Der Verlierer

Warum kämpft einer immer weiter, obwohl er einfach nicht gewinnen kann?

Am Tag seines 33. Profikampfes steht Andy Thiele um 4.30 Uhr morgens auf, macht ein paar Liegestütze zum Wachwerden und geht zu Lidl zur Arbeit. Nach einer Acht-Stunden-Schicht fährt er mit dem Regional-Express nach Bernau, einer Kleinstadt nordöstlich von Berlin. Er wird dort an diesem Abend gegen einen Gegner kämpfen, von dem er weiß: Er ist 33 Jahre alt und Palästinenser. Er war angeblich vier Jahre im Gefängnis. Der Gegner kann nicht boxen und wird den Kampf in der zweiten Runde durch Niederschlag gewinnen.

Andy Thiele lässt sich fürs Verlieren bezahlen. Von seinen 32 Kämpfen als Profi gewann er einen. Meist durfte er nicht gewinnen, manchmal wollte er, aber konnte nicht, ein paar Mal fühlte er sich betrogen. Die Manager seiner Gegner kaufen sich die Siege, weil sie das Selbstbewusstsein ihrer Boxer steigern wollen oder um deren Kampfbilanz zu verbessern. Eine perfekte Bilanz ist wichtig, wenn ein Manager einen neuen Boxer aufbauen und vermarkten will.

Die Kampfbilanz von Thiele lautet 1-29-2: 1 Sieg, 2 Unentschieden, 29 Niederlagen.

Warum will ein Mensch ein Boxer werden?

Muhammad Ali wurde ein Boxer, weil er den Jungen verprügeln wollte, der sein Fahrrad gestohlen hatte. Mike Tyson wurde Boxer, weil er der kleine lispelnde Brillenträger war und die älteren Kinder in Brooklyn ihn auslachten. Diesen Männern fehlte etwas im Leben, das spürten sie, und sie wollten wissen, was es ist.

Du fängst mit dem Boxen an, weil du stark sein willst. Du wirst ein Boxer, weil du harte Muskeln willst und die bewundernden Blicke der anderen, denn die verächtlichen kennst du schon. Ein Boxer will sich über seinen Gegner erheben, für den Moment nur, aber der kann lange andauern, wenn der andere am Boden liegt und du über ihm stehst.

Warum wird einer Boxer?

„Ich kriege immer Applaus“, sagt Andy Thiele. „Ich habe fast alles, was man mitbringen muss: Nehmerqualitäten, gute Ausstrahlung.“ Warum gewinne ich nicht?, hat er einmal einen Matchmaker gefragt, so nennt man den Mann, der die Kämpfe organisiert. Andy, sagte der Matchmaker, kein Problem, leg das Geld auf den Tisch, verzichte auf deine Gage, dann gewinnst du.

Andy Thiele boxt in einem anderen Teil der Welt als die Brüder Klitschko, er kämpft nicht in Arenen oder im Spätprogramm von RTL. Wenn Thiele boxt, ist der Glamour weit weg. Sein Ring steht in Stadthallen und Autohäusern. Ruhm gibt es hier nicht, dafür unsaubere Schläge und, wenn du Glück hast, ein johlendes Publikum. Niemand fragt Thiele nach einem Autogramm.

Warum ist Thiele ein Boxer?

„Das Geld, klar“, sagt er, 100 Euro pro angesetzte Runde, das ist meist sein Preis, macht 400, manchmal 1200 Euro für einen Abend. „Und es ist immer ein Training. Ein Kampf ist immer ein Training.“

Thiele kämpft in Bernau an einem Samstagabend. Dort, in einer Mehrzweckhalle, werden die Zuschauer seine 30. Niederlage sehen. Er zieht die Schultern hoch, als er davon erzählt. Es wirkt wie eine Geste, die ihn das Boxen über die Jahre gelehrt hat.

Andy Thiele trägt eine schmale Brille, wenn er nicht im Ring steht, seine Haare sind nach oben gegelt. Sein Lächeln gibt eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen frei. Thiele lächelt oft. Die Augenhöhlen sind ein bisschen geschwollen, sonst erinnert nichts an das Gesicht eines Boxers.

Der erste schwere Knockout erwischte ihn in seinem dritten Kampf. Ein dummer K.o., sagt er heute, Lucky Punch. „Er trifft mich auf die Schläfe, ich kippe nach vorne und versuche noch, es aussehen zu lassen, als ob ich gestolpert bin.“ Der Ringarzt war gleich da. Komm, wir stehen auf, sagte der Arzt. Nee, lass mal liegenbleiben, sagte Thiele.

„Theoretisch habe ich immer eine Chance“, sagt Andy Thiele. „Was will er machen, wenn ich ihn umhaue?“ Er hat noch nie einen umgehauen.

Einmal übertrug der Fernsehsender Eurosport einen seiner Kämpfe. „Schon bewundernswert, wie Andy Thiele da immer noch mitmischt“, sagte der Kommentator. „Er hat Schwierigkeiten, nasse Papiertüten durchzuschlagen, aber: Er steht.“

Mensch Andy, sagten die Freunde, raste doch mal richtig aus! „Mein Problem ist mein Kopf“, sagt Thiele. „Ich denke zu viel nach. Ich will dem Gegner nicht weh tun.“

Thiele ist meist alleine unterwegs, beim Training, beim Kampf. In seiner Ecke steht dann ein Betreuer des gegnerischen Teams. Manchmal scheint es so, als wäre er auch der einzige, der an den Boxer in sich glaubt. Thieles Freundin sagt über einen Abend, an dem sie ihn kämpfen sah: „Als ob man in ein Flugzeug steigt und hoffen muss, dass man nicht abstürzt. Irgendwann ist er dann runtergegangen.“ Es mache keinen Sinn mehr, seit Jahren schon nicht, sagt sie, „aber damit muss er sich erst abfinden.“

Der Matchmaker, ein kleiner Deutsch-Türke mit Schnurrbart, holt Thiele in Bernau am Bahnhof ab. Der Gegner und sein Betreuer warten im Auto. Sein Gegner ist ein hagerer Typ mit rasiertem Kopf und Buckel, er hat die Augen eines ängstlichen Raubvogels. Er schaut sich ständig um wie einer, der nicht mal der eigenen Mutter vertraut. Thiele hat vor fünf Wochen gegen ihn Sparring gemacht und nach ein paar Runden den Mundschutz rausgenommen und weitergeboxt, um dem Gegner zu erklären, wie der es besser machen könnte.

Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums stehen sich Thiele und sein Gegner an diesem Abend zum ersten Mal wieder gegenüber. Es geht um das Drehbuch. „Ich tue dir nicht weh“, sagt Thieles Gegner, „ich schlag nur auf den Körper.“

„Du kannst mir gar nicht weh tun“, sagt Thiele.

Ein paar Minuten später hat Thiele drei Hundert-Euro-Scheine in der Hosentasche. „Das macht echt den Sport kaputt“, sagt er leise. „Aber ich mach ja mit.“

Ein genaues Drehbuch abzusprechen, zweite Runde, Körpertreffer, das hat es selbst in Thieles Laufbahn selten gegeben. Thiele sagt: „Wer mich nicht klar und deutlich schlägt, der hat im Profiboxen nichts verloren.“ In manchen Momenten wirkt er so, als würde er sich selbst nicht verstehen.

Die Mehrzweckhalle in Bernau liegt in einem Neubaugebiet, gegenüber ist das Jobcenter. Thiele trägt eine Sporttasche über seiner Schulter und eine Lidl-Tüte in der Hand. Er hat sich auf der Arbeit ein Oktoberfest-Outfit gekauft, für seine Geburtstagsparty. Thiele wird in ein paar Wochen 30.

„Ah, die Tschechen-Connection ist auch schon da“, sagt Thiele und deutet auf einen silbernen Minivan mit Dachlader: „Czech Boxing Team“, steht auf der Tür. Die Tschechen, sagt Thiele, kommen, das Auto voll, über die Grenze, legen sich für ein paar Hundert Euro im Ring hin und fahren dann wieder zurück. „Das hat mit Boxen nicht zu tun“, sagt Thiele. „Die stehen nur in Angsthaltung da. Da siehst du nicht eine Kombination. Bei mir sieht man wenigstens, dass ich eigentlich boxen kann.“

In der Nacht hat Andy Thiele vom Kampf geträumt. Er hat den Araber umgehauen, entgegen der Absprache, und dann hat er ihm die Geldscheine auf den Bauch geschmissen. „Das müsste ich echt bringen.“ Thiele lacht. „Aber wer weiß, was die dann abziehen.“

Auf dem Weg zur Halle ruft Verena an. „Nein, Schatz, wirklich… Du brauchst für den Käse nicht extra kommen… Halb neun bin ich spätestens im Ring, und zwei Minuten später bin ich wieder raus… Ach, nein. Das ist doch ein Drehbuch… Alles gut. Der Typ hat mehr Schiss als ich. Wirklich.“

Dass ihr Freund sich verkaufe, das gefalle ihr nicht, sagte Verena vor dem Kampf, als Thiele nicht dabei war. „Warum soll er weiter seine Gesundheit aufs Spiel setzen? Wie bei diesem bösen Kampf damals.“

Am 17. Juni 2010 strahlte die Sonne über Kiel. Eine Open-Air-Veranstaltung. Andy Thiele boxte im Hauptkampf gegen Hamid Rahimi. Zwölf Runden, ein Intercontinental-Titel im Mittelgewicht des kleinen Verbandes „Global Boxing Council“.

Es gibt ein Video bei YouTube, es heißt „Hamid Rahimi Titelkampf“. Man erfährt in dem Video nichts davon, dass Thiele bis eine Woche vor dem Kampf einen Gips um die Hand trug, dass er kaum trainiert hatte. Was man sieht: wie Rahimi in der ersten Runde mit Innenhänden auf Thiele einschlägt, mit unsauberen Kopfhaken, auch dann noch, als der sich wegdreht. Thiele bleibt irgendwie stehen, erholt sich wieder, Rahimi wird müde, es geht bis in die elfte Runde. Elf Runden Boxen ohne Vorbereitung. „Da hatte ich echt Glück“, sagt Andy Thiele.

Das Ende des Videos guckt er sich nie an. Rahimi drischt auf ihn ein, Thiele bricht zusammen, sein Betreuer führt ihn zum Hocker in der Ringecke wie einen Besoffenen. Die Zuschauer johlen. Rahimi lässt sich feiern. Dann schaut er rüber zu Thiele und ruft: „Hey, hey, hol mal einer den Rettungswagen!“

Ein Riss im Schädel, eine Einblutung ins Gehirn, das ist die Diagnose. Die Ärzte verlegen Thiele auf die Intensivstation. Nach drei Tagen entlässt er sich selbst.

Wochenlang schluckt er zu jeder Mahlzeit Schmerzmittel, drei Mal täglich 800 Milligramm Ibuprofen, und hat trotzdem noch Kopfschmerzen. Fünf Monate später steht Thiele wieder im Ring, Autohaus König, Berlin-Tempelhof, technischer K. o. in der 3. Runde. „Ich hatte das Geld damals nötig“, sagt er.

Bernau, eine halbe Stunde vor dem Kampf. Thiele packt in der Kabine seine Handschuhe aus. Hose und Schuhe hat er nicht dabei. „Nicht gefunden“, sagt er. Als hätte er das Boxen teilweise schon hinter sich gelassen.

