Die Winzigkeit des Glücks (Leseprobe)

Johannes Ehrmann: „Die Winzigkeit des Glücks, Brief an meine Töchter“, ersch. am 21. Juli 2017

Unsere Reise

Wir sitzen im Auto, Papa wie immer vorne links, neben ihm Mama, und dahinter ich in meinem schwarzen Römer-Sitz mit dem orangefarbenen Pult. Wir fahren durch den Sommer, eine enge Straße, wir kommen zwischen steilen Felswänden hindurch, der Wagen legt sich in die Kurve, dann sind die Felsen weg und alles reißt auf. Wir sind im Freien, ich höre das Klavier aus dem Kassettenradio, und unter uns liegt golden glitzernd das Meer.

Das ist sie, meine erste Erinnerung, der älteste Moment, der in mir geblieben ist. Bis heute hat nichts und niemand ihn verdrängen können aus dem alten Winkel meines Wesens. Ich kann ihn spüren, wenn ich will, diesen Augenblick, diesen Gefühlsakkord, ich muss drei gewesen sein oder vier. Irgendwann, Jahre später, ist mir die Kassette wieder in die Hände gefallen, und ich habe das Klavier gehört, das Schlagzeug, die Stimme des Sängers, that’s just the way it is, und alles war wieder da. Da saß ich wieder, hinten rechts in unserem gelben Passat-Kombi, die Nase an der Scheibe, ein heißer Sommer gegen Ende eines Jahrtausends, das ihr nie kennen werdet.

Das Licht, das Meer … Ich kann es sehen, wenn ich will. Den Ort, an dem alles losgegangen ist, manchmal hole ich ihn hervor von da unten, dann erfüllt er mich für eine Weile und hilft mir beim Weitermachen.

Weit weg das Meer, weit weg die Berge von der großen, flachen Stadt, unerreichbar die Erinnerung in unseren ersten Wochen mit euch. Unsere Berliner Welt ist winzig, zwei Zimmer für vier Menschen, die Decken scheinen mir noch niedriger als sonst. Wir igeln uns ein, drehen die Heizung auf, stecken euch unter unsere Strickjacken, lassen euch schlafen auf der bloßen Haut. Noch immer schwankt eure Temperatur, sechsunddreißig acht, sechsunddreißig drei, wir sollen noch nicht mit euch nach draußen, wo der falsche Frühling Einzug gehalten hat, die kalte Sonne und der polnische Märzwind.

Immerhin, wir sind zuhause, chez nous, wie eure Mutter am Telefon zu ihren Eltern sagt, am sechsten Tag durften wir gehen, alle vier. Aber etwas hinter sich zu lassen, ist das eine, und etwas Neues zu beginnen, noch einmal etwas ganz anderes, das merken wir jetzt.

Alles hatten wir vorbereitet, das Beistellbettchen fest mit zwei Riemen an unser großes Bett gebunden, die schwere Wickelauflage auf die Waschmaschine gehievt, eure Strampler und Bodys und Mützchen sauber gefaltet im Schrank verstaut. Aber nichts ist bereit, das merken wir schnell, am wenigsten wir selbst.

Es dauert Tage, bis wir durchblicken durch all die Bedürfnisse, Wochen, bis wir die nötigen Mengen einschätzen lernen, bis wir vernünftig Haushalten können. Ständig brauchen wir irgendwas, dauernd fehlt es hier oder da, Milchpulver, Wickelunterlagen, Fluortabletten aus der Apotheke, wir haben die falschen Schnuller und Fläschchen, ein Sterilisator muss her, ein Flaschenwärmer, schon wieder neue Windeln. Euer Verbrauch ist sofort gigantisch, jeden Morgen landet ein prallvoller Plastiksack im Müll. Jeden zweiten Tag hetze ich aufs Neue hinüber zum Einkaufszentrum, während eure Mutter euch in Schach hält, auf dem Rückweg bringe ich tütenweise Fastfood mit, weil uns zu allem anderen die Zeit fehlt und die Energie.

Plötzlich müssen wir alles selber machen, sind ganz alleine, haben niemanden mehr, der hilft und Rat gibt oder auch nur zuhört, unsere Eltern lange Tagesreisen entfernt, meine in der Pfalz, die eurer Mutter im Burgund, und alle um uns herum sind in ihre eigenen Leben vertieft. Die Hebamme kommt und antwortet nicht auf unsere Fragen, eure Mutter ist verzweifelt, ich genervt. Nachts schlafen wir im Wechsel in getrennten Betten, um wenigstens für ein paar Stunden zur Ruhe zu kommen, und jeder von uns ist so allein wie der andere.

Wir laufen auf Hochtouren und kommen doch nicht vom Fleck, unser Leben kommt mir vor wie ein Wagen, der mit heulendem Motor auf einem einsamen Parkplatz steht. Wir machen und machen, um mit euren Bedürfnissen Schritt zu halten, wir sind glücklich und verzweifelt, sehen euch in die Augen, die ihr erst nach und nach öffnet, versuchen euch zu verstehen, wollen etwas erkennen in euren Gesichtern, ein Lächeln, ein Zwinkern, war da nicht was?

Und für euch beide ist alles noch viel neuer als für uns, selbst an die einfachsten Dinge müsst ihr euch erst gewöhnen, ans Essen und ans Schlafen, an das Licht, den hellen Tag und die tiefe, dunkle Nacht. Sobald die Sonne nachmittags nicht mehr ins Wohnzimmer scheint, das Licht sich ändert, fangt ihr an zu schreien. Dann tragen wir euch durch die Wohnung, bis endlich Schlafenszeit ist. Die erste Nachtschicht ist meine, ich versinke in Kissen und Decken, will nie wieder aufstehen, zwei Stunden später ist die erste von euch wieder wach.

Willkommen im real life, schreibt eine Freundin mit zwei älteren Kindern, aber die Sache ist, es fühlt sich überhaupt nicht so an. War das echte Leben nicht die 33 Jahre davor? Vom Wohnzimmerfenster sehe ich die Leute drüben im Park, auf Fahrrädern, zu Fuß, junge Pärchen Hand in Hand. Ich sehe mich und eure Mutter in einer Zeit, die so weit weg scheint, denke an unsere kleinen Reisen, an lange Wochenenden in Barcelona und Prag, an Nächte an der Adria und unseren Sommer in Andalusien. Manchmal denke ich, das ist jetzt für immer vorbei, kurz darauf dann wieder, was für ein Blödsinn das ist.

Jetzt macht sich da also wieder ein alter Kombi auf die Reise, denke ich, 30 Jahre später, nur der kleine Junge von damals sitzt nun vorne links und muss zusehen, dass er die Kurven kriegt. Die Sonne, das Licht, das Meer … Was war es, was mich damals so beeindruckt hat? Die Weite des Blicks, die Kraft der Musik, der weite Himmel, die Freiheit der Bewegung, das Glück des ersten echten Sommers im Süden? Vielleicht ja ein bisschen von allem. Vielleicht ist da zum ersten Mal alles zusammengekommen, was Erfüllung und später Sehnsucht macht, im Kopf, im Herzen des kleinen Kinds, auf seiner ersten großen Fahrt ins Helle.

Was wird eure erste große Erinnerung sein, frage ich mich, welcher Ausblick, welcher Song, welcher Himmel, was wird von all dem in euch bleiben? Ist es nur Zufall oder hat es eine größere Bedeutung, dass es dieser Moment war bei mir und kein anderer? Welche Dinge bleiben uns und bestimmen sie noch Jahre später unser Handeln? War es wirklich nur ein Augenblick oder am Ende doch mehr? Keiner kann mir ja heute mehr sagen, ob es nicht doch die Verschmelzung von Stunden war, von Tagen, Wochen vielleicht, die Summe aller Teilchen von sechs Wochen Sommerferien, einer ganzen Autoreise, (einer ganzen Kindheit sogar?), festgehalten in einem Blick zurück. Ich weiß nicht, was euch einmal beeindrucken wird, vielleicht schon jetzt beeindruckt in diesen ersten, wilden Wochen, keiner kann es sagen.

Wenn ihr beide schlaft oder zufrieden seid und sich die Dinge für eine Weile beruhigen, erzählen eure Mutter und ich uns manchmal von eurem Anfang, vom Beginn unserer Reise, er lässt uns nicht los. Zwei Blickwinkel auf die Plötzlichkeit der Ereignisse. Die Monitore, das grüne Tuch, die Stimmen der Ärzte, von denen ich nur die weißen Schlappen sehen konnte, und dann schon dieser Schrei, der mir durch den ganzen Körper gefahren ist, und keine Zeit, zu überlegen, was das heißt. Schon hatte ich etwas im Arm, das ich nie zuvor gesehen hatte, ein Leben, ein neues Leben, eingewickelt in warmen weißen Tüchern. Und dann, keine drei Minuten später, gleich noch eins, auf dem Arm eurer Mutter, so plötzlich alles, so unvermittelt, ein Schrei und dann noch einer und alles ist über den Haufen geworfen, zwei Paar Augen blinzeln ins grelle Deckenlicht, zwei winzige Wesen aus einer anderen Welt.

