen die steilen Tribünen der „Plumpe“ die S-Bahn-Gleise. Der Wind trägt die Geräusche des Fußballs herüber vom alten Hertha-Stadion am Gesundbrunnen in Wedding zur nahen Norwegerstraße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Dort steht Helmut Klopfleisch, 13 Jahre alt, und lauscht. Er hört das Raunen und Klatschen der Menschen, die sich auf dem Zauberberg türmen und auf dem Uhrenberg, jenen berühmten Steilrängen unter den riesigen Reklametafeln, die stets voll sind, wenn Hertha BSC spielt.

Beim letzten Mal war Helmut Klopfleisch da noch mitten drin. Nun aber steht er jenseits der Gleise und starrt traurig über den frisch abgerollten Stacheldraht. Hertha spielt jetzt in einer unerreichbaren Welt.

„Motor, Aktivist – schon die Namen waren albern“

Das DDR-Regime mauert den Westteil der Stadt ein, und einem 13-jährigen Hertha-Fan aus Pankow bleibt nur noch der Radiobericht des Westberliner Senders RIAS 1. Helmut Klopfleisch presst sich den kleinen Mikki-Empfänger dichter ans Ohr und lauscht seinem Lieblingsreporter Udo Hartwig.

Der Blick des Hertha-Fans aus dem Osten bleibt westwärts gerichtet. Klopfleisch will sich seine Liebe nicht verbieten lassen. Über die DDR-Betriebssportgruppen kann er nur lachen. „Motor, Aktivist – alleine die Namen waren ja albern“, sagt er heute. Mit dem System DDR wird er nicht warm. „Ich merkte schon in der Schule, wie wir angelogen wurden, was uns da für ein Quatsch erzählt wurde“, sagt Klopfleisch.

Doch die allabendlichen Sportnachrichten im Westradio reichen ihm bald nicht mehr. Er will dabei sein. Helmut Klopfleisch beginnt, zu Spielen von Hertha BSC im Ostblock zu reisen, zu Europacupspielen und auch zu belanglosen Freundschafts-Kicks. Aus einem blauen FDJ-Hemd und einem weißen Bettlaken näht ihm seine Mutter eine Fahne. Rings um die Spiele kommt er mit Fans, Spielern und Trainern ins Gespräch.

Wodka aus Zahnputzbechern

Auch das westdeutsche Nationalteam hat es ihm angetan. 1971 fährt er zum EM-Qualifikationsspiel nach Warschau und überreicht dem aus Dresden stammenden Bundestrainer Helmut Schön einen Berliner Bären, als Glücksbringer und Zeichen für die Einheit der Stadt. Zusammen mit Schön, dessen Assistenten Jupp Derwall und Masseur Erich Deuser stößt er im Hotelzimmer mit polnischem Wodka aus Zahnputzbechern auf die deutsch-deutsche Freundschaft an.

Bald ist Klopfleisch im BRD-Fußball bekannt wie ein bunter Hund – und er hat beste Beziehungen. Eines Tages steht Bayern-Präsident Fritz Scherer in der Wohnung der Klopfleischs in Berlin-Weißensee – unter dem Rolli ein signiertes Originaltrikot von Karl-Heinz Rummenigge, dem Idol von Klopfleischs Sohn. „Er hat sich gleich im Flur entblättert“, erinnert sich der Vater lachend. Klopfleischs rege Westkontakte bleiben auch der Stasi nicht verborgen. Bei der Ausreise wird sein Wagen bis auf die Karosserie zerlegt, seine Fahne schmuggelt er mit verölten Ersatzteilen über die Staatsgrenze.

In den 80er-Jahren wird die Lage ernst. Der Fußballfan wird zum Staatsfeind. Er verliert seinen Job als Elektriker. Vor Spielen von Westmannschaften im Ostblock wird er vorsorglich verhaftet und verhört, er erhält einen sogenannten „PM-12“-Ausweis, „wie Sexualstraftäter und andere Schwerverbrecher“, sagt er. Helmut Klopfleisch ist offiziell geächtet, weil er Fußballfan ist.