Der Matchmaker leiht ihm ein schwarzes Paar Schuhe, Größe 42, eine Nummer zu klein. Thiele zeigt den anderen seine Handschuhe. „Aus Lugano“, sagt er. Bei einem Titelkampf dürfen auch die Verlierer die Ausrüstung behalten. „Lugano, supertoll da“, sagt Thiele, „die Natur, der See, die ganzen Ferraris.“ Das war sein erster Zwölf-Runden-Kampf damals, eine knappe Punktniederlage. „Hat den Kampf nicht widergespiegelt, das Ergebnis“, sagt Thiele. „Ein guter Kampf. Ich war gekaufter Gastgegner.“

Die Leone-Handschuhe sind weiß, schlank und gut verarbeitet, die italienische Flagge ist aufs Handgelenk genäht. Einer der anderen Boxer, ein junger Türke, streift sich den rechten über und schlägt sich damit in die flache Hand. „Die sitzen richtig bombe, Alter!“ – „Gegen wen boxt du?“, fragt Thiele ihn. – „Tschechen.“ – „Hau ihn nicht gleich um. Probier was aus.“ – „Krass, wie gut die sitzen, die Dinger. Leihst du mir die?“ – „Wann bist du dran? Siebter Kampf? Da bin ich schon weg.“ Thiele dreht den Kopf zur Decke. „Tscheche, Tscheche“, sagt er. „Ich will auch mal gegen einen Tschechen boxen. Aber die wollen alle nicht.“

„Kein Problem“, sagt der Betreuer seines Gegners und reibt Daumen an Zeigefinger. „Gar kein Problem. Hängt nur vom Geld ab.“

Kann man auf einen gekauften Sieg stolz sein? Und wichtiger noch: Kann man stolz sein, wenn man weiß, dass man verliert? Und wie man verliert? Es ist diese Frage, die sich Andy Thiele an diesem Wochenende immer wieder stellt, manchmal auch laut. Der Gedanke arbeitet in ihm.

Zwei Stunden vor seinem Kampf sitzt er beim Griechen, Restaurant Athos, ein paar Schritte von der Halle entfernt, vor sich auf dem Tisch steht ein Kräutertee. Thiele erzählt von den Anfängen, von vielen Schulhof-Prügeleien, der frühen Scheidung der Eltern. „Mein Vater hat geboxt“, sagt Thiele. Der Vater verließ die Familie, als Andy klein war. Die Mutter verbot ihrem Sohn das Boxen.

Thiele erlebte viel Gewalt als Kind. Er will nicht, dass geschrieben steht, wer ihn schlug. Einmal musste er ins Krankenhaus zur Behandlung.

Er kam auf ein Berufsschul-Internat in Schönebeck bei Magdeburg. Er war ein schmaler Junge mit wenig Selbstbewusstsein. Ein Opfer. Er sah den Aushang vom Boxverein. So oder so ähnlich beginnen die Geschichten vieler großen Boxer, und eben auch die Geschichten der Verlierer.

„Ich mag das Gefühl beim Boxen, die Halle klatscht, das sind Leute, die dich gar nicht kennen“, sagt Andy Thiele. „Das ganze Feeling. Das Taktieren im Ring. Das ist unbeschreiblich. Ich will auch was zeigen.“ Thiele versteht etwas vom Boxen, er kann lange über verschiedene Ring-Strategien reden, er steht nachts auf, weil er sich Kämpfe aus den USA anschauen will. Als er in Bernau beim Griechen sitzt und erzählt, mit strahlenden Augen, wird klar, er liebt das Boxen. Und eine Frage wird immer größer: Warum betrügt er diesen Sport?

Thiele erinnert sich an das Gefühl des Sieges. 31. Mai 2008, Halle, Sachsen-Anhalt, so steht es in der Statistik, ein grünes W dahinter, „Win“. Punktsieg, vier Runden. Ein ehrlicher Erfolg, sagt Thiele. Es fühlte sich gut an. Würde er gerne mal sehen, den Kampf, aber es hat damals keiner mitgefilmt.

Thiele redet und redet. Er spricht von einem Fußballspiel, bei dem er mitspielte. 0:7 stand es gegen Borussia Genthin, Thieles Mitspieler ließen die Köpfe hängen. Nur Thiele lief immer weiter, verzweifelt, wütend. Am Ende schoss er das 1:7.

Es sind nur noch ein paar Minuten, bis es losgeht in Bernau. In der engen Kabine reibt sich einer die Arme mit scharfem Balsam ein. Thieles Gegner, Rundrücken, Angstaugen, läuft zwischen den Bänken auf und ab, anderthalb Schritte hin, anderthalb zurück. Thiele wirkt ruhig, wie ein Mann, der einen Entschluss gefasst hat und weiß, dass es der richtige ist.

Er bekommt eine SMS von Verena: „Kannst du mir bitte schreiben, wenn es vorbei ist?“

Der Ansager trägt Smoking und Lesebrille. „Making his way to the Red Corner!“, ruft er ins Mikrofon. „Welcome, Andy Thiele!“ Er trägt ein graues Tanktop über der geliehenen Hose und läuft quer durch die Halle zum Ring. Vom Band singt Donna Lewis „I love you, always forever“. Ein paar Sponsoren-Plakate hängen an der Wand: Toom Baumarkt, McDonald’s, Zweirad-Spezialist, Zahnklinik Bernau, Boxen stoppt Gewalt. Dann marschiert Thieles Gegner ein, zu schweren Riffs und Bässen. Die Halle ist fast leer, keine 100 Leute sind da, kaum jemand klatscht.

Gong. Die beiden Boxer bewegen sich umeinander. Der Gegner versucht eine Links-Rechts-Kombination zum Kopf, aber seine Beine machen nicht mit. Dann landet ein sanfter linker Haken auf Thieles Körper. Thiele kniet sich hin und verzieht das Gesicht. Der Ringrichter zählt ihn an.

Thiele geht noch vier weitere Male zu Boden, ohne einmal hart getroffen worden zu sein. Nach 1:17 Minute in der zweiten Runde ist Schluss. Der Ringrichter hebt den Arm seines Gegners. Der schaut nach links und rechts, aus den Augenwinkeln, wie einer, der gerade aus dem Supermarkt kommt, die Arme voll geklauter Waren.

„Sah gut aus“, sagt der Betreuer von Thieles Gegner auf dem Weg in die Kabine. „Aber warum lässt du dich das dritte Mal anzählen? Den hätte er da schon abbrechen müssen, normal.“

„Ich hoffe“, sagt Thiele, nachdem er geduscht hat, „man hat wenigstens gesehen, dass ich ihm überlegen war.“ Dann schüttelt er den Kopf. „Schade für den Sport.“

Durch die Dunkelheit läuft Andy Thiele die Hauptstraße entlang zum Bahnhof Bernau. Die weißen Leone-Handschuhe hat er dem jungen Türken gegeben, für seinen Kampf gegen den Tschechen. „Die gibt er mir wieder“, sagt Thiele. Ein Trabbi-Cabrio fährt vorbei und verschwindet hinter der nächsten Ecke. Dann hört man nur noch den Atem des Kämpfers in der Nachtluft.

Warum wird ein Mensch ein Boxer?

Weil er gewinnen will. Aber auch weil er wissen will, wer er ist. Im Ring gibt es keine Ausreden. Dort musst du zeigen, aus was du gemacht bist.

Thiele hat den Boxsport verraten durch seine gekauften Niederlagen. Und wer ihm an diesem Abend in Bernau in die Augen schaut, sieht, dass er selbst am meisten darunter leidet.

Aber es gibt auch die Kämpfe, die Thiele gewinnen will und in denen er es versucht. Kämpfe wie den in Kiel gegen Hamid Rahimi, der ihm mit seinen Fäusten den Schädel brach. Im Video, das den Kampf zeigt, gibt es eine Szene, die vielleicht ein wenig darüber verrät, warum Thiele sich dieses Leben antut. Ganz am Ende steht Rahimi mit dem Ringrichter in der Mitte des Rings und ein Sprecher ruft ihn als Sieger aus. Dann ruft der Ringsprecher: „Sehr verehrte Damen und Herren, ich bitte auch kräftig um Applaus für Andy Thiele.“ Die Zuschauer klatschen. Für sie ist auch der Verlierer ein Sieger, weil er Mut gezeigt hat und Charakter.

Im Hintergrund des Videos, in der Ringecke, in sich versunken, unfähig aufzustehen, sitzt Thiele, hebt mit gesenktem Kopf die Hände nach oben und applaudiert sich selbst. Er hat standgehalten.

Thiele weiß, egal wie oft er auf dem Ringboden lag, gebrochen hat ihn keiner. Er weiß, wer er ist. Und an diesem Abend, so wirkt es, hat er gelernt, wer er nicht sein will.

Er geht still die Straße entlang, die nach Hause führt, aus dem Dunkel tauchen die Lichter des Bahnhofs auf. Er sagt: „Jetzt ist wirklich Feierabend.“

Zwei Wochen später schreibt Andy Thiele eine SMS. Es geht um den Abend in Bernau. In der Nachricht steht nur ein Satz: „Das war mein letzter Kampf.“

Ein halbes Jahr später steht ein weiterer Kampf in seiner Bilanz. Abbruch in der zweiten Runde. Ein alter Kumpel brauchte einen Sieg.

(erschienen in „Knockout: Die 20 besten Geschichten vom Boxen“, Hrsg.: Takis Würger, Ankerherz, Hamburg 2015)

Wir sind Helden

Fünf Monate haben Grundschulkinder in drei Berliner Kiezchören mit Profi-Musikern geprobt, dann hatten sie ihren großen Auftritt in der Philharmonie. Wir haben sie begleitet. (128 Magazin, Juni 2014)

„Helden“, sagt Marwan, „kenn ich, hatten wir neulich in Englisch. HEROES!“ Marwan spricht das fremde Wort langsam und vorsichtig aus, aber wen er aufgeschrieben hat, weiß er jetzt auch nicht mehr. Ist vielleicht die Aufregung. Man muss das verstehen, es ist Marwans erstes Interview. Es ist der Tag nach seinem zwölften Geburtstag.

Zwölfjährige geben der Presse normalerweise keine Interviews, klar. Es sei denn, sie heißen Macaulay Culkin und haben gerade „Kevin allein zu Haus“ abgedreht. Kennt Marwan natürlich auch, die Kevin-Filme, den ersten findet er am besten, aber er selbst hat noch in keinem Film mitgespielt. Er ist ein ganz normaler Junge aus Moabit, Carl-Bolle-Grundschule, sechste Klasse, Lieblingsfächer Englisch, Mathe, Religion und IE, das steht für Interkulturelle Erziehung.

Warum also sitzt Marwan hier, an einem Cafétisch im Einkaufszentrum MoaBogen, am U-Bahnhof Birkenstraße, vor sich einen riesigen süßen Pfannekuchen, den sie anderswo Berliner nennen, und gleich daneben ein Aufnahmegerät?

Die Antwort hat mit dem Poster zu tun, das seit Dezember in Marwans Zimmer hängt, mit einem Kaugummi, von dem die Zunge blau wird, mit einem Heinzelmännchen und mit einem schwarzen Halstuch. Und mit Judith Kamphues.

„Die ist nicht streng“, sagt Marwan, „die ist nett“. Sie kennen sich, ganz gut mittlerweile, kann man sagen. Seit Oktober, seit den Herbstferien, haben sie sich ja jede Woche gesehen, immer dienstags, immer um halb fünf, Rostocker Straße, Stadtschloss, so heißt dieser Ort, und wie ein König kannst du dich fühlen, wenn du dort warst und anderthalb Stunden gesungen hast, mit heller Stimme, aus voller Kehle.

Aus ganz normalen Berliner Kindern Helden zu machen, das ist der Plan. Vokalhelden, genau genommen, diesen Namen hat die Education-Abteilung der Berliner Philharmoniker für das Projekt ausgesucht. Musikalische Laien für die Musikkultur zu begeistern, das strebt das Programm seit seiner Gründung vor zwölf Jahren an. Menschen zusammenzubringen, das sei doch ohnehin das Beste, was die Musik leisten könne, hat Dirigent Simon Rattle mal gesagt.

Und so kommen sie also zusammen, jede Woche, all die Kinder und Chorleiter und Stimmbildner und Organisatoren und, nicht zu vergessen, die Ehrenamtlichen. Ohne deren Einsatz, zuverlässig, warmherzig, ohne viel Gewese, das hier alles ohnehin nicht funktionieren würde. Geprobt wird in drei sehr verschiedenen Berliner Kiezen, dienstags also in Moabit, im großen Saal im Hochparterre, an dessen Decke rosafarbene Tücher hängen, mittwochs in Schöneberg, direkt an der lauten Pallasstraße, und donnerstags in Hellersdorf, in einem Bungalow, der versteckt an einem Fußgängerweg zwischen Neubauten liegt.