Ihr selber, Frida und Ella, werdet euch daran natürlich unmöglich erinnern können. Wir werden euch davon erzählen, eines Tages. Und dann? Wohin wird euch eure Reise einmal führen, wohin können wir euch mitnehmen über die Jahre, was werden wir euch zeigen? Möglichst viel, denke ich, Gutes wie Schlechtes, egal, Hauptsache, ihr seht, wie groß diese Welt ist, wie kompliziert und anstrengend und schön.

Es scheint alles so bedeutsam, jede Entscheidung kann alles beeinflussen. Ich sitze auf der Couch im Wohnzimmer, ihr liegt gut angeschnallt in euren gepolsterten Wippstühlchen, eure Beine in Wolldeckchen gewickelt, die Schnuller im Mund. Ich halte euch mit beiden Füßen in Bewegung, warte darauf, dass ihr einschlaft. Ich höre den Baulärm da draußen, die Lastwagen, die über die Brücke nebenan rumpeln. Ich sehe die braunen Staubschwaden am Balkon vorbeiziehen. Um uns herum werden sie geschlossen, die letzten Lücken der vernarbten Stadt, 600 Wohneinheiten hinten, 100 gegenüber, hochpreisig oder austauschbar oder beides zusammen.

Bald wird hier kein Platz mehr für uns sein, wir müssen weg, das ist klar, unser Schlafzimmer wird feucht, wenn es unter null ist, noch einen Winter wollen wir nicht hier sein, nicht mit euch, es geht nicht. Nur wohin? Ihr braucht bald ein eigenes Zimmer, Platz für zwei Betten, wo sollen wir ihn finden, wo unser neues Zuhause, wenn wir doch nicht mal entschieden sind, wo wir anfangen sollen zu suchen? Wenn etwas frei wird hier in der Gegend, dann ist es zu teuer oder nicht zu bekommen. Und alle, die noch eine bezahlbare Wohnung haben, klammern sich daran, so lange sie können. Die neue Stadt, der Magnet Berlin. Stößt er uns ab?

Ihr fangt an zu murren in euren Stühlen, ich setze mich auf den Rand der Couch und schaukele ein bisschen kräftiger. Ich sehe eure Augen, die groß auf mir ruhen. Ihr scheint schon so viel von mir zu erwarten, euer Blick traut mir mehr zu als ich mir selbst. Noch seid ihr hier drinnen, gut verpackt, noch lassen wir euch nicht los und nicht gehen, noch längst nicht, aber irgendwann müssen wir doch. Irgendwann werdet ihr reisen, erst mit uns, dann auch allein (oder miteinander), weit weg, übers Meer, vielleicht sogar bis ans Ende der Welt, in das Land der sengenden Sonne, wo sie Fußball mit einem Ei spielen und die Tiere ihre Kinder im Beutel durch den Busch tragen. Viel weiter als bis dahin geht es nicht von hier aus, wenn ihr nicht gerade zum Mond wollt.

Melbourne, Australien. Meine erste große Reise alleine war das, in dieses heiße, fremde Land, mit 16 Jahren, genau zwischen der Kindheit und dem Erwachsensein also, dem schwierigsten Alter von allen, weil wir noch so viel lernen müssen und doch schon denken, dass wir alles, alles besser wissen. Eine lange Reise, auf der so viel entstanden ist, nicht zuletzt eine von diesen wunderbaren Freundschaften, die keine Entfernung kennen. Zwei Jungen aus der zehnten Klasse, die nicht viel mehr als der Zufall zusammengeführt hat, der Wunsch, die Sprache des anderen zu lernen. Es wäre so viel einfacher und logischer gewesen, sich nach der Rückkehr schnell wieder aus den Augen zu verlieren. Aber wir sehen uns noch, mein Freund Lachlan und ich, wir besuchen uns immer wieder und lachen dann und trinken und erzählen, wie es der Familie geht und allem anderen. Und wenn ihr eines Tages nach 24 Stunden aus dem Flieger steigt, werden da Menschen sein, denen ihr nicht gleichgültig seid. Was für ein schöner Gedanke: Ihr seid schon auf der ganzen Welt bekannt.

Das also kann passieren, wenn ihr euch auf Reisen begebt, ihr findet neue Menschen, die ein Lächeln in der Seele tragen, und eure Welt wird größer als sie vorher war.

Es wird nicht leicht gewesen sein für meine Eltern, mich damals ziehen zu lassen, schwerer sicher als für mich. Ich erinnere mich an die letzte Nacht in Deutschland, mein Flug ging früh morgens von Frankfurt aus, und mein Vater und ich sind mit dem Auto von Berlin aus zu Oma und Opa gefahren, den Eltern meiner Mutter. Bei ihnen schliefen wir, zwei Stunden nur entfernt vom Flughafen im kleinen Saarland, wo ich geboren und aufgewachsen bin, bis ich acht war.

Spät an diesem letzten Abend in Deutschland dann warfen die Jungs von draußen Steinchen an meinen Rollladen, ich hörte sie meinen Namen rufen. Ich war schon im Bett, konnte aber noch nicht schlafen, sie waren meine längsten, alten Freunde, noch aus dem Kindergarten und der Grundschule, jedes Jahr hatten wir uns mehrmals gesehen, Weihnachten, Ostern, im Sommer, sie wussten immer, wann ich da sein würde, und bevor ich wegging, wollten sie mit mir noch einen trinken gehen, ein bisschen quatschen und lustig sein, ein paar Meter weiter gab es ein Fest.

Unten standen sie in der Einfahrt meiner Großeltern, ich oben am Fenster im zweiten Stock, alle anderen schliefen schon und ich hatte am nächsten Tag nichts weiter zu tun, als mich in ein Flugzeug zu setzen und ans andere Ende der Welt zu fliegen. Und doch ging ich nicht mit. Ich stand da im Fensterrahmen und schüttelte den Kopf, immer wieder.

Warum? Aus falschem Gehorsam, aus Vorsicht, Faulheit? Was für ein Idiot ich war, ein Kind. Sie hatten an mich gedacht, meine alten Freunde, sie wollten noch einmal los, bevor alles anders würde, sie wussten, worum es hier ging, und ich habe sie beiseite geschoben und es nicht mal gemerkt. Irgendwann sind sie gegangen.

Wenn ich heute daran denke, schüttele ich den Kopf über mich selbst. Ein Moment, den ich nicht ergriffen habe, aus Dummheit und Kurzsicht. Aus Furcht, vor was auch immer.

Nein, nein, denke ich jetzt. Ihr müsst doch da raus und wir müssen euch rauslassen, sonst bleibt alles klein in unserem Leben.

Ein paar Wochen nach der Geburt machen wir die ersten Gänge mit euch durchs Viertel. Eure Mutter zieht euch auf unserem Bett die Strickjäckchen an und die Ringelmützen, ich fahre mit dem Aufzug in den Keller, hole den Doppelwagen und schlage die Decken zurück, damit wir euch hereinheben können.

Draußen ist es sonnig, aber noch nicht ganz warm, die Zeit, wenn die Sommerjacke zu dünn ist und man unter dem Wintermantel schwitzt. Wir schieben euch am alten Fußballstadion vorbei mit seinen vier kahlen Flutlichtmasten, unter dem Baustellengerüst und der U-Bahn-Brücke an der Eberswalder Straße hindurch. Dann holpert der Wagen über das krumme Pflaster hinter der Kulturbrauerei, eure Köpfe werden wild hin und her geworfen, aber ihr schlaft tief und unbeirrbar. Wir setzen uns an den letzten freien Tisch vor dem Café, bestellen Buletten und Macchiato und warten auf Christopher und Karolina. Ihr liegt eingequetscht zwischen Holztischen und Klappstühlen, unsere Freunde kommen, wir essen und trinken und reden und freuen uns, dass in der ganzen Zeit nur eine von euch aufwacht und gefüttert werden will.

Auf dem Heimweg fühle ich mich so gut wie lange nicht, ich spüre den Kaffee im Magen und die Nachmittagssonne auf der Haut, wir halten ein paar Mal vor Schaufenstern, gucken uns Möbel an und Lampen, stellen sie in Gedanken in unsere neue Wohnung, die es noch gar nicht gibt.

Wir wissen noch nicht, wo wir in einem Jahr sein werden, wo in fünf, in zehn … Von wo in der Welt ihr uns anrufen werdet in 20 Jahren, welche Ländervorwahl wir dann wählen, um euch in euren Studentenzimmern zu erreichen. Wie lange einmal die Fahrt, der Flug in euer Leben dauert.