„Ich wollte einfach meine Freiheit“

Als auch seine Familie von den Behörden offensichtlich benachteiligt wird, stellt er 1986 einen Ausreiseantrag. „Solange es nur um mich ging, konnte ich es aushalten“, sagt er. Seinen 15-jährigen Sohn hat bereits die Stasi umgarnt und versucht, zum Bespitzeln des eigenen Vaters anzustiften. „Es ging mir nicht um Apfelsinen oder Bananen“, sagt Klopfleisch, „ich wollte einfach meine Freiheit.“

Sein Ausreiseantrag wird bewilligt – Ende Juni 1989. Noch am gleichen Abend müssen die Klopfleischs die DDR verlassen. Nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter, die wenige Tage später stirbt, darf er zurück in das Land, das sich eingemauert hat.

Nach der Wende erfüllt sich Helmut Klopfleisch den Traum von der Freiheit. 1990 Italien, 1994 USA, 1996 England – zusammen mit der Nationalmannschaft bereist er die westliche Welt. Fotos zeigen ihn mit Berti Vogts, Boris Becker und beim Golfen mit Franz Beckenbauer.

In der Plumpe aber war er nie wieder. Herthas altes Stadion ist längst abgerissen. 50 Jahre nachdem der kleine Helmut traurig hinüber in den Westen blickte, ragen dort keine Zauberberge mehr auf. Der Fußball ist verzogen. Die neuen Mieter sind hinter der glatten Fassade eines Neubaukomplexes verborgen. Nur die alten Pappeln sind noch da und wiegen sich langsam im Westwind.

Kuschelrock bei Hertha

– Der Punkrocker Campino von den Toten Hosen gönnt Hertha heute gegen seine Düsseldorfer einen Punkt – er ist mit Trainer Babbel eng befreundet.

Berlin (Tsp) – Einen solchen Anruf bekommt man nicht alle Tage. Selbst als Frontmann der Toten Hosen nicht. „Hier ist der Babbel-Markus“, hörte Campino die Stimme auf seinem Anrufbeantworter sagen, „ich habe ja bisher bei den Bayern gespielt, das hat dir bestimmt nicht so gefallen.“ Campino wurde neugierig. Was kam jetzt? „Naja, nun bin ich bei deinem Lieblingsverein. Wenn du magst, komm mich doch mal besuchen!“ Ende der Nachricht.

„Er hatte meine Nummer von Thomas Linke bekommen“, erklärt Campino die Kontaktaufnahme des damaligen Fußballprofis, der gerade zum FC Liverpool gewechselt war – seit jeher der erklärte Lieblingsverein des Düsseldorfer Punkrockers.

Er rief zurück, die beiden verabredeten sich in Liverpool. „Es ist eine wirkliche Freundschaft daraus geworden, wir haben uns auf Anhieb verstanden“, sagt Campino. „Mich hat unheimlich beeindruckt, wie geradeheraus Markus ist. Mir war sofort klar, warum er in England so beliebt war.“

Ehrliche Fußballer mögen sie auf der Insel. Und Ehrlichkeit schätzen der Musiker und der Fußballspieler auch aneinander. Über die Zeit, als Babbel an einer schweren Nervenkrankheit litt, sagt Campino: „Das ist in Freundschaften ein guter Moment, sich zu zeigen, dass es um mehr geht als um oberflächliches Geplänkel.“ Ansonsten verbinde die beiden eine „völlig normale Freundschaft“, man redet natürlich auch viel über Musik und Fußball, „das sind ja unsere Spezialthemen“. Wobei, sagt Campino, dessen Zweitverein Fortuna Düsseldorf ist, „wir sind uns bei der Musik in vielen Dingen näher als in manchen Fußballfragen“.