Es ist kurz nach halb fünf an einem Dienstag im Stadtschloss Moabit, und die Helden sind ziemlich laut. „Ich zähle bis drei“, ruft Judith Kamphues, „dann seid ihr alle still. Okay? Und beim zweiten Mal geht ihr alle im Kreis.“ Die Kinder stehen gespannt da. „Und los. Einatmen. Zusammen. Ausatmen. Auseinander. In die Knie wie beim Skifahren. Boxen nach vorne. Aber bitte ohne jemandem wehzutun.“ Alles trippelt durcheinander.

„Was heißt eigentlich Vokal?“, fragt Marwan zwischen zwei großen Stücken Pfannekuchen. Klingt wie Vokabel, findet er. „Heißt das: stark?“ So ist das dann manchmal auch, wenn die Erwachsenen sich gute Sachen für die Kinder ausdenken. Sie kommen in ihre Klassen, holen sie mit Bussen ab, sorgen dafür, dass sie in den Pausen genug Wasser trinken und Bananen essen oder Müsliriegel, aber den Kindern zu erklären, was das komische Wort mit dem V bedeutet, das haben sie glatt vergessen.

Andererseits ist das aber auch Schöne an diesem Alter, zwischen sieben und zwölf: dass man sich noch keine Gedanken über alles machen muss. Dass man Sachen einfach macht. Weil man Lust drauf hat. Warum genau, darüber sollen sich dann doch bitteschön die Erwachsenen einen Kopf machen.

Warum singst du im Chor, Marwan? „Weiß auch nicht.“ Es ist eine Weile still, Marwan zuppelt ein bisschen an dem schwarzen Halstuch, das er immer trägt, es hält auch ein bisschen die Stimme warm, aber es ist eh sein Lieblingstuch. Dann sagt er: „Weil’s Spaß macht.“

Die Kinder in Moabit laufen als Schlingpflanzen durch den Raum und dann als große und kleine Fische, in den großen Spiegeln, die an der Längswand hängen, sieht man sie alle noch ein zweites Mal. Ein Mädchen hat einen grünen Pulli an, auf dem steht „Noise“, und das S ist verdreht. „Schulter kreisen, Unterkiefer lockern“, das Aufwärmen geht lange, eine Viertelstunde oder länger, „das ist wichtig für die Kinder“, sagt Chorleiterin Kamphues. „Die meisten haben von ihren Eltern nach der Geburt eben keine Geige in die Hand gedrückt haben.“

Laut stöhnen sie auf, als das Aufwärmen vorbei ist. „Gibt’s irgendwelche Fragen?“, fragt Judith Kamphues, bevor es weitergeht. – „Jaaaa“, ruft ein Mädchen. – „Was denn?“ – „Nee, doch nicht.“

Liebenswürdige Chaoten, das sind Kinder. „Ein Kessel Buntes“, sagt Judith Kamphues. Sonst arbeitet die 46-jährige gelernte Opernsängerin und Gesangspädagogin meist mit der Elite, zum Beispiel mit den Kindern vom Berliner Staats- und Domchor. Zwei Welten. Dort Kinder, die von kleinauf Proben und Disziplin gewohnt sind, die ständig gefördert und gefordert werden, und hier nun Mädchen und Jungs aus allen Kiezen und Schichten und Familien. Einzige Vorbedingung: Interesse am Singen. „Ich schicke niemanden nach Hause, der sich traut, bei uns mitzumachen“, sagt Judith Kamphues.

Hier, in Moabit, Schöneberg, Hellersdorf, geht es um viel mehr, als dass immer alle sofort den gleichen Ton treffen. Es geht um die Gruppe. Um Toleranz auch, um das Aushalten des anderen, auch wenn der mal einen Fehler macht. Und, klar, um Selbstbewusstsein. „Es geht mir darum, dass die Kinder sich trauen, den Mund aufzumachen, auch woanders, auch in der Schule“, sagt Kamphues. „Dass sie merken: das macht mir Spaß, ich muss mir nicht in die Hosen machen.“

Bist du schon ein Vokalheld oder wirst du einer? Den Posterspruch sieht Marwan jeden Morgen um sieben, gleich nach dem Aufstehen, er hat sich das Poster an die Wand gehängt, das Zimmer teilt er, jüngstes von sieben Geschwistern, sich mit seinem älteren Bruder. Der wird bald schon 14 und seine Stimme ist schon viel tiefer. Dienstags um vier, wenn die Schule aus ist, geht Marwan zusammen mit Mariam, rüber zum Stadtschloss, sind ja nur 500 Meter. Mariam geht auch in seine Klasse. Sonst ist keiner dabei. „Manche sagen, sie kommen mal mit“, sagt Marwan, „aber machen die nicht. Finden die langweilig.“

Neulich, sagt Judith Kamphues, habe sie in ihrem Garten gebuddelt, als ihr plötzlich etwas auffiel. Sie merkte, dass sie an die Kinder dachte, nicht ihre eigenen drei, sondern an die Kinder aus Moabit. „Ich dachte, wie geht’s wohl Mariam, letztes Mal hat sie ja mit der geredet, ob die sich wohl verstehen?“ Die Sorgen einer Mutter, so klingt das. „Ist vielleicht hoch gegriffen, aber ein bisschen wie eine Familie, so wollen wir zusammenwachsen“, sagt sie. „Eine Gruppe schaffen, in der die Kinder wissen, sie sind unter sich, und es ist egal, wie alt sie sind, egal ob Junge oder Mädchen.“

In Moabit teilt Marwan die Notenblätter aus. Marwans Zunge ist heute komplett blau, sein Mund auch. „War ein ganz normaler Kaugummi“, sagt er und grinst ein blaues Grinsen. „Die Heinzelmännchen“, so heißt das Stück, das die drei Kinderchöre aus den drei Berliner Kiezen proben, für ihren großen Auftritt in der Philharmonie. Es ist kein ganz einfaches Chorstück, aber es muss ja auch nicht immer alles piepeinfach sein, auch für Kinder nicht.

Nun fangen sie an zu singen, laut und fröhlich, besonders die letzte Silbe jeder Zeile macht den Kindern Spaß. „Wie war in Köln es doch vordeeeeeem, mit Heinzelmännchen so bequeeeeem.“ Es ist ein langes Lied, aber sie haben es sich ja auch aufgeteilt, drei Stadtteile, drei Chöre, die dann zu einem werden sollen, an einem Samstag Mitte Februar in der Philharmonie. Fünf Proben haben sie. Das ist nicht viel.

„Sie sägten und stachen und hieben und brachen, berappten und kappten“, das Lied ist voller alter, fremder, lustiger Wörter, und die Kinder singen sie und sprechen sie und lachen und dann gibt es eine kurze Pause. Entspannungsübung. Neue Konzentration. Betonung! „Berrrrappten. Und Kkkkappten.“ Die Konsonanten kann man gar nicht klar genug aussprechen. Dann dürfen die Kinder sich setzen.

Jede Probe ist wie eine Welle. Konzentration, Entspannung, Konzentration, Entspannung, immer wieder mal hinsetzen zwischendurch, immer wieder mal lockern, anders geht das hier nicht. Es ist kurz vor halb sechs, die Probe fast schon eine Stunde alt, „gleich ist Pause“, ruft Judith Kamphues, „kommt, einmal noch“. Kinderstöhnen. Aber natürlich stehen alle noch mal auf.

„Eigentlich habe ich gar keinen Held“, sagt Marwan. Er überlegt lange. „Ärzte!“, sagt er nach einer Weile. „Die retten ja Leben.“ Seine Schwester, die wolle Kinderärztin werden, sagt er, Schulsprecherin ist sie schon. Und dann fallen ihm doch noch ein paar ein: „Polizisten. Oder Fluglotsen. Die helfen auch bei einer Notlandung“, sagt er. „Die Feuerwehr!“ Feuerwehrmann, das würde er gerne machen, sagt Marwan, oder Pilot. „Aber eigentlich“, sagt er, „lieber Co-Pilot“. Wobei das mit dem Fliegen so eine Sache ist. Geflogen ist er schon oft, nur vor dem Start hat er immer noch Angst, „ich schlafe dann immer ein“. Vor der Landung hat er sich noch nie gefürchtet. Jeden Sommer fliegt er mit seiner Familie in den Libanon, ans Meer, sechs Wochen, die ganzen Ferien, da gibt es den besten Fisch, und Fisch ist Marwans Lieblingsessen.

„Schniegeln! Striegeln! Schhhhhniegeln! Schhhhhtriegeln!“ Die Kinder zischen um die Wette. Der 15. Februar, der Tag des Auftritts, ein trüber, windiger Tag in Berlin. Foyer des Kammermusiksaals, erster Stock, aus dem großen Außenfenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen, sieht man den Backsteinturm der Matthäuskirche, einen kahlen Baum und einen Baukran. Vor dem Fenster stehen genau 59 Kinder auf drei Stufen. Zum ersten Mal singen sie zusammen, alle drei Chöre, es ist ein Experiment im Experiment. Um halb drei schon ist der Auftritt, direkt vor dem Kinderkonzert, das erste Mal vor Zuschauern. Aufregend. „So“, sagt Judith Kamphues in den Kinderlärm hinein, „Hellersdorf, bitte. Die Bäckermeister, von vorne.“

Und dann kneten sie, die Heinzelmännchen, und fegen und backen und klopfen und hacken, und die Kinder legen sich richtig ins Zeug, genau wie die Heinzelmännchen in dem Lied. Der offene, helle Raum, der besondere Anlass, das wirkt, man spürt das. Was natürlich nicht heißt, dass die Kinder in den kurzen Pausen keine Kinder mehr sind. „Konstantina, komm von deinen Freundinnen weg, ihr macht eh nur Quatsch!“ – „Och, nööö. Letzte Chance?“

Aber dann, direkt bevor der nächste Durchgang losgeht, die Arme der Dirigentin in der Luft, ist es so still, dass nicht mal der Fotograf, der um das Gehäuse seiner Kamera extra einen gepolsterten Schalldämpfer gelegt hat, seinen Finger zu krümmen wagt.

„Das lief super an dem Tag“, sagt Judith Kamphues. „Viel besser, als ich befürchtet hatte. Dass die Kinder sich so gut verstanden haben, toll.“ In den Pausen flitzen sie über den Teppichboden, die weiten Gänge rauf und runter, die Winterstiefel haben noch Klettverschlüsse in diesem Alter, das Leben ist gut, singen, toben und mittags gibt’s Nudeln mit Tomatensoße, „jetzt geht’s zur Raubtierfütterung“, sagt ein Mädchen. „Einmal noch mal Kind sein“, sagt einer der Ehrenamtlichen, „diese Energie, Wahnsinn, und gar keine Regeln, die einem den Atem nehmen.“

Und nach dem Essen liegen dann alle auf dem Boden, sie hören sich noch mal das ganze Stück an, aber nur gesprochen, sie sollen sich ausruhen, aktiv entspannen, wenn man so will, und tatsächlich wird es nach ein, zwei Minuten wieder ganz still, die Kinder liegen lang da, die meisten auf dem Rücken, die Augen schräg nach oben, wo eigentlich ein grauer Himmel ist, und deswegen sieht auch keiner das Männlein mit seinem Zottelbart, das draußen vor der Fensterfront auftaucht, eine Fotokamera um den Hals, ein Mützchen auf dem Kopf, neugierig schaut es herein, was da wohl los ist, ein drolliger Kulturtourist auf Durchreise, und dann trollt er sich schon wieder, die riesige Kamera lustig vor dem grauen Parka baumelnd. Mach’s gut, Heinzelmännchen!