Ihr habt viel Glück, ihr wachst, wie selbstverständlich, mit zwei Sprachen auf, mit meinem Deutsch und dem Französisch eurer Mutter, hört dazu noch das einfache Englisch, das wir untereinander sprechen. Zwei Sprachen werdet ihr können, vielleicht drei, ganz von alleine.

Wo führt sie euch hin, eure Reise? Welche Dinge werdet ihr umarmen, welche schnell wieder fallen lassen? Vielleicht werdet ihr ja die Musik entdecken so wie eure Mutter als kleines Mädchen, ein Arbeiterkind in einer kleinen Stadt mitten in Frankreich. Die Neugier hat sie weggezogen von ihrem Elternhaus, jede Woche aufs Neue, bis ans andere Ende der Stadt in das mächtige Gebäude des Konservatoriums. Ganze Nachmittage hat sie da am Klavier verbracht, oben unterm Dach, stundenlang hat sie dort gespielt, eure Mutter, und nicht weil irgendjemand das gewollt oder bestimmt hätte, sondern weil sie selber es so liebte. Die Musik hat etwas geöffnet für sie, mit ihrem Chor ist sie das erste Mal in ihrem Leben verreist, hat in Osteuropa zusammen mit Überlebenden der deutschen Lager gesungen, und wenn sie von diesem Tag erzählt, strahlen ihre Augen heute noch.

Ja, vielleicht werdet ihr den schönen Klang zu eurem Begleiter machen, werdet auf Orchesterreise gehen oder eurer Lieblingsband hinterherfahren. Vielleicht werdet auch ihr diese Momente erleben, in denen die Musik euch rettet und wieder auf die Beine bringt. Oft denke ich an einen meiner letzten Tage in den USA zurück, am Ende meines Jahres als Gaststudent in Pennsylvania. Ich hatte mir ein Konzert des Philadelphia Orchestra angesehen, ein warmer strahlender Sonntagmorgen im Mai. Als ich Minuten nach der Aufführung hinten am Konzerthaus vorbei kam, habe ich sie gesehen. Erst einen Mann mit einem Trompetenkoffer auf dem Rücken, dann einen Cellisten, dann zwei Flötistinnen, dann noch ein paar andere. In schneller Folge sind sie aus dem Hinterausgang geschlüpft und schnell auseinander gegangen, heimwärts, zur Familie oder zu Freunden ins Café, in den Rest ihres Sonntags, hier und da ein leises Pfeifen im Mundwinkel, als hätten sie zwei Stunden am Fließband der Margarinenfabrik gestanden statt Beethoven und Berlioz in den Saal zu zaubern und in unsere Herzen.

Wie beneidenswert, dachte ich damals, glücklich und gerührt auf meinem Weg durch die Stadt, die ich bald wieder verlassen würde. Wie schön, solch einen Beruf zu haben, wie glücklich jeder, der mit dem, was er am besten kann, mit Talent und Kunst oder wie man es nennen will, Woche für Woche die Menschen bewegen kann und sich nicht mal groß was drauf einbilden muss.

Auch ihr beide werdet Dinge entdecken, die euch berühren, die bei euch bleiben für eine Weile oder für immer. Vielleicht werdet ihr etwas davon zu eurem Leben machen wie die Musiker, die ich gesehen habe, wie eure Mutter damals als Kind oder eure Oma mit ihrer Geige. Wer weiß. Es wird nicht leicht für uns, für eure Mutter und mich, euch zum einen nicht zu bremsen, aber auch nicht zu erdrücken mit unseren eigenen Wünschen. Ihr sollt spielen, ihr beiden, das dürfen wir nicht vergessen, sollt erst einmal keine Last spüren und keine Sorge, dafür sind ja wir Großen da.

Ich denke jetzt an meine Eltern. Ich sehe ihre Gesichter in der Küche am Weihnachtstag, bevor ihr geboren wurdet. Ich sehe ihr Lächeln, die erwachsenen Kinder um sich, die schon arbeiten, studieren, eigene Familien gegründet haben, im Bauch der Schwiegertochter die nächsten beiden Enkel.

Ich sehe die Gesichter meiner Eltern, die Freude über den gemeinsamen Moment, die Erleichterung darüber, es bis hierher geschafft zu haben. Sich zusammen durchs Dickicht geschlagen zu haben, durch all die verschwitzten Nachmittage und die Fiebernächte, durch die kalten Schulmorgen und die stillen Abende, vielleicht ängstlich, aber nie entmutigt, oft todmüde, aber nie ganz leer, erschlagen, aber nie ohne Mut, und jeden Tag aufs Neue darum bemüht, dem Grau des Alltags doch noch ein bisschen Farbe beizumischen. Für uns, für sich selbst, einfach, damit es weitergeht, weil sie doch weitergehen muss, diese Reise mit ihren zigtausend Kurven, deren Ende niemand kennt. Und warum soll sie nicht für alle ein bisschen besser und schöner sein, als sie sein müsste.

Auch unsere Tage sind jetzt alle gleich, wir strampeln genauso wie ihr beide, eure Mutter und ich, jeder Tag gleich und doch immer anders. Da ist ein Lachen, ein Augenzwinkern, ein neues Geräusch, das ihr macht, ein kurzer Ausflug ins Licht, die gute Nachricht nach der schlechten.

Sie hatten recht, denke ich, es geht so schnell. Der Motor läuft, die Räder drehen sich, bald ist schon der Sommer da, und hinter der nächsten Kurve kommt das Meer.

Johannes Ehrmann
Die Winzigkeit des Glücks
Brief an meine Töchter
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Im März schien die Sonne

15 Jahre nach Ende des Kosovokriegs werden immer noch 1700 Opfer offiziell vermisst. In Suhareka verschwanden 49 Menschen aus Hysni Berishas Familie. Geschichte eines Überlebenden, der die Hoffnung nie aufgegeben hat.

Suhareka, 26. März 1999

Vom Fenster im zweiten Stock kann Hysni Berisha die Straße sehen. Es ist halb eins, aber Mittagsruhe gibt es heute keine. Er sieht seinen Cousin Musli die Straße hinunterlaufen, den weißen Plis auf dem Kopf. Dahinter Muslis Mutter, die alte Hanumshahe, schwer stützt sie sich auf ihren Stock. Die Straße ist abgesperrt, die Polizisten führen die beiden wieder zurück. Hysni Berisha wirkt ruhig, oben am Fenster seines Wohnzimmers, er hat seine Frau und seine sechs Kinder bei sich, seine Angst zeigt er nicht.

Suhareka, 26. März 2014

Die Porträtfotos in der Turnhalle stehen auf rotem Tuch. Fatime mit dem Kopftuch, das erste Foto, gleich rechts vom Eingang, danach kommen Ismet und Redon, sie schauen aus Kinderaugen. Die Menschen gehen vorbei, blicken in die Gesichter, einige haben die flache Hand auf der Brust, dort, wo das Herz sitzt. Draußen stehen sie bis halb über den Parkplatz. „Bitte bilden Sie Zweier- und Dreierreihen“, sagt der Mann im Dreiteiler. „Bitte gehen Sie schneller.“

Suhareka, 26. März 1999

Es ist still geworden in der Pizzeria zur Mittagszeit. Nur das Krachen der Walkie-Talkies ist zu hören, draußen vor der Tür. Holt den Lastwagen, ruft einer, und bringt sie so schnell wie möglich weg. Die Männer arbeiten zügig, der LKW hat in der Nähe gewartet, die gelbe Plane leuchtet in der Sonne. „Mein Sohn, seid ihr fertig?“, fragt Zokis Mutter. „Ja“, antwortet der Sohn, „wir haben alles erledigt.“ – „Gut“, sagt die Mutter, „dann gute Fahrt.“

„Es war ein schöner Tag“, sagt Hysni Berisha, der Tag, an dem er seinen Cousin Musli noch einmal sah und dessen alte Mutter mit ihrem Stock. „Ein sonniger Tag“, sagt Hysni Berisha. „Im März schien die Sonne, und im April hat es geregnet.“

* * *

In diesem Text geht es nicht um Bill Clinton oder Peter Handke. Nicht um Schröder und Fischer, und auch nicht um Slobodan Milosevic, obwohl er doch vorkommen wird, weil es nicht anders geht. Im Mittelpunkt dieses Textes, dieser Geschichte, steht keiner jener großen Männer, die immer zuerst auftauchen, wenn man nach dem Wort sucht, in Archiven, in Nachschlagewerken, im Internet; ein Wort, das allen noch gut geläufig ist, gerade in Deutschland.

Kosovokrieg.

In dieser Geschichte geht es um einen, der nicht am Verhandlungstisch saß, der nicht um Rat gefragt wurde, der keine Knöpfe gedrückt und keine Befehle erteilt hat an Uniformierte. Es geht um einen Mann, der sich auf die Suche gemacht hat, als längst alle Knöpfe gedrückt, alle Befehle ausgeführt waren. Sein Name ist Hysni Berisha, er stammt aus dem kleinen Ort Suhareka im Süden des Kosovo. Seine Suche hat vor genau 15 Jahren begonnen, im Juni 1999.