Womit wir beim Thema wären. Heute (13.30 Uhr) trifft Hertha BSC nämlich auf Fortuna Düsseldorf. Für Campino ist das „die schwierigste Begegnung der Saison“. Zum einen, weil er nicht selbst im Stadion sein kann, sondern im Tonstudio festsitzt. Zum anderen, weil sich der 48-Jährige eigentlich zweiteilen müsste. „Für mich ist völlig klar, dass ich mit dem Verein sympathisiere, bei dem Markus beschäftigt ist“, sagt er.

Doch das läuft natürlich auch gegen die eigene Liebe zur Fortuna aus seiner Heimatstadt. Campino versucht es mit einem Verweis auf das Hinspiel, das Hertha am zweiten Spieltag 2:1 in Düsseldorf gewann: „Fortuna hat alles getan, um Hertha einen guten Start zu ermöglichen. In Düsseldorf sähe man das als Zeichen des Respekts, wenn Hertha jetzt etwas zurückgeben würde.“

Einfach ist das alles aber nicht. Das Interesse für die Hertha ist bei dem Rheinländer, der in Berlin eine Wohnung hat und dessen Sohn in der Hauptstadt lebt, sprunghaft gestiegen, seit sein Freund Babbel im vergangenen Sommer den Vertrag als Cheftrainer beim Bundesliga-Absteiger unterschrieb. „Man kann den Verein als Fan ja nicht wechseln“, sagt Campino. „Aber das ändert nichts daran, dass ich nicht genauso mitfiebere und leide mit den Jungs.“ Herthas Auswärtsspiele verfolge er vor dem Liveticker, sagt er. Seinen Sohn nimmt er mittlerweile ins Olympiastadion mit. „Das ist ein helles Kerlchen“, sagt der Vater, „er ist völlig ohne meinen Einfluss überzeugter Liverpool-Fan und Hertha-Sympathisant.“ Das sei ohnehin kein großes Dilemma, fügt er lachend hinzu, weil die beiden Klubs ja auf absehbare Zeit erst einmal nicht mehr gegeneinander spielen würden.

Bei aller derzeitigen Sympathie für die Blau-Weißen ist aber klar: Eine neue Hertha-Hymne wird es aus der Feder des Toten-Hosen-Sängers nicht geben. „Das kann niemand von mir verlangen“, sagt er mit Verweis auf seine Treue zum FC Liverpool. „Nur für die würde ich was schreiben – aber die haben ja schon genug gute Lieder.“

Mit Markus Babbel trifft er sich, wann immer es der volle Terminplan der beiden eben zulässt. Ursprünglich wollte Campino dem Neu-Berliner auch das Nachtleben der Stadt näher bringen. Daraus ist bislang nicht viel geworden. „Ich erlebe den Markus hier in Berlin als sehr, sehr konzentriert auf seinen Job“, sagt der Musiker. „Alles, was mit einer großen Sause zu tun hat, müssen wir auf den Zeitpunkt verschieben, wenn der Aufstieg gesichert ist.“ Das liege auch daran, dass bei den Berliner Medien „die Lunte kurz“ sei. „Es herrscht ein unwahrscheinlicher Druck auf allen Beschäftigten. Ich finde das eher hinderlich.“

Vor dem Heimspiel gegen Düsseldorf lastet der Druck aber nicht nur auf Babbel und seiner Mannschaft. Für eine der beiden Seiten will sich Fortuna-Fan Campino aber nicht entscheiden. „Mit einem Unentschieden könnte ich ganz gut leben“, sagt er ausweichend, „wenn dadurch das Thema Aufstieg für Hertha nicht negativ beeinflusst wird.“ Sein Tipp? „Ein 2:2 oder 3:3 wäre für die Leute natürlich super.“ Sein gutes Verhältnis zu Herthas Trainer aber, das steht fest, wird unter dem Ergebnis sicher nicht leiden. „Eine Freundschaft ist eine intensivere Sache“, sagt Campino, „das hat mit einem Verein gar nichts zu tun.“