Und dann ist es halb drei, und sie stehen alle da, ordentlich in drei Reihen, dunkle Hosen und Röcke, die T-Shirts sind gelb, rot oder blau, nur Marwan hat ein weißes T-Shirt an und um den Hals natürlich das schwarze Tuch, er steht in der letzten Reihe, fast ganz rechts. Es ist mucksmäuschenstill, eng stehen die Erwachsenen beisammen, nur ein paar Meter entfernt, die Eltern, die Geschwister, die anderen Chorleiter und Stimmbildner und Ehrenamtlichen, es sind ja auch ihre Kinder, die da stehen, und alle sind gespannt.

Und wie sie dann singen – miteinander und ein bisschen auch durcheinander, ein bisschen laut ein paar, ein bisschen leiser dafür ein paar andere – da fällt einem auf, dass hier, auf diesen drei Stufen kein normaler Chor singt, nein, eigentlich singt hier Berlin, und damit ist nicht die Stadt gemeint, viel mehr Berlin steht vielleicht auf diesen drei Stufen als je auf der Bühne des großen Saals an einem Konzertabend. Hier, ja, genau hier, im Foyer des Kammermusiksaals, stehen sie, die Kinder der Stadt, die Zukunft, und singen, so laut und so gut sie können. Hellersdorf singt und Schöneberg und Moabit, Annika und Antonia, Marwan und Mariam, Melissa, Helene und Josefine, Lion, Lilli und Wilhelm und all die anderen, sie sind ganz bunt vor all dem Himmelsgrau und sie singen ein bisschen schräg und wild und wunderbar.

Und die Erwachsenen klatschen sehr laut.

In der Woche nach dem großen Auftritt ist es warm geworden, der Frühling blinzelt einem schon zu. Ein neuer Dienstag, eine neue Probe im Stadtschloss in Moabit. „Ich bin so froh“, sagt Judith Kamphues, „und so stolz auf die Kinder.“ Jetzt sei endlich ein bisschen mehr Zeit. „Jetzt sind die Kinder dran.“ Alle sind noch ein bisschen aufgeregt. Aber es geht weiter.

Aufwärmen. „Alle, die was Grünes anhaben, gehen zusammen in eine Gruppe“, ruft Judith Kamphues in den Kinderlärm. „Was ist denn grün?“, fragt ein Mädchen.

Wilder, weiter, Wedding

Auf der Suche nach einem Stadtteil. (Der Tagesspiegel, Sept. 2013)

I. GRAU IST DIE STADT

Mit der Hässlichkeit geht es schon mal los. Dieser Beton. Dieser Asphalt. Die Müllerstraße: der Schering-Klotz. Das Bürgeramt. Karstadt! Das Finanzamt an der Osloer. Reinickendorfer, Badstraße, ganz egal, alles wenig besser. Graue Nachkriegstürme wachsen aus dem Alltag, an allen Ecken und Enden. Traumhafte Tristesse. Bald vielleicht als Fotostrecke auf Tagesspiegel.de: „Die hässlichsten Gebäude des Weddings“. Absoluter Klickgarant, Leserliebling, bestimmt.

Und dann biegt man um die Ecke, und dann wird es plötzlich Licht. Bitte was? Ein antiker Tempel, der da dem räudigen U-Bahnhof Pankstraße trotzt. Strahlende Schinkelkirche St. Paul. Vier Säulen für ein Halleluja. Heller Stein, hohe Türen. Schlichtheit. Schönheit. Aha? Ist das jetzt hier die Toskana? Man möchte ihn dann gleich noch mal einbestellen, den alten Christo, damit er das wunderschöne Giebelhaus verhüllt und den kantigen Turm gleich mit, ein bisschen Schutz vor all dem Smog, den die Kiez-Checker in ihren dicken dunklen Audis in die Luft ballern, wenn sie aus der zweiten Reihe vor den Gemüseläden ihre Kickstarts hinlegen. Unter vier Auspuffen geht ja eh schon mal gar nichts hier, eisernes Prollgesetz, Paragraf eins. Oder so.

Willkommen im Wedding! Nicht „in Wedding“, wie es sonst in dieser Zeitung so sachlich heißt. Nein, dieser Wedding ist ein „der“, ein Typ, und was für einer! Eure Abziehbildchen könnt ihr wegschmeißen, am Grenzübergang Bernauer oder wo immer ihr rüberkommt. Hinter jedem Klischee steht ein Weddinger, der ihm in den Arsch tritt.

Merken: Wer hierherkommt, braucht einen Grund. Die meisten aber schießen schnell quer durch, die verlängerte Stadtautobahn namens Seestraße, die schlangenartige B96 hoch oder runter, unterm Bayer-Kreuz hindurch zum Hauptbahnhof oder weiter in den schönen Westen. Fies und grau ist es links und rechts der Autofenster der Durchreisenden, die überall hinwollen, nur nicht hierher. Nicht leicht dagegenzuarbeiten, wenn man als jahrelanger Draufgucker beginnt einzudringen in dieses staubtrockene Biotop.

Wächst hier was?

 

II. STOLZ UND VORURTEIL

Wedding und Gesundbrunnen: 81 Jahre lang eigenständiger Bezirk, heute nur noch zweifacher Ortsteil. Gehört jetzt alles zum schicken Mitte, was natürlich an sich schon ein Spitzengag ist. Denn Schrumpfen, nicht Wachstum, ist hier großes Leitmotiv, vor 100 Jahren waren sie noch 350.000, die Weddinger, heute kriegen sie gerade noch 160.000 zusammen. Einst boten sie dem deutschen Fußballmeister Heimat, heute können sie sich, wenn sie wollen, noch viertklassiges Eishockey anschauen, beim Schlittschuh-Club Berlin, in einem Betonsarg von einer Halle, kalt wie das weiße Oval in der Mitte und mit ähnlich viel Kratzern, und manchmal kommen 100 Leute.

Und die Müllerstraße, der einstige Ku’damm des Nordens? Hier fahren die Rolltreppen der schicken Kaufhäuser von einst mittlerweile direkt ins Spielcasino. Arbeiterbezirk, Arbeitslosenbezirk, Armenbezirk? Ansichtssache. Die Zahl der Menschen mit festem Job (knapp 43 000 Ende 2012) ist fast dreimal so hoch wie die der Arbeitslosen (gut 15 000 im Juni 2013), teilt das Landesamt für Statistik mit. Ein Arbeitsloser pro tausend Quadratmeter Wedding. Ist das viel?

Verwirrende Infos wie diese nimmt man mit auf die Straßen, hinein in den Wild Wild Wedding. Mit der Videokamera sind wir zunächst unterwegs, kleines Filmchen machen zum Reinkommen. Unterwegs, um dumme Fragen stellen: Warum Wedding? Was ist der Wedding? Und dann erzählen einem die Leute, dass sie wahnsinnig froh sind, dass es überhaupt noch Sachen wie das Gesundbrunnen-Center gibt. Wenn’s dit nicht gäbe, wär’ hier jar nüscht. So reden sie, immer noch.

Man erwartet, dass die Deutschen über die sogenannten Ausländer schimpfen, und das tun sie dann auch ein bisschen. Man erwartet, dass die sogenannten Ausländer über die Deutschen schimpfen. Tun sie nicht. Stattdessen schimpfen sie über die lasche Polizei, den Dreck und die Kriminalität.

Vor dem Bürgeramt an der Osloer klagt ein bärtiger Mann darüber, wie die Behörden ihn verarschen und wie das überhaupt hier aussieht, wie ein Gefängnis, wie Nicaragua, jedenfalls aber nicht wie Deutschland.

Am Bio-Markt auf dem Leopoldplatz schwärmt eine reizende Französin vom „Mülti-Külti“. Und dann sind da noch die beiden Jungs mit ihren Basecaps, Müller-, Ecke Triftstraße, die halb cool, halb drohend an uns vorbeiwippen und – ohne stehen zu bleiben oder auch nur einen Tick langsamer zu werden – unseren Interviewversuch gleich mit der einfachsten, weil frechsten Gegenfrage kontern: „Video? Gibt’s da Geld für?“

Ja, Jungs, ihr habt es bitter nötig, das Geld, das es nicht geben wird. Aber wer nicht in dieser Stadt? Erst im August haben sie, hier an der Müllerstraße, auf eine 84-jährige Musikladen-Besitzerin eingestochen – für ein paar Flöten aus der Auslage.

Also, was jetzt? Kein Geld? Dann verpisst euch.

Der Inhalt des eigenen Portemonnaies, seit jeher der kleinste gemeinsame Nenner der Weddinger. Bettelarm nicht wenige, auch das so erfolgreiche Prime Time Theater, wo sie die herrlich durchgeknallte Bühnen-Soap „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ aufführen, seit 2004, gerade läuft Folge 86 („Döner-Donut-Dauerdienst“), und nirgendwo sonst nehmen sich Kartoffeln und Kanaken so auf die Schippe – Humor als effektivste Integrationsarbeit. Fördermittel aber gibt es keine mehr. Noch ein Grund, auf die „Prenzlwichser“ und das neureiche Gesocks von nebenan zu schimpfen. Stolz und Vorurteil, hier wie da.

Deutschlands berühmtestes Arbeitsamt steht übrigens auch im Wedding, Müllerstraße 16, Stammgast in der ARD-Tagesschau. Lange das Standardbild beim Thema Arbeitsmarkt, hinter Jan Hofer, Dagmar Berghoff und Co., wirklich wahr. Millionen Westdeutsche sahen es Monat für Monat: das eckige rote A auf rundem weißem Grund, die Treppe, die grauen Kacheln, den roten Türrahmen. Das Arbeitsamt, es ist natürlich längst ein Jobcenter, und letztes Jahr, an Hitlers Geburtstag, haben sie es mit Farbbeuteln und Steinen beworfen, um viertel vor zwei nachts.

Überhaupt: Von 20 Nachrichten, die zum Wedding über den Ticker laufen, findet man mitunter nur eine, die nichts mit Kriminalität zu tun hat. Es ist dann aber nicht klar, ob das mehr über den Wedding sagt oder mehr über das Bild, das die Medien von ihm zeichnen.

In dieser einen Meldung geht es übrigens um den Mauerpark, der längst schon zur Ikone des chronisch hippen Nachbarn Prenzlauer Berg geworden ist. Und der sich nun, 24 Jahre nach der Wende, endlich, endlich zum Wedding hin geöffnet hat. 24 Jahre. Allein das erzählt viel von den Grenzen, die noch durch diese Stadt verlaufen.

Im Norden des Mauerparks, auch das ist ein Teil von Gesundbrunnen, man mag es kaum glauben, wollen sie bald teure Wohnungen bauen, jetzt ist da noch ein Schrottplatz. Nur mit dem Protest sind sie westlich des Tunnels wieder ein bisschen spät dran gewesen; drüben, in Prenzlauer Berg, haben sie viel früher gegen die Bebauung und die Zuwegung mobilisiert. Man kommt sich ohnehin nur sehr langsam näher, in kleinen Grüppchen zunächst, wie bei den Radtouren von „Nächste Ausfahrt Wedding“, gestartet vor einigen Jahren von zwei neugierigen Prenzlauerbergern.

Aber langsam, langsam kommen sie rüber. Noch sind die Inseln, die die Kreativen im Wedding kultivieren, nur lose verbunden. Eine liegt sorgsam versteckt hinter einem Studentenwohnheim, unter mächtigen Eichen. „Hausbrauerei Eschenbräu“, steht auf der kleinen Leuchttafel, in Comic Sans, der Standardschrift für Gemeindeblättchen. Klar, man kommt nicht für die Verpackung her, sondern für den Inhalt. Fürs Bier. Und das, was ein gewisser Martin Eschenbrenner 2001 als studentischen Zeitvertreib begann und was heute ein 14-Personen-Unternehmen ist, schmeckt wie die Weddinger selbst: ungefiltert und eigen und bisweilen großartig.

Es tut sich wieder was im einstigen Brauereistadtteil Wedding, acht Stück waren hier mal angesiedelt, zur großen Zeit um 1900, von ihnen ist ansonsten übrig eine bröckelnde Brandwand an der Prinzenallee: Was trinken wir? Schultheiss Bier.