Hysni Berisha sucht nach seinen Verwandten, nach seiner Familie. Es ist für ihn eine vielleicht nie endende Aufgabe geworden: die Suche nach den Berishas, die verschwunden sind, an einem sonnigen Freitagmittag im März 1999.

* * *

Seit dem frühen Morgen stehen sie da, die beiden Panzer, keinen Meter haben sie sich bewegt. Ihre Geschützrohre sind auf das Haus gerichtet, das sie in Suhareka nur das Weiße Haus nennen. Alles ist still, bis auf das dumpfe Wummern, das von den Weinbergen herüberweht. Seit acht Uhr beschießt Artillerie die Dörfer. Die Panzer stehen auf der Anhöhe hinter dem Weißen Haus, ein prächtiges Gebäude mit einer Fassade aus weißem Klinker, daher der Name.

Hysni Berisha, ein kleiner Mann mit sonnengebräuntem Gesicht und tiefen Wangenfalten, spricht ohne Hast. Er macht viele Pausen und wartet geduldig auf den Übersetzer, der die Worte mühsam vom Albanischen ins Englische trägt. Wenn er schweigt und wartet, zieht Hysni Berisha Mundwinkel und die Stirn nach oben, ein Ausdruck zwischen Sorge, Melancholie und einem Lächeln, das fast entschuldigend wirkt.

49 Menschen starben am 26. März in Suhareka“, sagt der Übersetzer. „Darunter 17 Kinder und 18 Frauen.“

* * *

Drei Familien drängen sich ins Weiße Haus, Menschen jedes Alters. Am Tag zuvor, Donnerstag, 25. März, waren sie schon einmal gekommen, die Uniformierten. „Wo ist dein Papa Clinton jetzt?“, haben sie Nexhat Berisha gefragt, Hausherr zu Friedenszeiten, und dann haben sie gelacht und angefangen, auf ihn einzuschlagen, sie haben das Geld genommen, das sie fanden, 50.000 D-Mark, und alles andere, was sie gebrauchen konnten, Fernseher, Elektrogeräte, Heizstrahler und die Computer der OSZE-Beobachter. Die hatten Suhareka verlassen, schon vier Tage zuvor, kurz bevor die ersten NATO-Bomben fielen auf die serbischen Stellungen im Kosovo. Grünes Camouflage tragen die Männer, als sie am 25. März in Nexhat Berishas Haus kommen. Danach steigen sie wieder in ihre Wagen und lassen die Angst zurück.

Sie kamen zu den Häusern der Berisha-Familie, weil die OSZE ins Weiße Haus gezogen war“, sagt Hysni Berisha. „Aber auch, weil wir Albaner waren.“

Beginnend im Januar 1999 und bis zum Datum dieser Anklageschrift andauernd, haben Slobodan MILOSEVIC, Milan MILUTINOVIC, Nikola SAINOVIC, Dragoljub OJDANIC und Vlajko STOJILJKOVIC eine Kampagne des Terrors und der Gewalt geplant, angestiftet, befohlen, durchgeführt sowie auf anderem Wege unterstützt und begünstigt, die gegen die im Kosovo in der Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) lebenden kosovo-albanischen Zivilisten gerichtet ist.

Die Operationen wurden mit der Zielsetzung unternommen, einen erheblichen Anteil der kosovo-albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo zu vertreiben, um eine dauerhafte serbische Kontrolle über die Provinz zu sichern. Um diese Vertreibungen zu begünstigen, haben die Kräfte der BRJ und von Serbien bewusst eine Atmosphäre der Angst und der Unterdrückung geschürt, durch Anwendung von Gewalt, Gewaltandrohung sowie gewalttätige Handlungen.

(Aus der Anklageschrift gegen Slobodan Milosevic, 22. Mai 1999.)

Mostar, Sarajevo, Srebrenica. Zehntausende ermordert, Hunderttausende vertrieben, Brücken zerstört, Häuser verbrannt: Auf dem Balkan hatte der Tod bereits viele Namen, als 1999 noch einmal alles von vorne losging. Und die Welt schaute erneut zu, aus sicherer Entfernung, von den Bergen nahe Suhareka konnte man alles sehr gut sehen, die Dörfer und den Qualm und die Lastwagen, die leer ins Tal fuhren und voll beladen wieder zurückkehrten.

* * *

2014

Die Pizzeria, 15 Jahre später. Putz, Staub, Trümmer, sie haben alles so gelassen, die schwarzen Wände, die kaputten Gipssäulen, nur ein dünner Glasvorbau ist vor den Eingang gesetzt worden. Die Einschusslöcher liegen kaum je zwei Zentimeter auseinander. Die Täter haben dem Schicksal wenig Platz gelassen.

Der Morgen vor der Trauerfeier. Das Billard-Café nebenan hat schon geöffnet. Menschen gehen vorbei, tägliche Gänge durchs Stadtzentrum. Der Kameramann von Al-Jazeera beschwert sich über die Lichtspiegelung. Der Fotograf versucht, durch die Scheibe zu fotografieren. Die Reporter rauchen. Da kommt Hysni Berisha, schnelle Schritte in weiten Anzugbeinen, den Schlüssel in der Rechten.

Die Pistole auf dem Boden, mit Staub überzogen. Es knirscht unter den Schuhen. Ein Klicken. Der Fotograf hat sein Motiv. Die Pistole ist aus Plastik, ein Kinderspielzeug.

* * *

13. Juni 1999, der Frieden ist fünf Tage jung, als Hysni Berisha in die Pizzeria zurückkehrt, zum ersten Mal. Zusammen mit den Soldaten der Kosovo Force kommen die Menschen wieder in ihre Stadt, und Hysni Berisha sieht die Pizzeria und etwas später, auf der Hauptstraße, sieht er den Kastenwagen mit der Aufschrift CNN. Er führt sie hin, die Journalisten aus Amerika, mit Handzeichen, Lauten, er zeigt ihnen alles, auch den Schnuller, der auf dem Boden liegt, und abends ist Suhareka in den Weltnachrichten.

Am 13. Juni beginnt sie, die Suche von Hysni Berisha. Von Haus zu Haus geht er zunächst, beginnt, die Angehörigen zu befragen, treibt Zeugen auf, stellt schließlich eine erste Liste zusammen mit den Namen derer, die verschwunden sind. Fieberhaft suchen die Menschen nach ihren Angehörigen, in diesen ersten Nachkriegstagen, sie reißen die frischen Gräber auf und lassen sie offen liegen, wenn sie nicht die Ihren finden. Zwei Tage sucht Hysni Berisha allein, dann bittet er die Soldaten um Hilfe, die KFOR, fortan ist er mit zwei professionellen Forensik-Teams unterwegs, er zeichnet Karten der Fundorte, der Gräber, alles von Hand, betreibt Nachforschungen, identifiziert Leichen, Dutzende, Hunderte. Macht eine erste Aussage für den Strafgerichtshof in Den Haag.

Später gründet Hysni Berisha eine Organisation, die Vermisstenorganisation von Suhareka, sie hat zunächst ein Mitglied und ihr Name ist „Shpresim“, das bedeutet so viel wie: weiter hoffen; die Hoffnung nicht aufgeben.

„Die Hoffnung war immer bei mir“, sagt Hysni Berisha. „Es gab Momente ohne Hoffnung, aber ich habe nach vorne geschaut und weitergemacht. Dank ihr, dank der Hoffnung, haben wir die 24 gefunden.“

* * *

2014

In der Sporthalle kommt Moll aus den Boxen. Schwarzes Tuch vor einem der Basketballkörbe, in der Mitte eine Papprose. Die Tribünen auf beiden Seiten füllen sich, es müssen an die 1.000 Menschen sein. 15 Jahre später. Die erste offizielle Trauerfeier.

Am Fußende der Särge sind Zettel angeheftet, weißes A4, darauf die Namen und der Fundort. Ba-046, steht da, Ba-09, Ba-47-1. Ba, das steht für Batajnica, ein Militärgelände nördlich von Belgrad, 400 Kilometer entfernt von Suhareka.

* * *

1999

Die Bagger sind schon da, als die Müllmänner aus Prizren am Schießstand von Korisha ankommen. Nachts arbeiten sie sonst nie. Zwei Bagger, zwei Lastwagen, mit kühlbaren Containern. Es regnet in Strömen, eine kalte, nasse Nacht, Anfang April 1999. Die Schaufeln der Bagger graben sich in die Erde. Die Polizisten arbeiten unten, die Müllmänner laden das, was sie finden, auf die Laster. Sie zählen die Körper nicht, aber es sind mindestens 80, vielleicht 90, sie tragen Straßenkleidung und sie riechen schon. Bis um zwei Uhr morgens dröhnen die Bagger auf dem Schießstand der Jugoslawischen Volksarmee, der zwischen Suhareka und Prizren liegt, und ihre Scheinwerfer erleuchten die Nacht.