Aber legendär gesoffen wird natürlich nach wie vor, hinter vergilbten Gardinen und toten Pflanzen. Typen wie Bukowski, Lowry, Tom Waits hätte es hier gefallen, den großen Pichlern und Denkern, Bukowski allen voran. Hier würde er sitzen, im „Magendoktor“, im „Klammeraffen“, in der „Trümmerlotte“ oder einer der tausend anderen Kaschemmen, am äußersten Rand des Tresens, würde den billigsten Fusel saufen wie Wasser und irgendwann vom Schemel taumeln in die Nacht und sich an der nächstbesten Ecke mit dem nächstbesten Schläger anlegen – geprügelt vom Leben und ihm jede Nacht aufs Neue die Stirn bietend. Wenn es einen deutschen Bukowski gibt, in diesem Berlin des Jahres 2013, dann sitzt er jetzt irgendwo im Wedding und trinkt still vor sich hin. Wir werden erst in 30 Jahren von ihm lesen.

Die guten Trinkerstuben gab es schon immer, als der Himmel noch erleuchtet war von den Schloten der Eisengießereien, als die AEG hier produzierte und die BMAG, als Osram und Rotaprint Tausenden Arbeit gaben, harte Arbeit – und die macht immer am durstigsten.

 

III. EIN STADTTEIL ALS LABOR

Und heute? Taugt der Wedding oder das, was von ihm übrig ist, als Objektiv auf das große, unverständliche Ding Berlin? Für das, was hier schiefgelaufen ist und noch schiefläuft?

Zumindest kann man hier noch heute gut sehen, was aus Vierteln werden kann, wenn man sie in Versuchslabore umwandelt. Verkündet durch Bürgermeister Willy Brandt im März 1963, ab den 70ern dann durchgeführt: die Kahlschlagsanierung. Wie hässlich schon das Wort klingt. Ihr fielen unzählige Altbauten zum Opfer, das Brunnenviertel haben sie damals gleich ganz plattgemacht. Hier, im von der Mauer eingebauten „Tiefen Wedding“, dem allerletzten Zipfel West-Berlins, entstand, in Sichtweite der DDR, ein gigantischer Wohnquader neben dem anderen. Und kaum einer sagte was, auch damals schon, während in Kreuzberg die rührigen Bewohner Vergleichbares zu verhindern wussten.

Wer allerdings die alten Mietskasernen verherrlichen will, sollte sich erst anschauen, wie die Arbeiterfamilien so gehaust haben in diesen Löchern, im Mitte-Museum an der Pankstraße kann man das sehr gut tun, nur ein paar Meter vom Schinkeltempel und den Konterfeis der drei Brüder Boateng, gewachsen auf Beton, sponsored by Nike.

Nein, es waren auch früher schon keine schönen Zeiten, wenn du Arbeiter warst im Wedding, an den ersten Maitagen 1929 haben sie gleich Dutzende von ihnen abgemetzelt. „Roter Wedding“, das war fortan blutige Doppeldeutigkeit, von Erich Weinert in ein kommunistisches Kampflied gemünzt, von Ernst Busch später adaptiert. In dessen Version das bis heute nachhallende Versprechen: „Der Wedding kommt wieder!“

Der Rote Wedding, er marschiert nun schon länger nicht mehr, und doch gibt es plötzlich ein paar, die die alte Ansage einzulösen scheinen.

Behutsam treten sie auf, die Weddingworker, sie kennen sich alle untereinander, aber sie wollen nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Die Verschönerung wird nach den Erfahrungen anderswo in der Stadt immer öfter als schöner Vorbote gnadenloser Aufwertung gefürchtet, also tastet sie sich auf leisen Sohlen vor. Als dunkles Ungetüm am Horizont: die Gentrifizierung, das böse Wort, das keiner freiwillig in den Mund nehmen will. Ein zweites Kreuzkölln, ein zweites Prenzlberg gar, das wollen sie hier auf gar keinen Fall heranzüchten.

Und doch gibt es da schon diese Inseln im Meer, das Wedding heißt: Eine liegt auf dem Dach eines riesigen Kaufhauses und heißt Himmelbeet, eine andere gleich ganz im alten Fleischtheken-Ambiente: der Supermarkt an der Brunnenstraße. Büroplätze für Selbstständige, ein Café und Begegnungsraum für Kreative. Selbst die Telekom hat hier, mitten im schmuddeligen Brunnenviertel, schon Platz für Seminare gebucht. Über fast eine ganze Ladenzeile erstreckt er sich schon, doch jetzt soll erst einmal Schluss sein mit der Ausbreitung, sagen die Betreiber. Keine falschen Zeichen setzen, an die Bewohner, die Umgebung. Sollen erst mal auch andere kommen können.

Ausgeschenkt wird das trübe, kalte Bier des Martin Eschenbrenner übrigens auch hier, nur ein paar Meter weiter, im „Volta“, einem kleinen, feinen Konzeptrestaurant mitten in der rotbraunen Kachelhölle Brunnenstraße. Gastropub nennen sie das. Dort sitzt man sommers auf einem Holzpodest, auch so eine kleine Insel der Glückseligen, und daran vorbei laufen die Alteingesessenen mit ihren Lidl-Tüten und schauen mittlerweile nur noch ein bisschen verdutzt. Und ein paar Straßen weiter flattert ein handgemaltes Banner vom Balkon: „Gegen Luxuswohnungen, für Grünflächen“, und daneben das Ganze noch mal auf Türkisch.

Im Stattbad Wedding schließlich, vielleicht der angesagtesten Location dieses Nouvelle Wedding, betonen sie, dass sie sich vor allem als Kunst- und Kreativhaus sehen statt als Party-Location mit elektromagnetischer Anziehung für die ganze Stadt. Damit lässt sich zwar das meiste Geld einspielen, das aber wiederum stecken sie am liebsten in die Kunst, gerade war eine Skateboard-Ausstellung zu Gast. So läuft das hier. Es will keiner sein, was er nicht ist. Das Gegenteil also von dem, was südlich der Bernauer Straße, im überdrehten Mitte, den Lifestyle definiert. Willkommen bei den Anti-Hipstern vom Wedding. Und ein paar Meter die Gerichtstraße runter hocken die Hells Angels vor ihrem Laden.

Breitbeinig kann im Übrigen auch der Wedding sein. Hier gilt bisweilen nicht Rechts vor Links, sondern: Maul vor Stumm. Blök vor Glotz. Schrei vor Flenn. Faust vor Fleh.

 

IV. POLITIK UND IDYLLE

Also: Tut sich was?

Jetzt hat sogar Steinbrück hier eine Wohnung bezogen, mitten in der Sprengelstraße. Bei Edeka ist er gesichtet worden, in weißem Hemd und offenem Sakko, willkommen, Möchtegernkanzler, ruft die Gemeinde, wir fühlen uns gleich viel sicherer. Ha, ha.

Dabei geht hier, wo vor dem Krieg die Kommunisten stets große Mehrheiten einfuhren, eh kaum noch einer wählen, am schlimmsten steht es um die Wahlbeteiligung in den Gegenden mit den meisten Migranten, am Nettelbeckplatz, im östlichen Brunnenviertel, rings um die Soldiner Straße, hier geht nicht mal mehr jeder Zweite zur Urne, manchmal nur jeder Dritte. Es ist wohl das konsequente Desinteresse derer, für die sich ihr Leben anfühlt, als habe sich noch nie ein Politiker dafür interessiert, seit sie hier sind.

Und doch, gerade hier, gibt es die Orte, an denen man glauben mag, dass zwischen Multi und Kulti tatsächlich ein Bindestrich ist. Das Carik Kuruyemis & Café ist so einer. Von außen sieht es aus wie ein einfacher türkischer Delikatessenladen, doch wenn du dich an den Körben und Auslagen mit all den Pinienkernen, Nüssen und süßen Baklava vorbeizwängst, in den Hinterraum, dann bist du plötzlich mittendrin. Das hier ist der Ort, wo ein junges Mädchen hereinkommt und strahlend zu ihren Freundinnen sagt: „Das ist voll wie in der Türkei hier.“ Hier ist auch der Ort, an dem ältere deutsche Pärchen sitzen, in Lederjacke und Rüschenbluse, als müssten sie gleich noch zum Preisskat, und aus ihrem dampfenden Kumpir löffeln und braun gegrillte Köfte kauen.

Und ja, es gibt ihn, den idyllischen Wedding, man kann ihn mit dem Fahrrad befahren, immer die Panke entlang, an altem Backstein vorbei bis hinauf zum seltsam entrückten Bahnhof Wollankstraße und weiter in den Pankower Bürgerpark. Es gibt ihn, den Rosengarten im Humboldthain, den Volkspark Rehberge, den Plötzensee, das erhabene Virchow-Klinikum mit seinem wunderbar ruhigen Innenhof.

„Wunderkammer Wedding“ – den schönsten Begriff hat unter Umständen Pedda Borowski gefunden, Maler, Illustrator und Design-Dozent an der IB-Hochschule. Er benannte sein Seminar nach den vollgestopften Raritätenausstellungen der Spätrenaissance, eben: Wunderkammer. Borowski hat seine Studenten einfach losgeschickt, in die Straßenschluchten und die Kneipen und die Parks. Sie sollten, wie damals die Besucher der Museums-Vorläufer, vor allem eines: staunen. Und lernen. Und sich verändern.

 

V. NUN KOMM DOCH ENDLICH!

Er kommt, der Wedding, raunen sie seit Jahren, oder kommt er noch nicht, jetzt kommt er aber, nein wirklich, jetzt muss er doch kommen!

Ja, Leute, wohin denn, bitte schön? Und überhaupt, was für eine schwachsinnige Forderung! Er war doch immer da und ließ mit sich machen. Ließ sich hin- und herwälzen, immer mal wieder umoperieren, auch mal mit dem stumpfen Skalpell. Aber sich bewegen, daran denkt doch der faule, fette Vogel Wedding nicht. Wohin denn auch? Er ist doch schon mittendrin. Wenn schon Aufbruch, dann eher so wie in der alten Liedzeile des seligen Jim Croce, völlig anderes Land, völlig andere Zeit: „If you’re going my way, I’ll go with you.“ Recht hast du, alter Freund.

Und dann wetzt man, ganz geschafft vom Schauen und Reden und Wundern, die Hochstraße hinauf, den S-Bahn-Graben zur Rechten, hastig tretend den vermeintlich schöneren Ecken dieser Stadt entgegen, und dann tut sich links auf einmal der Blick auf vor dunkelrotem Weddinghimmel, und mit dünnen Bauhaus-Lettern steht an schlichter Fassade: Hotel Citylight. Und man denkt sich nur: L.A., 50er Jahre, und sonst nirgendwo.

Man muss das alles nicht verstehen. Manche sagen: Man kann das alles nicht verstehen.

Wedding, was ist das?

Tja, keine Ahnung. Aber wir werden mal losziehen und sehen, was sich herausfinden lässt.