Die gleiche Nacht, die gleiche Gegend: Hysni Berisha findet keinen Schlaf. Ab nach Albanien, haben die Polizisten gerufen, als sie ihn und seine Familie und all die anderen verbliebenen Albaner aus ihren Häusern geholt haben, ab zur Grenze mit euch! Über fünf Kilometer lang der Treck, der kurz vor Prizren vorerst angehalten wird. Vom Rand des provisorischen Lagers sieht Hysni Berisha zwei grelle Lichtkegel, Motorengeräusch dringt durch den Regenschleier. Er kann sich nicht erklären, was sie da tun, warum sie arbeiten, mitten in der Nacht.

Im September kehrt Hysni Berisha zurück nach Korisha, er begleitet wie immer die Forensiker. Ein Foto finden sie in der Erde des Schießstands, ein Foto und eine Jacke und schließlich den Federkasten. Der schlimmste Tag, sagt Hysni Berisha, das war dieser 1. September 1999, der erste Schultag. Der kleine Mirat Berisha wäre in die zweite Klasse gekommen. Stattdessen finden sie nur seinen Federkasten, voller Erde, zehn Wochen nach der Befreiung.

* * *

Die Männer kommen zu Fuß, es ist nicht weit von der Polizeistation zum Weißen Haus. 30 Männer, alle in Uniform, nur Milorad Nisavic kommt ganz in Schwarz. Boss, so nennen sie Nisavic in Suhareka. Sein Hotel heißt so, „Boss Hotel“. Hier wohnten die OSZE-Beobachter. Dann zogen sie ins Weiße Haus, dort war es billiger. Das konnte dem Boss nicht gefallen.

30 Männer umringen das Haus, es ist kurz vor halb eins, und Zoki und Miki sind auch da. Die Berishas erkennen sie trotz der Vermummung. „Bujar!“, ruft Zoki nach einem der Berishas, „Bujar, komm raus!“

Zoran Petkovic spricht fließend Albanisch, er kennt die Familie gut, sie nennen ihn Zoki, er war Fahrer in ihrer Firma, fuhr Lastwagen und Busse im „Bau- und Industrieunternehmen 19. November Suhareka“. Früher hat Zoki oft bei den Berishas zu Abend gegessen. Zoki und sein Bruder Miki und all die anderen stehen nun draußen vor dem Haus, jeder mit einer Kalaschnikow in der Hand, und das Böse hat eine vertraute Stimme.
„Komm raus, Bujar“, ruft Zoki. „Komm schon raus.“

* * *

2014

Alan Robinson, der Chef der EU-Forensiker im Kosovo, sagt: „Das Ausmaß, in dem die Leichen hier bewegt worden sind, habe ich noch nirgendwo gesehen.“

An acht Stellen haben sie Menschen gefunden in Batajnica, 705 insgesamt, dazu noch einmal 380 weitere „Gegenstände von forensischem Interesse“, so heißt es offiziell. Die Identifizierung der Vermissten, ein gigantisches Puzzlespiel, das nicht immer gelingt. Als sie die Fälle von Batajnica wieder aufrollen, finden Robinson und seine Kollegen die Überreste von acht verschiedenen Menschen in einem einzigen Leichensack.
Nur wenige Gramm eines Knochens brauchen die Experten, um einen DNA-Abgleich durchzuführen mit einem der Hinterbliebenen, und doch lösen sie mittlerweile kaum mehr 50 Fälle pro Jahr. Von einst 6.000 Namen stehen auch 15 Jahre später immer noch 1.700 auf der offiziellen Liste der Vermissten des Kosovokriegs, geführt vom Internationalen Roten Kreuz, und die Zahl sinkt immer langsamer.

24 Särge stehen in der Sporthalle auf rotem Tuch, doch 25 fehlen, sie fehlen noch immer.

„Es wird leichter sein nach diesem Tag“, sagt Hysni Berisha, „auch für mich. Unsere Seelen werden etwas leichter sein. In 15 Jahren haben wir nie aufgehört, zu suchen, als Familie haben wir an die verschiedensten Türen geklopft. Lange hatten wir keinen Ort, aber jetzt wissen wir, wo wir 24 Blumen hinlegen können.“

Auch die Politik ist gekommen, die Staatspräsidentin, langer grüner Mantel, der Premierminister, im Anzug, grau und maßgeschneidert. Hashim Thaci sitzt in der ersten Reihe, er hat dieser Tage viele Termine, fast jeden Tag eine Trauerfeier irgendwo im Land, 15 Jahre später. 17 Massaker gab es alleine in der Großgemeinde Suhareka, über 500 Namen schrieb Hysni Berisha auf seine Liste.

Hysni Berisha sitzt in der Sporthalle nicht in der ersten Reihe, er steht die gesamte Trauerfeier hindurch, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, da, wo die Stuhlreihe endet. Am Abend wird man ihn trotzdem in den Nachrichten des Fernsehsenders KTV sehen, hinter der Präsidentin, die gerade ein Interview gibt, und keiner wird wissen, wer dieser Mann ist mit dem müden Blick und den tiefen Falten in der Wange.

* * *

Drei Familien rennen weg, nur weg, das Weiße Haus im Rücken, neben dem die Männer liegen, Bujar und Nexhat und Faton, gleich am Hinterausgang liegen sie. Die Berishas rennen, so schnell sie können, Frauen, Kinder, Alte, alle in verschiedene Richtungen. Nexhats Frau Shyhrete und ihre Tochter Herolinda rennen über die Straße, hin zu dem kleinen Einkaufszentrum neben der Busstation, Majlinda rennt nach rechts, die Straße hinunter, den kleinen Redon auf dem Arm, das Kind schreit, 22 Monate alt, aber auf dem Foto in der Sporthalle sieht Redon Berisha noch jünger aus.

Am meisten weinen die Alten. Alte Frauen und alte Männer, weinend gehen sie aus der Halle, in den grauen Tag, die Männer tragen den Plis, die Frauen ein weißes Kopftuch. Die Särge sind zu lang, sie ragen hinten ein Stück über das Podest hinaus. Nur vier der Särge nicht, sie sind weiß lackiert und kaum einen Meter lang. Am meisten weinen die Alten, sie haben Kinder und Enkelkinder.

In der Pizzeria gibt es nicht genügend Stühle. Manche setzen sich auf den Boden. Es sind fast 50 Menschen, keiner ist entkommen, bewaffnete Posten an jeder Ecke. Nach und nach kommen sie alle herein. Die hochschwangere Lirije und Sedats Frau Vjollca mit ihren drei Kindern, Dafina, Drilon und dem achtjährigen Gramoz, und auch ihre Schwägerin Shyhrete mit ihren vier Kindern, den Mädchen Majlinda und Herolinda, Altin und dem kleinen Redon. Als keiner mehr kommt, verriegeln die Polizisten von außen die Türen.

„Mama, sie haben mich verletzt“, sagt Altin, der Elfjährige, zu seiner Mutter, „schau, Mama, sie haben auf mich geschossen, aber sie haben mich nicht ganz erwischt.“

„Ich glaube an Gott“, sagt Hysni Berisha. „Seit 1999 umso mehr. Gott hat alle Rechte, aber getötet hat er mich nicht. Sein Finger war am Abzug, er hätte ihn nur bewegen müssen, aber er hat seine Macht nicht eingesetzt. Gott ist unser Zeuge, und wir Überlebenden sind der Grund, an ihn zu glauben.“

Den Haag, Internationaler Strafgerichtshof, 4. Juli 2002:

ZEUGE: HYSNI BERISHA
KREUZVERHÖR DURCH SLOBODAN MILOSEVIC. Ist es korrekt, hier, wo ihre Angaben stehen, dass Sie ein Anwalt waren?
DER ZEUGE. Ich war kein Anwalt, aber in der Übersetzung vom Albanischen ins Englische ist es so entstanden. Ich war ein Rechtsbeamter in einem Bauunternehmen. Ein Verwaltungsangestellter.
MILOSEVIC. Kann man also folgern, dass Sie keinerlei Ausbildung oder Erfahrung bei Untersuchungen haben, die mit der Ausübung von Verbrechen zu tun haben?
DER ZEUGE. Ich bin dieser Frage nicht beruflich nachgegangen, sondern aus einer humanitären Sicht.

Als sie ihn in den Gerichtssaal bringen, denkt Hysni Berisha an die Wahrheit. Er denkt an all die Menschen, die gestorben sind. Er schaut hinüber zur Anklagebank, und Milosevic begegnet seinem Blick. Milosevic, der Präsident, der sich selbst verteidigt, weil er den Anwälten der Weltgemeinschaft misstraut. Milosevic, der Redner, der intelligente Provokateur. Hysni Berisha denkt an die Opfer, an die Familie seines Onkels, aus der nur sein Neffe Florim geblieben ist. Er denkt an Shpresim, seine Organisation, an seine Suche und die Hoffnung, die er in sich trägt, noch immer. Er spürt, wie sich sein Puls senkt. Wie er ruhig wird. Er denkt nur noch an das, was er sagen will.

„Oh, Shyhrete“, sagt Vjollca, „Shyhrete, was tun die uns nur an?“
„Oh Mami“, sagt Majlinda, „oh Mami, schau nur, Herolinda.“ Und Shyhrete dreht sich um und sieht Herolinda, ihre Tochter, so ein schönes Mädchen, sagt Shyhrete, sie war so ein schönes Mädchen.
„Mama, Mama, kannst du mir bitte Wasser bringen“, fragt der kleine Ismet seine Mutter, „Mama, ich habe solchen Durst.“
„Mozi, lebst du noch?“, fragt Vjollca ihren Sohn Gramoz mit leiser Stimme. „Ja“, flüstert leise Gramoz.
Da fangen sie draußen vor der Pizzeria wieder zu schießen an.

Coffee shop, so wird die Pizzeria genannt in den Dokumenten des Haager Tribunals, die auf Englisch vorliegen, coffee shop, Café.

MILOSEVIC: Sie sagen, dass in diesem Café viele Patronenhülsen lagen, und andere Munition. Bedeutet das, dass jemand aus dem Raum herausgeschossen hat, in dem Sie sich befanden?
DER ZEUGE: Es wurde dort nicht geschossen. Es gab eine Hinrichtung, im Café. Es wurde geschossen, massiv geschossen, im Café.
MILOSEVIC: Nun, das heißt, dass jemand aus dem Café herausgeschossen hat, da sich so viele Hülsen in dem Café selbst befunden haben. Sie reden nicht von Kugeln, Sie reden von Hülsen.
DER ZEUGE: Es war die jugoslawische Polizei. Sie selbst waren der Kommandant. Die ganze Berisha-Familie war dort drin, darunter 18 Kinder und alte Menschen und Frauen. Sie wurden alle dort hineingezwungen, in das Café, und sie wurden hingerichtet mit Schusswaffen. Und dann wurde das Gebäude angezündet, um die Spuren des Verbrechens zu vertuschen. Es gibt Zeugen, die das Massaker überlebt haben und aussagen können, was genau dort passiert ist.

* * *

Die Frau liegt in der Mitte der Straße, auf dem Rücken, und um sie herum ist Blut. „Helfen Sie mir“, sagt Shyhrete Berisha. „Helfen Sie mir, meine ganze Familie ist in dem Laster.“ Malësi e Re, so heißt das Dorf, in dem Shyhrete Berisha von der Ladefläche springt, Malësi e Re liegt zwischen Suhareka und Prizren, vier Kilometer vor Korisha, wo die jugoslawische Armee einen Schießstand hat.

Erst Wochen später erfährt Shyhrete, dass auch Vjollca und der kleine Gramoz hinabgesprungen sind, ein Stück weiter die Straße hinunter, die von Suhareka nach Prizren führt.

Drei Menschen leben.

Der kleine Gramoz sagt lange kein Wort. Ein Fernsehteam will über das berichten, was passiert ist, doch der Junge schweigt. Hysni Berisha spricht mit ihm, er redet auf den Jungen ein, immer wieder, geduldig, erklärt ihm, dass es wichtig ist etwas zu sagen, redet und redet, und der Junge schweigt und schweigt. Du bekommst ein neues Fahrrad, verspricht er ihm schließlich, da fängt Gramoz zu erzählen an. Erzählt, wie ihn die Kugeln trafen, in die Schulter, wie die Körper schwer auf ihn fielen, wie sie ihn hochhoben, an der anderen, der unverletzten Schulter, zum Glück, sagt Gramoz, sonst hätte ich geschrien vor Schmerz und sie hätten es gemerkt. Das alles erzählt nun der Junge, und Vjollca, seine Mutter, sitzt neben ihm und weint, sie weint laut. Bis heute ist sie nicht zurückgekehrt in das Haus mit dem weißen Klinker, sie hat es nie mehr sehen wollen.

* * *

„Ich habe nicht erwartet, dass dieser Tag geteilt sein wird“, sagt Gramoz Berisha in der Sporthalle von Suhareka. „Nach 15 Jahren sind wir erst an der Hälfte unseres Weges angelangt. Das ist unser Schicksal. Aber halbe Gerechtigkeit gibt es nicht. Die Gerechtigkeit ist immer vollständig. Wir sind es nicht, die Angst vor der Zukunft haben müssen, sondern diejenigen, die das Unrecht begangen haben.“

Die Menschen in der Sporthalle klatschen, zum einzigen Mal an diesem Tag.

* * *

Als Hysni Berisha das erste Mal nach Den Haag kommt, Juni 2002, ist Milosevic krank. Zehn Tage lang wartet Hysni Berisha, die meiste Zeit bleibt er in seinem Hotel. Dann schicken sie ihn wieder nach Hause, zurück nach Suhareka, zu seiner Familie, wer weiß, wann es soweit ist. Doch nur drei Tage später wird er erneut in die Niederlande gerufen. Der Angeklagte, so heißt es, sei nun wieder verhandlungsfähig.

MILOSEVIC: Sie sagen auf Seite 3 Ihrer Aussage – Sie erklären, wie die Serben immer morgens angriffen, und Sie sind abends in den Keller gegangen. Haben Sie vielleicht Schutz vor NATO-Bombardierungen in diesem Keller genommen, Mr. Berisha?
DER ZEUGE: Ich weiß, dass Sie versuchen — dass Sie versuchen, die Wahrheit aus dem Weg zu schaffen, aber ich sage, dass jeden Morgen der Beschuss in Richtung der Dörfer begann. Dies war eine Operation gegen die Zivilbevölkerung. Sie selbst wissen, wie Sie sie organisiert haben. Das war nicht — der Grund dafür, dass wir in den Keller gingen, war nicht, weil wir Angst vor der NATO hatten. Die NATO hat Suhareka nie bombardiert. Wir hatten auch nie Angst vor NATO-Angriffen. Das waren unsere Retter.

„Für mich ist es ein Verfahren ohne Bedeutung“, sagt Hysni Berisha. „Er ist gestorben, ohne seine Bestrafung zu bekommen.“

RICHTER MAY: Mr. Berisha, wir haben wenig Zeit. Wir müssen wirklich versuchen, das zu einem Abschluss zu bringen. Wenn Sie sich nur auf die Frage konzentrieren könnten.
DER ZEUGE: Ich wollte Sie nur an die Massaker erinnern, die ich in Suhareka erlebt habe.
RICHTER MAY: Natürlich. Wir haben das im Auge. Wir kennen Ihre Aussagen. Aber die Frage, die Ihnen gestellt wurde, ging um die Häuser, die zerstört wurden. Wie viele Häuser wurden denn zerstört? Können Sie sich erinnern, oder nicht?
DER ZEUGE: Ich erinnere mich, aber das Wichtigste sind doch Leben, die Menschenleben, nicht die Häuser. Ich rede davon, wie viele Opfer gestorben sind.

„Aus der Familie meines Onkels habe ich 16 Menschen verloren“, sagt Hysni Berisha. „Wenn 16 Hühner vom Adler gefressen werden, ist das schlimm. Was aber, wenn er sich 16 Menschen nimmt, 16 Menschen aus deiner Familie?“

* * *

Draußen vor der Turnhalle heben sie die Särge auf Militärlastwagen. Hysni Berisha steht daneben, sieht zu, wie die Särge ankommen, einer nach dem anderen. Drei Soldaten, zwei vorne, einer hinten, nach drei Särgen kommt der nächste LKW. Die Soldaten tragen die Kappen tief im Gesicht. Am Hang stehen die anderen Laster, mit laufenden Motoren. Die Särge sind leicht, in ihnen ist kaum je ein ganzer Mensch.

* * *

Von Suhareka nach Korisha, auf den Schießstand, und von dort nach Norden, nach Serbien, so ging die Reise der Toten. Die Täter holten sie wieder heraus. Als die Invasion absehbar wurde. Als sie merkten, dass die Toten hier, in der Erde des Kosovo, nicht sicher sein würden vor denen, die sie vermissten.