Aufschrei! (5 Minuten Stadt)

Idylle Prenzlauer Berg. Schlenderzone Stargarder Straße. Familienspaziergänge. Händchen haltende Pärchen. Kinder auf Laufrädern. Gegenüber an der Eisdiele „Hokey Pokey“ zahlen die Menschen bereitwillig 1,60 Euro für die Kugel. Wohlstands-Happiness, das Leben: ein buntes Aquarell. Auf den Trottoirs: Vintage-Stühle, darauf: Vintage-Menschen, essend, trinkend, redend. Angeregte Gespräche. Vor einem Café, hier: orangefarbenes Gestühl, dreht es sich gerade um die „Aufschrei“-Debatte, deren Initiatorinnen kurz zuvor mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurden. Haben im Internet auf Frauenfeindlichkeit und sexuelle Belästigung hingewiesen. Und die Welt hoffentlich ein bisschen weniger sexistisch gemacht. Gute Sache, logisch, darauf ein Schlückchen Cappucino und ein beruhigter Themenwechsel. Gerade will man wieder anheben, da dringt ins allgemeine Vögelgezwitscher ein seltsames Störgeräusch. Näher kommender Beat. Es macht: Bumm-bumm-kah, bu-bumm-bumm-kah. Wird jetzt ziemlich schnell ziemlich laut. Genervte Blicke den Gehweg herunter. Doch statt der erwarteten tiefer gelegten Sportkarre nur ein sich nähernder Adoleszent im grauen Schlabbershirt, plärrendes Handy in der hohlen Hand. „Du guckst mich an“, kann man nun den schnellen Sprechgesang hören, während der Jüngling, Sneaker, schwarze Turnhose, Pausbacken, dumpf vorbeistampft. „Du guckst mich an“, rappt es also zwischen den Wurstfingern hervor, „ich hab Style und das Geld, heute bin ich all das, was euch Fotzen so gefällt.“ Leicht mit dem Kopf nickend pflügt der dicke Junge zu dieser grandios beschissenen Bordstein-Weisheit durchs Kinderwagen-Ghetto, vorbei an irritierten Blicken, sein Shirt wackelt dazu lustig überm Hüftspeck. Zurück lässt er nach einer Schrecksekunde: belustigte Gesichter. „Wie geil“, sagt jemand ironisch und fängt dann an, über etwas völlig anderes zu reden. (Tsp.)

The Zipperlein (5 Minuten Stadt)

(Tsp., Juni 2013) – S-Bahnhof Messe Nord. Die Menschen sitzen missmutig auf Bänken und starren in den Regen. Nächster Zug in sechs Minuten. Sonntagabend-Blues. Auch bei einer Rucksacktouristin, vielleicht 30 Jahre alt, dunkle Haare, klitschnasse Füße in Flipflops. Willkommen im Berliner Sommer. Kommt ein alter Mann den Bahnsteig herunter, Stock in der Linken, mit der Rechten hinter sich herziehend: einen leeren Einkaufstrolley, Typ Kartoffelporsche. Lässt sich jetzt ächzend neben die Backpackerin fallen. Kurze Pause. Ganz kurze Pause. Dann: „Na, wo komm Sie denn her? Wie? Ah, no Deutsch, hm? Where you from?“ Sie ist aus Costa Rica, sagt sie. Findet der alte Mann gut, vermutlich weil: exotisch, weil: ganz weit weg. Er erzählt vom letzten Urlaub am Meer, vor 30 Jahren. Von Stränden, Booten, Hafenbars. „Na, da war wat los!“ Lachender alter Mann. Nickende Touristin. Absolut kein Deutsch sprechende Touristin. Egal. Alter Mann erzählt aus seinem Leben. „Normal nehm‘ ich den 139er, wissense, aber der fährt bloß von zehn bis sechse. Morgens neunsechsnfuffzich der erste. Also jetzt schon nicht mehr.“ Er zeigt auf seine Armbanduhr. Halb sieben. Die Costa-Ricanerin nickt. Sie schaut hoch zur Minutenanzeige. „1 min“ steht da. Alter Mann, auf ein letztes: „Tun Sie mir einen Gefallen, bitte?“ – „Sorry?“ – „Bitte werden Sie nicht alt, okay?“ – „Alt?“ – „Hmmm… be old, you know?“ – „?“ – „Wer alt ist, ist gestraft. Ist so. Then come the Zipperlein. Verstehense? Der Rücken, die Gräten.“ Mühsam, aber mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht zieht sich der alte Mann an seinem Stock hoch, ganz krumm steht er da, mit seinem Karohemd, seinen Hosenträgern und der Cordhose über dem Bauch. Er sagt: „Good stay, ja?“ Dann geht er ein paar Schritte, langsam, ganz langsam, der einfahrenden Ringbahn entgegen.

Nase voll

– Ein Datingportal lädt zur Schnüffelparty – es kommen zwar fast nur Journalisten, ein Pärchen findet sich aber trotzdem

Die Party läuft noch nicht sehr lange, die ersten Tüten machen gerade die Runde, da hält Tanja plötzlich inne. Sie reckt ihre Nase in alle Richtungen. „Es müffelt.“ Sie schaut in die Runde. „Findet ihr nicht?“ Es stimmt. Es ist stickig, hier im Hinterzimmer. Sehr warm. Was an den ganzen Kameras liegen könnte, an den Scheinwerfern und Aufnahmegeräten, an der ganzen wuselnden Pressemeute.

Ein Altbau in Friedrichshain, Erdgeschoss. Ein junges deutsches Datingportal hat eingeladen, zur ersten Pheromon-Party Deutschlands, eine „Event-Sensation“, wie es heißt. Pheromone, das sei kurz erklärt, sind menschliche Duftstoffe. Das Prinzip des Abends: Die Teilnehmer stopfen gebrauchte T-Shirts in eine nummerierte Plastiktüte, andere Teilnehmer schnüffeln dran – und wo es besonders gut riecht (oder am wenigsten schlecht), dahinter soll der Traumpartner stecken. Der dann mittels eines Fotos entscheiden kann, ob er die nächsten Schritte einleitet. Kommt natürlich, wie jeder gute Trend, aus den USA.

Es sind wirklich viele Leute gekommen, das ist schon mal schön. Aber es sind fast ausschließlich Journalisten. Womit sich zum einen deren Arbeit erheblich erschwert. Typischer Dialog: „Und, was hast du schon so gerochen?“ – „Nichts, bin auch von der Presse.“ Den wenigen echten Teilnehmern macht es den Abend schlicht zur Hölle. Tanja hat schnell, Pardon, die Nase voll: „Ihr macht alles kaputt! Wir sollen hier den Mann fürs Leben erriechen und werden so belagert.“ Daher will sie in den Artikeln irgendwann nur noch Tanja genannt werden. Es gelingt ihr, sich aus dem Knäuel herauszuwinden, doch kaum dreht sie sich um, blinzelt sie in einen grellen Lichtkegel. Das N24-Team hat sie gestellt. „Und, hast du ihn schon gefunden? Na, deinen Traummann?“

Es ist keine ganz einfache Situation. Es schnürt einem den Atem ab. Also vor in den Empfangsraum. Vor der Sponsorenwand posiert eine Teilnehmerin mit blonden Ringellocken, Minirock und Stiefeln. „Be sexy!“, schreit sie der Hausfotograf an. „More sexy! More sexy!“ Die blonde Frau öffnet ihren Mund, schaut jetzt irgendwie lasziv, vielleicht hat sie das mal in einer Magnum-Eis-Werbung gesehen. Apropos: „Produkte zum Verlieben“, mit diesem Slogan wirbt der Veranstalter für seine Seite. Die Produkte, das sind die Männer. Die Frauen können sie in ihren Warenkorb legen. Die Liebe in Zeiten von Amazon.

Als nächstes wird ein schmaler junger Mann an die Wand gestellt, dünne Brille, kariertes Hemd. „Und, wie viele Fotos hast du schon so machen lassen?“ – „Drei.“ – „Und wonach riecht sie, deine Lieblingsfrau?“ – „Keine Ahnung, angenehm.“ – „Wie angenehm?“ – „Angenehm halt. Keine Parfümbombe oder zu viel Schweiß. So, dass man sich vorstellen kann, neben dieser Frau aufzuwachen.“ Das ist dann tatsächlich mal ein halbwegs schöner Satz. Doch der junge Mann muss schnell weg, er hat schon sehr viele Interviews gegeben.

Zurück in den Mittelraum, auf Ledersofas plaudern Bier trinkende Journalisten. Die ersten Facebook-Anfragen gehen raus. Informationen machen rasend schnell die Runde, das ist der Vorteil. So spricht sich schnell herum, dass die beiden schönen Menschen neben Tanja eigentlich Models sind, die sich das RTL-Team als Protagonisten mitgebracht hat. Praktisch. Er könnte so vom Typ her der Sohn von Detlef „D!“ Soost sein, ist eigentlich Tänzer. Seine Tattoos werden leider vom Muskelshirt halb verdeckt. Und sie ist die Sorte Frau, die sich ihre Haare schwarz färbt. Aus ihrem knallengen Büchslein ragt ein weißes iPhone-Cover heraus, mit ein paar funkelnden Edelsteinen drauf, immer mal wieder zieht sie es mit spitzen French-Nail-Fingern heraus. Der Kameramann ist dagegen einfach nur ein echter Profi. Sein Spezialgebiet: Rasend schnelle Schwenks. Von der Foto-Leinwand auf die Models. Und zurück.

Und dann wird’s ernst. Ein Indie-Typ mit Hut hat sich mit der Nummer des Models ablichten lassen. Das Team rüstet sich zum Angriff. Schwarzhaarige vorweg, dicht dahinter Reporter, Kamera-Profi und dann der stolpernde Tonmann, er kommt kaum hinterher. Es ist zu eng, zu laut, man kann leider nicht hören, wie das Gespräch so anläuft.

Tanja hat irgendwann genug. Sie zieht sich die Jacke an. „Gehst schon?“ – „Guck dir mal die Leute an“, sagt sie, „da spricht heute keiner mehr irgendwen an.“ Auf dem Weg nach draußen kommt sie an der Schwarzhaarigen und dem Hut vorbei, die sich tatsächlich immer noch unterhalten, die Kamera ist längst aus, der Beitrag im Kasten. Wie sie so dastehen, geben sie ein großartiges Pärchen ab. Der Singer-Songwriter und die Großraumdisko. Zu gerne würde man ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, ob und wie sie sich riechen können, zum Beispiel, aber das wäre nicht angebracht. Genug geschnüffelt.

Gludernde Lot (5 Minuten Stadt)

In den Schlaf dringen dumpfe Explosionen. Wumm. Pause. Wumm. Erst einmal nichts Ungewöhnliches hier im Grenzgebiet zwischen Wedding und Prenzlauer Berg. Der benachbarte Gleimtunnel ist ja nicht nur um Neujahr beliebter Ort für halb legale Sprengungen. Schallt doch so schön. Und war das nicht gerade ein Heuler? Eine Partymeute feuert auf dem Heimweg noch ein paar Kracher ab. Oder nicht? Beim nächsten Blinzeln tanzt Blaulicht auf der Schlafzimmerdecke, von der Straße dringen Rangiergeräusche nach oben. Okay, also mal schauen. Leicht genervtes In-die-Küche-Schlurfen. Küche ist taghell. Unten steht die Feuerwehr. Im Tunnel brennt ein Auto.

Auch klar nun, woher der Krach kam, denn gerade knallt es die Heckscheibe weg, Flammen schlagen aufs Dach. Routiniert und mit der Aussichtslosigkeit angemessener Nicht-Hektik werden Schläuche ausgerollt. In meinen Ohren plötzlich – ein Traumrest? – die stammelnde Stimme von Edmund Stoiber: Die gludernde Lot! Die lodernde Flut!!! Ganz ruhig, Ede, denke ich, und: Schon klar, dass der Hektiker es nie hierhergeschafft hat, in die Hauptstadt der Lässigkeit. Schwarzer Rauch dringt aus dem Tunnel. Der Wagen brennt noch ein bisschen vor sich hin. Scheint ein Mercedes zu sein. Also wohl wieder eine dieser Anti-Yuppie-Attacken. Na ja. Nun ist das Feuer aus. Zurück ins Bett. „Was war?“, fragt die Freundin. „Ach nichts“, sage ich und küsse sie auf die Stirn, „unten ist nur ein Auto explodiert.“ (5 Minuten Stadt, Tagesspiegel)

Sein Kampf

– Serdar Somuncu bearbeitet als zorniger Gegenpapst das System von innen – ein großer Künstler und brillanter Redner

Die allerersten waren die Ossis. Die ersten offiziellen Opfer des Hasspredigers, aus einer Laune heraus. Serdar Somuncu erzählt von dem Urlaubstag in Italien vor bald 20 Jahren, an dem er im Auto sitzend urplötzlich zu einer minutenlangen Tirade gegen die reisefreudigen Ostdeutschen ansetzt, die neuerdings den Westlern die Straßen verstopfen. Pointe à la Somuncu: „Meine Freundin hat sich fast vollgekotzt vor Lachen.“

Man darf das jetzt, bitte, nicht falsch verstehen. Plumpe Stammtisch-Hetze ist ja genau das, was der 44-Jährige nicht im Sinn hat, auch wenn ihm das mitunter vorgeworfen wird, von denen, die ihn nicht verstehen. Oder nicht verstehen wollen. Nein, hinter dem beißenden Spott gegen Minderheiten – Türken, Juden, Nazis, Schwule, Schwarze, Behinderte, egal – steckt bei Somuncu eine programmatische Provokation, die so viel mehr ist als die Laune eines gelangweilten Urlaubers.