Tekija, Serbien. Der 5. April 1999, 13 Uhr. Als Bosko Radojkovic, Kriminalpolizist von der Spurensicherung, am Donau-Ufer ankommt, sieht er den Kasten eines LKW schräg aus dem Wasser ragen. Mit einem Kran ziehen sie den Wagen aus dem Wasser. Radojkovic liest die Aufschrift: „PIK Progres Export Schlachthaus. Telefonnummer. Telefax. Prizren.“

30 Körper holen Bosko Radojkovic und seine Kollegen in der ersten Nacht aus dem Kühltransporter, bis drei Uhr morgens arbeiten sie, dann sind sie zu erschöpft, um weiterzumachen. In der Nacht darauf noch 56. Männer und Frauen und auch zwei Kinder. Ein Junge, ein Mädchen. Im Rucksack des Mädchens: ein paar Buntstifte, eine Puppe, ein UNICEF-Block, A4. Auf der ersten Seite eine Zeichnung, ein Haus und ein paar Blumen.

Zwei neue Lastwagen. Sie verschwinden in die Nacht, die Donau hinauf, Richtung Belgrad.

Drei Tage lang findet Bosko Radojkovic keinen Schlaf, dann gibt ihm der Arzt eine Beruhigungsspritze.

* * *

Der Geruch von Gras und nasser Erde. Ein kleines Grundstück, vielleicht zwanzig mal zwanzig Meter, direkt an der Straße. 10.000 Euro hat die Gemeinde zur Verfügung gestellt für die Grabstätte der Familie Berisha. Die Pläne sind gemacht, Hysni Berisha zeigt sie stolz, es soll gepflasterte Fußwege geben und Springbrunnen neben den Gräbern, die in fünf Gruppen zu je zehn Gräbern angeordnet sind. 10.000 Euro werden wohl nicht reichen.

Noch gibt es nur die Fundamente, fünf Stück mit je zehn Betonschalen. 24 Platten liegen auf der feuchten Erde. Die Menschen haben ihre Schirme aufgespannt. Zigarettenrauch und gedämpftes Geplauder. Dann drehen sich die Köpfe, es wird still. Die Lastwagen kommen, im Schritttempo fahren sie durch den Regen.

Das Schlimmste am Tod eines Menschen ist vielleicht, dass das Leben für die anderen weitergeht. Das Schlimmste ist die Hoffnung. So lange die Toten nicht gefunden sind, finden auch die Lebenden keine Ruhe. Die Mütter, die Väter, sie wollen nicht aufhören zu glauben, dass ihre Söhne, ihre Töchter und Enkel doch eines Tages in der Tür stehen, wie früher.

„Das Schlimmste“, sagt Hysni Berisha, „das Schlimmste war, dass ich es wusste. Ich hatte die Information, ich trug sie mit mir herum. Aber ich habe nichts gesagt.“ Nur einer Person in jedem Haushalt hat er es mitgeteilt, das, was ihm das Rote Kreuz, was ihm die Forensiker gesagt hatten. Wen sie gefunden hatten. Eine Person pro Familie, die Person, die er für die stärkste hielt. „Ich habe es auf meine Art getan“, sagt Hysni Berisha, „und es war nicht leicht.“

Unter internationalem humanitärem Recht und internationalen Menschenrechtsgesetzen haben Familien das Recht, über das Schicksal ihrer vermissten Verwandten informiert zu werden.
(Internationales Rotes Kreuz)

Der Baggerfahrer lässt den Motor an. Die Männer greifen nach der Kette, die an der Schaufel hängt. Heute gräbt der Bagger nicht, er soll eine Last heben. Zwei Männer machen die Haken an den Griffen der ersten Platte fest. Anweisungen. Handzeichen. Dieselgeruch. Hysni Berisha steht mit den anderen Männern um das offene Grab, auf seinen Schuhen ist Schlamm, der Baggerfahrer versteht die Kommandos nicht. Endlich senkt sich die Platte hinunter, langsam, Stück für Stück. Der Atem steht den Männern in kleinen Wölkchen vor dem Gesicht.

* * *

Nicht nur Milosevic haben sie vor Gericht gestellt, auch die Brüder Petkovic, Miki und Zoki, und Milorad Nisavic, den Boss, auch ein paar andere. Es wurde über ihre Schuld verhandelt, drei Jahre lang, vor dem Bezirksgericht in Belgrad, Kammer für Kriegsverbrechen. 15 Jahre bekam Miki, 20 Jahre der Polizeichef und 13 der Boss. Zoki sprachen die Richter frei. Keiner wollte zugeben, am 26. März am Weißen Haus gewesen zu sein oder vor der Pizzeria. Keiner außer Miki. Ja, ich war da, sagte Miki, aber ich habe nicht geschossen.

„Ich kannte alle, die dort vor Gericht standen“, sagt Hysni Berisha. „Ich kannte sie aus Suhareka. Zoki hat in unserer Nähe gewohnt, direkt neben dem Haus meiner Eltern.“

Hysni Berisha hockt am Rand der Grabstätte, das Kinn in der Hand. Ein Mann sprüht Schaum in die Spalten. Auf den Holztafeln stehen die Namen und darunter zwei Daten. Das zweite Datum ist immer das gleiche: 26.3.99.

Die Eltern liegen zur Straße hin, die Kinder innen. Shyhretes Töchter, Majlinda neben Herolinda, dann ein leeres Grab, dann das ihres Bruders Redon, 23.5.97, und an der Ecke das seines Cousins Ismet, 9.9.96. Auf den leeren Gräbern liegen keine Blumenkränze, der Regen fällt auf den nackten Beton.

Hysni Berishas Blick geht über all die Schirme, wer weiß wohin. Er ist ganz allein unter all den Menschen, auf einer Grabplatte, unter der niemand liegt. Eine halbe Minute vergeht, vielleicht eine ganze. Dann richtet sich Hysni Berisha auf, macht schwankende Schritte und nimmt sich zwei Kränze, in jede Hand einen, Kränze aus Plastikblumen.

Das Leben nach dem Tod. Es muss weiter gehen. Suchen Sie sich ein Hobby, das haben die Psychologen ihm damals gesagt, ein paar Monate nach Kriegsende war das, als die „Ärzte ohne Grenzen“ in Suhareka Station machten. Suchen Sie sich ein Hobby, Mister Berisha, haben sie ihm gesagt, sonst wird das Trauma Sie besiegen. Sonst bringt es Sie um.

„Den Bienen geht es gut“, sagt Hysni Berisha. 32 Stöcke sind es, Tausende Bienen, manchmal geben sie mehr Honig, und manchmal weniger. Kommt darauf an, wie kalt es ist. Diesen Winter hat es viel geschneit, aber jetzt kommt der Sommer.

Wir sind Helden

Fünf Monate haben Grundschulkinder in drei Berliner Kiezchören mit Profi-Musikern geprobt, dann hatten sie ihren großen Auftritt in der Philharmonie. Wir haben sie begleitet. (128 Magazin, Juni 2014)

„Helden“, sagt Marwan, „kenn ich, hatten wir neulich in Englisch. HEROES!“ Marwan spricht das fremde Wort langsam und vorsichtig aus, aber wen er aufgeschrieben hat, weiß er jetzt auch nicht mehr. Ist vielleicht die Aufregung. Man muss das verstehen, es ist Marwans erstes Interview. Es ist der Tag nach seinem zwölften Geburtstag.

Zwölfjährige geben der Presse normalerweise keine Interviews, klar. Es sei denn, sie heißen Macaulay Culkin und haben gerade „Kevin allein zu Haus“ abgedreht. Kennt Marwan natürlich auch, die Kevin-Filme, den ersten findet er am besten, aber er selbst hat noch in keinem Film mitgespielt. Er ist ein ganz normaler Junge aus Moabit, Carl-Bolle-Grundschule, sechste Klasse, Lieblingsfächer Englisch, Mathe, Religion und IE, das steht für Interkulturelle Erziehung.

Warum also sitzt Marwan hier, an einem Cafétisch im Einkaufszentrum MoaBogen, am U-Bahnhof Birkenstraße, vor sich einen riesigen süßen Pfannekuchen, den sie anderswo Berliner nennen, und gleich daneben ein Aufnahmegerät?

Die Antwort hat mit dem Poster zu tun, das seit Dezember in Marwans Zimmer hängt, mit einem Kaugummi, von dem die Zunge blau wird, mit einem Heinzelmännchen und mit einem schwarzen Halstuch. Und mit Judith Kamphues.

„Die ist nicht streng“, sagt Marwan, „die ist nett“. Sie kennen sich, ganz gut mittlerweile, kann man sagen. Seit Oktober, seit den Herbstferien, haben sie sich ja jede Woche gesehen, immer dienstags, immer um halb fünf, Rostocker Straße, Stadtschloss, so heißt dieser Ort, und wie ein König kannst du dich fühlen, wenn du dort warst und anderthalb Stunden gesungen hast, mit heller Stimme, aus voller Kehle.