Mit seinen kommentierten Lesungen von Hitlers „Mein Kampf“ wurde der gelernte Musiker und Theaterschauspieler ab Mitte der 90er Jahre einem breiteren Publikum bekannt, Zehntausende Kilometer Autobahn, unermüdliche Grassroots-Schufterei, insgesamt fast 1.500 Abende. Eigentlich ist es Somuncu selbst, der den großen Kampf führt.

Wogegen aber kämpft er?

„Es geht um Selbstbestimmung und Freiheit“, antwortet Somuncu mit feinem Lächeln. Er ist gerade mit dem Auto von Münster nach Berlin gefahren, er sollte erschöpft sein. Er sagt, hellwach: „Es geht um die Frage: Wie geht das moderne Individuum mit den Möglichkeiten um, sich selbst zu bestimmen? Oder leben wir doch noch in Diktaturen, obwohl wir denken, wir hätten alle Möglichkeiten, frei zu sein?“

Wer nur die Kunstfigur Somuncu kennt, den geifernden „Hassprediger“, der sich neuerdings gar als „Hassias“ zum diktatorischen Anführer seiner eigenen Pseudo-Religion aufgeschwungen hat, der mag von solch akademischen Ausführungen irritiert sein. Aber natürlich ist auch längst die Person hinter der Maske, der echte Somuncu, der breiten Öffentlichkeit bekannt. Seit Jahren taucht Somuncu, in Istanbul geboren, in Deutschland aufgewachsen, immer wieder in den deutschen Talkshows auf, bei Markus Lanz und Anne Will, meist zum Thema Integration. Dort besticht er mit rhetorischer Brillanz und scharfer Argumentation. Das Ziel aber ist das gleiche: Die Diktatur bekämpfen, egal wie man sie im Einzelfall nennen will, Bigotterie, politische Korrektheit oder Kapitalismus.

„Political correctness ist doch nichts anderes als versteckte Intoleranz“, so steht es im Begleittext des gerade erschienenen „Hasstaments“, der verschriftlichten Internet-Tiradenshow „Hatenight“. Indem er, als Künstler, Witze über Behinderte mache, sagt Somuncu, schließe er sie doch als erster überhaupt endlich ein in den Kreis der „Normalen“. Die ständigen Grenzüberschreitungen sind dabei keinesfalls sich selbst genug. „Es geht nicht darum, den Judenwitz zu machen, damit er stattfindet“, sagt Somuncu. „Es geht darum, den Judenwitz zu entmystifizieren davon, dass er nicht stattfinden darf.“

Somuncu entlarvt auch die Inkonsequenz des modernen Menschen, unser aller Inkonsequenz. Beschimpft die „saturierten Ökos, die den ganzen Tag Bionade saufen und nicht wissen, dass die längst von Dr. Oetker gekauft ist“. Fragt, warum alle bei Brüderle aufschreien, aber Dieter Bohlen in der DSDS-Jury alle sexistischen Zoten durchgehen lassen. Warum wir von Freiheit träumen und uns von Facebook auf Schritt und Tritt verfolgen lassen. Er selbst schließt sich ausdrücklich ein in diese Zerrissenheit. „Ich bin auch bei Facebook“, sagt Somuncu.

Er sprengt Konventionen, Genres und Erwartungen, mit Vorsatz, immer wieder. Alle drei, vier Jahre häutet er sich, er startet dann einen neuen Abschnitt, ein neues Programm, das gleichzeitig auf allem vorherigen aufbaut, auf der Entwicklung, die der Künstler zusammen mit seinem Publikum durchgemacht hat. Denn natürlich ist es kein Zufall, dass Somuncu nach „Mein Kampf“ und Goebbels‘ Sportpalast-Rede dann irgendwann die „Bild-Zeitung“ auf der Bühne seziert.

Auch gegen sich selbst setzt der Künstler immer wieder die Kreissäge an, die wir aus dem „Hatenight“-Logo kennen: „Ich muss mein Klischee immer wieder zerstören“, sagt er. Mit seiner Vergangenheit als Fernseh-Comedian im Quatsch Comedy Club und Co. hat er gebrochen. Nachdem er sich dem großen TV-Mechanismus unterworfen hatte, aus Neugier und natürlich auch wegen des Geldes, wurde er von der Maschine wieder ausgespuckt, weil er, ganz Somuncu, auch dort aus dem Rahmen fallen wollte.

Somuncu macht seitdem wieder das, was er am besten kann: Provokation durch Kunst, aber mit Unterbau. Denn ohne die zweite Ebene, den persönlichen Bildungsauftrag, wäre all das Geschimpfe und Tabugebreche ja sinnlos. „Ich will die Leute herausfordern, selbst zu denken an einem Theaterabend.“ Überforderung statt Unterforderung, Somuncus Ansatz basiert auch auf dem unerschütterlichen Glauben an die Neugier der Menschen. Schon dafür müsste man ihm einen Preis verleihen.

Mit fast 45 nun füllt Somuncu an zwei Abenden in Folge die Columbiahalle, ohne ein einziges Werbeplakat. Er ist in gewisser Weise angekommen, einerseits. Was er natürlich so nie unterschreiben würde. Er sagt, er sei Punk geblieben, obwohl er jetzt Pop ist. Darauf ist er stolz.

Andererseits fallen ihm mit zunehmender Karrieredauer die Häutungen immer schwerer. All die Rollen, die er gespielt hat, die Erwartungshaltung der Leute, die muss er immer wieder beiseite schieben, um sich treu zu bleiben. Somuncu hält kurz inne, dann sagt er: „Manchmal wünsche ich mir, wieder ein weißes Blatt sein zu können, ein Programm zu machen, bei dem es keine Rolle spielt, wer ich bin oder woher ich komme.“ Und dann lächelt Serdar Somuncu wieder sein feines Lächeln. Weil er weiß, dass das unmöglich ist. Selbst für einen wie ihn.

Luxus an der Pferdekoppel

– Nördlich des Mauerparks sollen 500 hochpreisige Wohnungen entstehen – Bürgervertreter fühlen sich von der Politik übergangen. Ein Besuch bei Empörten (erschienen im Tagesspiegel)

Es ist kurz vor sieben, als die Eskalation droht. „Es kann doch nicht alles an einer Wortmeldung scheitern? Was ist denn das für eine Art der Bürgerbeteiligung?“ Rainer Krüger, hochroter Kopf, ist außer sich, seine Stimme überschlägt sich fast. Rathaus Mitte, erster Stock, es tagt der städtebauliche Ausschuss des Bezirks. Dröge Sitzung. Doch bei TOP 5.3, „Mauerpark: Neuplanung Groth Gruppe“, laufen die Dinge aus dem Ruder. Die Nerven liegen blank.

Worum geht es? Scheinbar nur um eine Lappalie.

Der Vorsitzende sperrt sich gegen die Ausweitung der Redebeiträge. Nur zwei Bürgerinitiativen sind eingeplant, doch auch die „Freunde des Mauerparks“ möchten reden. „Wir sind seit über zehn Jahren aktiv“, ruft ihr Vertreter. Rainer Krüger von der „Bürgerwerkstatt“ solidarisiert sich. Es wird laut. Es wird gedroht. Der Ausschussvorsitzende sagt, er könne auch alle Beiträge verbieten lassen. Pfiffe. Buhrufe. Dann doch noch: die Lösung. Der Vertreter der „Piraten“, ein gemütlicher junger Mann mit überlegenem Lächeln und Sonnenbrille im Pullikragen, stellt seine Redezeit zur Verfügung. Aufatmen.

Worum also geht es?

Einfach gesagt: um die Bebauungspläne nördlich des Mauerparks. Auf dem Gelände, das drei Jahrzehnte Niemandsland zwischen DDR und West-Berlin war und seitdem mit den Baracken eines Schrotthändlers und eines Gerüstbauers auskommt, sollen ab Herbst 2014 über 500 Wohnungen entstehen.

„Luxuswohnungen“, präzisiert Rainer Krüger und schüttelt energisch den Kopf. „Nein“, sagt er, „diese Luxusvillenbebauung kann nicht die Lösung sein.“ Krüger, 73 Jahre alter Geografie-Professor im Ruhestand, feiner Schnurrbart, runde Brille, sitzt, nun ganz ruhig, am Esstisch seiner Wohnung am Falkplatz. Ein Neubau mit Traumaussicht. Schmeling-Halle, Fernsehturm, Zionskirche, Deutsche Welle. Nicht wenige würden auch das hier, nun ja, als Luxus bezeichnen. „Wir hatten sehr viel Glück, dass wir die bekommen haben“, sagt Krüger. Die Reichen haben in Deutschland immer das Gefühl, sich für ihren Wohlstand entschuldigen zu müssen, und ganz besonders die Reichen in Prenzlauer Berg. Das Haus war nicht mal fertig, da hatte unten einer schon einen Stein in die Fensterfront geworfen.

„Wenn ich hier hinziehe, möchte ich mich auch einbringen“, sagt Krüger, Sprecher der „Bürgerwerkstatt Mauerpark fertigstellen“. Er sagt: „Wenn die Gentrifizierungswelle einfach weiter in das Brunnenviertel schwappt, dann hat das mit sozialer Durchmischung nichts zu tun. Dann ist das eine Entmischung.“ Krüger spricht Gentrifizierung mit weichem G aus, wie im Englischen. „Die Menschen, die dort einziehen, die werden von ihrem Einkommen, von ihrem ganzen Lebensstil her, einen Dreck tun, sich irgendwie mit dem ärmeren Brunnenviertel zu verbrüdern. Ihr Blick wird nur in Richtung Prenzlauer Berg gehen.“

Das Brunnenviertel liegt, von Krüger aus gesehen, auf der anderen Seite des maroden, triefenden Gleimtunnels, in Wedding. Hier wohnen viele Migrantenfamilien. Hier verdienen die Leute generell weniger. Das Bauareal liegt auf Weddinger Grund. Hier beginnt sich der Bürgerprotest, zum Beispiel gegen die geplante neue Auffahrt an der Gleimstraße, gerade erst zu formieren.

Krüger engagiert sich schon seit 2010 gegen eine „massive Bebauung“ im Norden des Tunnels und für eine Erweiterung des Parks im Süden. Letztere ist wie erhofft beschlossen, Flohmarkt und „Mauersegler“ dürfen bleiben, Joe Hatchiban wird weiter sein Open-Air-Karaoke veranstalten können. Doch im Norden sieht die Lage aus Krügers Sicht weniger rosig aus. Die Poltik hat nun doch eine üppige Bebauung für rund 600 Wohneinheiten beschlossen. Der entsprechende Städtebauliche Vertrag wurde von der Senatsverwaltung eilig entworfen, von Mittes Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) noch vor der Sommerpause zur Vorlage gebracht und von der Groth-Gruppe im Dezember 2012 unterzeichnet.

„Eine Maulschelle vom Feinsten“, sagt Birgit Blank und dieser hübsche Berliner Ausdruck deutet darauf hin, worum es im Kern auch geht in dieser Angelegenheit: um das Verhältnis zwischen Bürger und Politiker. Von den Entscheidungsträgern in Mitte sei sie am meisten enttäuscht, sagt Blank.

Blank sitzt im großen Gemeinschaftsraum der Jugendfarm Moritzhof, für den sie sich seit 1993 engagiert. Seit 2000 steht der kleine Stadtbauernhof direkt an der Bezirksgrenze – zuhause sind hier unter anderem zwei Ponys, zwei Ziegen, drei Schafe und die Schweine Uschi und Peppi. An Sommertagen kommen an die 150 Kinder, sagt Blank. Und ab 2017 kommen die Reichen.

„Ich glaube nicht“, sagt Birgit Blank, „dass wir als Kollegen Lust haben, für reiche Eltern ein Projekt vorzuhalten, das sie kostenlos nutzen wollen, und die Kinder der Ärmeren können es dann in Marzahn überhaupt nicht mehr nutzen.“

Sie legt Bestimmtheit in ihre Stimme, doch es schwingt auch Unsicherheit mit. „Ich habe hier nicht 20 Jahre meines Lebens reingesteckt, um mich von Herrn Groth einfach wegschieben zu lassen.“ Die 45-Jährige wirkt erst einmal nicht so, als lasse sie sich leicht aus der Bahn werfen. Sie ist das Kämpfen gewohnt, hat Fördermittel erstritten, Spenden für den Grundstückskauf. Doch das hier ist offenbar eine neue Art der Bedrohung, sechs Stockwerke hoch. Blank schaut aus dem Fenster auf die Pferdekoppel. „Der Hahn kräht zu laut, das Pferd wiehert, der Geruch ist zu streng oder der Ziegenbock hat vor meinen Vorgarten geschissen – Nutzungskonflikte sind programmiert.“ Sie sieht sich schon von ihrem Grund und Boden geklagt, wie die Betreiber des „Knaack“-Clubs oder die anderen Gentrifizierungsopfer.

Nutzungskonflikte gab es auch früher schon. Der Kompostgeruch und die vielen Fliegen hatten Anwohner auf den Plan gerufen. Seitdem wird der Mist einmal wöchentlich mit einem Hänger abgefahren. Dennoch sagt Blank: „Wir haben hier eine große Akzeptanz.“ Und die sieht sie in Gefahr.

Als Puffer zwischen sich und den Neubauten hatte sie sich für ein „Grünes Band“ eingesetzt, es sollte ursprünglich von der Bernauer Straße bis zur Bösebrücke reichen, entlang des früheren Todesstreifens, doch das hat die Politik mittlerweile verworfen. Sie will jetzt wieder eine Bebauung nach Plan des dänischen Architekten Carsten Lorenzen. Neue Mehrheiten hatten sich plötzlich gebildet. Nun fehlt nur noch das abschließende Votum der Bezirksverordneten von Mitte. In der Ausschusssitzung erhalten die empörten Bürgervertreter keine Antworten. Die offenen Fragen würden im Laufe des Bebauungsplanverfahrens geklärt, teilt Baurat Spallek lapidar mit.

Birgit Blank führt zum Abschluss über ihren Hof. Uschi und Peppi grunzen wohlig im Stroh. „Herr Groth hat immer gesagt, er will uns besuchen“, sagt sie und streichelt eine der Ziegen. „Gekommen ist er nicht ein einziges Mal.“ Sie lacht bitter, als habe sie damit ohnehin nicht gerechnet.

„Die Zusage steht!“ Klaus Groth, 74 Jahre, dunkler Anzug, weißer Haarkranz, ist ein mächtiger Kerl mit energischer Stimme. Wenn man für ein Konversationslexikon einen Baulöwen zeichnen müsste, man könnte einfach Groth nehmen. Er spricht mit norddeutsch rollendem „r“ und lässt bei wichtigen Punkten seine Hand donnernd auf den Tisch fallen. Es ist eher eine Pranke. „Der Moritzhof ist für unser Quartier eine Bereicherung, das sage ich mit aller Überzeugung.“ Groth sitzt in seinem Konferenzraum, Blick auf den Kurfürstendamm, beste Lage. Vor ihm auf den Tisch die Bebauungspläne. „Die Bürgerwerkstatt will den Lorenzen-Entwurf nicht, das hat sie mehrfach erklärt. Aber er wurde vom Parlament beschlossen. Man schlägt uns, aber man muss die anderen schlagen.“ Er habe keine andere Möglichkeit, sagt Groth, als die Rahmenbedingungen der Politik zu erfüllen.

Groth sieht die Dinge gelassen. Er hat in Berlin schon zahlreiche Großprojekte bauen lassen, unter anderem die CDU-Zentrale am Tiergarten. Er weiß, dass die Politik auch diesmal in seinem Sinne entschieden hat. Ein Zurück ist schwer vorstellbar. Die Parkerweiterung im Süden hat im Dezember bereits offiziell begonnen, sie ist wiederum gekoppelt an den Städtebaulichen Vertrag. Und in dem steht seit Dezember Groths Name.

Groth ist den empörten Bürgern entgegen gekommen – ein bisschen. Er hat ein paar Baublöcke herausgenommen und gegenüber des Moritzhofs einen leicht erweiterten Eingangsplatz geschaffen. Ansonsten zieht sich der Löwe auf die geschützte Position des Ungefähren zurück. „Was heißt ‚ökologisch ausgerichtet‘?“, fragt er. Und auch ’soziale Durchmischung‘ habe ihm bisher keiner definieren können, „nicht mal der Senat oder der Bezirk“. Und Luxus? „Wenn man 3.500 Euro Verkaufspreis (pro Quadratmeter) in der Lage als Luxus bezeichnet, dann weiß ich nicht, was Luxus wirklich ist!“

Ganz genau weiß Groth dagegen, dass all diese hübschen Vereinbarungen in den Verträgen nur sehr allgemein formuliert sind. Konkretes Interesse einer Genossenschaft besteht derzeit nicht, bestätigt er. Und so werden die 300 geplanten Mieteinheiten entlang der Ringbahngleise im Norden mindestens 9,50 Euro nettokalt kosten. Groth sagt: „Es geht zum einen um die Berücksichtigung der Nachbarschaft, aber es geht vorrangig um die Leute, die in diesem Quartier wohnen werden und ihre Bedürfnisse.“

Klaus Groth streicht sich den Schlips gerade und lehnt sich zufrieden zurück. „Ich glaube“, sagt er, „wir haben eine ganze Menge machen können, um die nachbarschaftlichen Beziehungen zu begründen.“

I got the love!

– Der bemerkenswerte Soulsänger Charles Bradley gibt ein bemerkenswertes Konzert

Die Meute wird langsam ungeduldig. An die 200 Menschen quetschen sich in den engen Kellerraum, hier im „Fluxbau“ am Spreeufer nahe der Oberbaumbrücke. Draußen gluckert dunkel der Fluss, und Charles Bradley lässt auf sich warten. Nervöses Klatschen. Pfiffe. Ungeduld. Das Publikum: Jung, vielleicht Mitte, Ende zwanzig. Große Brillen, enge Hosen, knallroter Lippenstift bei den Frauen. Ein paar Afros. Und Mützen. Viele Mützen. Und Ungeduld. Es soll doch bitteschön pünktlich losgehen, selbst wenn der Eintritt frei ist.

Für einen Platz auf der Gästeliste musste man nur dem Radiosender FluxFM eine Email geschrieben haben. „Ja, ich will dabei sein, wenn Charles Bradley sein neues Album vorstellt“ oder so ähnlich. Die Antwort kam postwendend. Die, die nun dabei sind, sind sicher auch neugierig geworden auf Bradleys Geschichte, die keine gewöhnliche ist. 64 Jahre ist er schon alt, aber erst seit zehn Jahren Profi-Musiker. Vorher war er einige Jahre James-Brown-Double, Künstlername „Black Velvet“, davor Koch, davor Obdachloser. Jahrzehntelang war der Soulsänger Charles Bradly einer von vielen armen, schwarzen Amerikanern.

Bradley kommt nun auf die Bühne, grauer Rolli, Silberkettchen, funkelnder Ring. Die Menge johlt. „The Screaming Eagle of Soul“ nennen sie ihn, und der Adler schreit, kreischt gleich los mit einer Stimme, die einen packt wie mit Klauen. Mächtig, rauchig. B.B. King auf zwei Packungen Filterlosen.

Nach dem ersten Song die freundliche Bitte, doch das Echo vom Mikro zu nehmen. Völlig logisch: Dieser Mann braucht keine technische Hilfe. In jeden Ton legt er sein Leben. „I believe in your love“, singt er, mit halb geschlossenen Augen und schmerzvoll verzerrtem Gesicht. „I got the love“, singt er, „strictly reserved for you and me.“ Simple, scheinbar naive Botschaften, vorgetragen mit unbändiger Energie, jede Note ein Bekenntnis.

Dass dieser Abend überhaupt möglich ist, scheint Bradley ehrlich zu erstaunen, immer noch und immer wieder. Er will sich rechtfertigen: „Wisst ihr, ich spiele euch hier nichts vor“, sagt er zwischen zwei Songs. „Manche tun das. Aber ich habe es alles selbst erlebt.“ Die Monate auf der Straße, die zu Jahren werden. Den Tod seines Bruders, erschossen vom eigenen Neffen. Die Zeit des Zweifelns, des Versteckens. Erst jetzt, im Alter, lebt er sie aus, seine Liebe zur Musik, sein Gesangstalent, das er jahrzehntelang verheimlicht hat vor allen Fremden. Und 50 Jahre, nachdem ihn seine Schwester zu seinem ersten Konzert mitgenommen hat, James Brown natürlich, steht er vor diesen ganzen jungen Berlinern mit ihren Schlumpfmützen und sagt: „Ich bin euch unglaublich dankbar. Dafür dass ich hier sein darf. Ich danke euch dafür, dass ihr mit mir durch den Sturm gegangen seid!“

Einer hat ein Fenster geöffnet. Der Geruch des Flusses steigt in den Raum. „Ich fühle mich wie Otis Redding“, sagt Charles Bradley, „wie er da unten am Dock saß.“

Bradley singt seine neuen Soul-Balladen, sechs, sieben Stück, er schleudert sie in den Raum, begleitet nur von einer Akustik-Gitarre und zarter Perkussion. Längst schon ist das kein Gig mehr, es ist eine Messe.

„Why is it so hard to make it in America?“ In einem der eindrücklichsten Songs stellt Bradley die Frage seines Lebens: Warum nur ist es so schwer, es in Amerika zu etwas zu bringen? „In Germany too!“, ruft einer aus der Menge, aber das klingt sofort falsch, fast wie eine Frechheit. Ist das Leben hier schwer, für junge, weiße Mittelklasse-Deutsche? Schwerer als drüben?

Bradley aber reagiert sanft: „Ja, du hast recht, Bruder“, sagt er, „die Leute haben es heute überall auf der Welt schwer. Weil es so schwer ist, auf die Seele zu hören.“ Die Menge raunt zustimmend. Und dann singt Charles Bradley davon, wie einfach es eigentlich sein sollte, es in dem Land zu schaffen, aus dem er stammt. Und singt die Zeile, die er selbst widerlegt hat: „Looks like nothing’s gonna change.“

Das Erstaunlichste aber kommt nach den Songs. Die letzten Akkorde sind kaum verklungen, da steigt Bradley hinunter zu seinem Publikum. Er beginnt, die Leute zu umarmen. Er will, so scheint es, wirklich jedem persönlich danken. Fängt vorne an, arbeitet sich nach hinten durch. Dutzende Umarmungen, jede einzelne fest und lange. Und die Menschen stehen schier Schlange, lächeln ihn mit großen Augen an, strecken ihre Arme aus, hier, mich auch! Sie reißen sich darum, diesen Mann zu drücken. Als hofften sie, dass etwas von seiner Zuversicht, seiner weisen Ruhe auf sie abperlt. Smartphones erleuchten den Raum. Bradley ist fast ganz hinten angelangt. Ein besonderer Moment, nicht nur für ihn, man spürt das. Die große Sehnsucht der Twentysomethings nach ein bisschen Nähe. Woher kommt die, wieso bricht sie jetzt so unvermittelt hervor? Die Seele kann man nicht liken, vielleicht ist es das.