Aus ganz normalen Berliner Kindern Helden zu machen, das ist der Plan. Vokalhelden, genau genommen, diesen Namen hat die Education-Abteilung der Berliner Philharmoniker für das Projekt ausgesucht. Musikalische Laien für die Musikkultur zu begeistern, das strebt das Programm seit seiner Gründung vor zwölf Jahren an. Menschen zusammenzubringen, das sei doch ohnehin das Beste, was die Musik leisten könne, hat Dirigent Simon Rattle mal gesagt.

Und so kommen sie also zusammen, jede Woche, all die Kinder und Chorleiter und Stimmbildner und Organisatoren und, nicht zu vergessen, die Ehrenamtlichen. Ohne deren Einsatz, zuverlässig, warmherzig, ohne viel Gewese, das hier alles ohnehin nicht funktionieren würde. Geprobt wird in drei sehr verschiedenen Berliner Kiezen, dienstags also in Moabit, im großen Saal im Hochparterre, an dessen Decke rosafarbene Tücher hängen, mittwochs in Schöneberg, direkt an der lauten Pallasstraße, und donnerstags in Hellersdorf, in einem Bungalow, der versteckt an einem Fußgängerweg zwischen Neubauten liegt.

Es ist kurz nach halb fünf an einem Dienstag im Stadtschloss Moabit, und die Helden sind ziemlich laut. „Ich zähle bis drei“, ruft Judith Kamphues, „dann seid ihr alle still. Okay? Und beim zweiten Mal geht ihr alle im Kreis.“ Die Kinder stehen gespannt da. „Und los. Einatmen. Zusammen. Ausatmen. Auseinander. In die Knie wie beim Skifahren. Boxen nach vorne. Aber bitte ohne jemandem wehzutun.“ Alles trippelt durcheinander.

„Was heißt eigentlich Vokal?“, fragt Marwan zwischen zwei großen Stücken Pfannekuchen. Klingt wie Vokabel, findet er. „Heißt das: stark?“ So ist das dann manchmal auch, wenn die Erwachsenen sich gute Sachen für die Kinder ausdenken. Sie kommen in ihre Klassen, holen sie mit Bussen ab, sorgen dafür, dass sie in den Pausen genug Wasser trinken und Bananen essen oder Müsliriegel, aber den Kindern zu erklären, was das komische Wort mit dem V bedeutet, das haben sie glatt vergessen.

Andererseits ist das aber auch Schöne an diesem Alter, zwischen sieben und zwölf: dass man sich noch keine Gedanken über alles machen muss. Dass man Sachen einfach macht. Weil man Lust drauf hat. Warum genau, darüber sollen sich dann doch bitteschön die Erwachsenen einen Kopf machen.

Warum singst du im Chor, Marwan? „Weiß auch nicht.“ Es ist eine Weile still, Marwan zuppelt ein bisschen an dem schwarzen Halstuch, das er immer trägt, es hält auch ein bisschen die Stimme warm, aber es ist eh sein Lieblingstuch. Dann sagt er: „Weil’s Spaß macht.“

Die Kinder in Moabit laufen als Schlingpflanzen durch den Raum und dann als große und kleine Fische, in den großen Spiegeln, die an der Längswand hängen, sieht man sie alle noch ein zweites Mal. Ein Mädchen hat einen grünen Pulli an, auf dem steht „Noise“, und das S ist verdreht. „Schulter kreisen, Unterkiefer lockern“, das Aufwärmen geht lange, eine Viertelstunde oder länger, „das ist wichtig für die Kinder“, sagt Chorleiterin Kamphues. „Die meisten haben von ihren Eltern nach der Geburt eben keine Geige in die Hand gedrückt haben.“

Laut stöhnen sie auf, als das Aufwärmen vorbei ist. „Gibt’s irgendwelche Fragen?“, fragt Judith Kamphues, bevor es weitergeht. – „Jaaaa“, ruft ein Mädchen. – „Was denn?“ – „Nee, doch nicht.“

Liebenswürdige Chaoten, das sind Kinder. „Ein Kessel Buntes“, sagt Judith Kamphues. Sonst arbeitet die 46-jährige gelernte Opernsängerin und Gesangspädagogin meist mit der Elite, zum Beispiel mit den Kindern vom Berliner Staats- und Domchor. Zwei Welten. Dort Kinder, die von kleinauf Proben und Disziplin gewohnt sind, die ständig gefördert und gefordert werden, und hier nun Mädchen und Jungs aus allen Kiezen und Schichten und Familien. Einzige Vorbedingung: Interesse am Singen. „Ich schicke niemanden nach Hause, der sich traut, bei uns mitzumachen“, sagt Judith Kamphues.

Hier, in Moabit, Schöneberg, Hellersdorf, geht es um viel mehr, als dass immer alle sofort den gleichen Ton treffen. Es geht um die Gruppe. Um Toleranz auch, um das Aushalten des anderen, auch wenn der mal einen Fehler macht. Und, klar, um Selbstbewusstsein. „Es geht mir darum, dass die Kinder sich trauen, den Mund aufzumachen, auch woanders, auch in der Schule“, sagt Kamphues. „Dass sie merken: das macht mir Spaß, ich muss mir nicht in die Hosen machen.“

Bist du schon ein Vokalheld oder wirst du einer? Den Posterspruch sieht Marwan jeden Morgen um sieben, gleich nach dem Aufstehen, er hat sich das Poster an die Wand gehängt, das Zimmer teilt er, jüngstes von sieben Geschwistern, sich mit seinem älteren Bruder. Der wird bald schon 14 und seine Stimme ist schon viel tiefer. Dienstags um vier, wenn die Schule aus ist, geht Marwan zusammen mit Mariam, rüber zum Stadtschloss, sind ja nur 500 Meter. Mariam geht auch in seine Klasse. Sonst ist keiner dabei. „Manche sagen, sie kommen mal mit“, sagt Marwan, „aber machen die nicht. Finden die langweilig.“

Neulich, sagt Judith Kamphues, habe sie in ihrem Garten gebuddelt, als ihr plötzlich etwas auffiel. Sie merkte, dass sie an die Kinder dachte, nicht ihre eigenen drei, sondern an die Kinder aus Moabit. „Ich dachte, wie geht’s wohl Mariam, letztes Mal hat sie ja mit der geredet, ob die sich wohl verstehen?“ Die Sorgen einer Mutter, so klingt das. „Ist vielleicht hoch gegriffen, aber ein bisschen wie eine Familie, so wollen wir zusammenwachsen“, sagt sie. „Eine Gruppe schaffen, in der die Kinder wissen, sie sind unter sich, und es ist egal, wie alt sie sind, egal ob Junge oder Mädchen.“

In Moabit teilt Marwan die Notenblätter aus. Marwans Zunge ist heute komplett blau, sein Mund auch. „War ein ganz normaler Kaugummi“, sagt er und grinst ein blaues Grinsen. „Die Heinzelmännchen“, so heißt das Stück, das die drei Kinderchöre aus den drei Berliner Kiezen proben, für ihren großen Auftritt in der Philharmonie. Es ist kein ganz einfaches Chorstück, aber es muss ja auch nicht immer alles piepeinfach sein, auch für Kinder nicht.

Nun fangen sie an zu singen, laut und fröhlich, besonders die letzte Silbe jeder Zeile macht den Kindern Spaß. „Wie war in Köln es doch vordeeeeeem, mit Heinzelmännchen so bequeeeeem.“ Es ist ein langes Lied, aber sie haben es sich ja auch aufgeteilt, drei Stadtteile, drei Chöre, die dann zu einem werden sollen, an einem Samstag Mitte Februar in der Philharmonie. Fünf Proben haben sie. Das ist nicht viel.

„Sie sägten und stachen und hieben und brachen, berappten und kappten“, das Lied ist voller alter, fremder, lustiger Wörter, und die Kinder singen sie und sprechen sie und lachen und dann gibt es eine kurze Pause. Entspannungsübung. Neue Konzentration. Betonung! „Berrrrappten. Und Kkkkappten.“ Die Konsonanten kann man gar nicht klar genug aussprechen. Dann dürfen die Kinder sich setzen.

Jede Probe ist wie eine Welle. Konzentration, Entspannung, Konzentration, Entspannung, immer wieder mal hinsetzen zwischendurch, immer wieder mal lockern, anders geht das hier nicht. Es ist kurz vor halb sechs, die Probe fast schon eine Stunde alt, „gleich ist Pause“, ruft Judith Kamphues, „kommt, einmal noch“. Kinderstöhnen. Aber natürlich stehen alle noch mal auf.

„Eigentlich habe ich gar keinen Held“, sagt Marwan. Er überlegt lange. „Ärzte!“, sagt er nach einer Weile. „Die retten ja Leben.“ Seine Schwester, die wolle Kinderärztin werden, sagt er, Schulsprecherin ist sie schon. Und dann fallen ihm doch noch ein paar ein: „Polizisten. Oder Fluglotsen. Die helfen auch bei einer Notlandung“, sagt er. „Die Feuerwehr!“ Feuerwehrmann, das würde er gerne machen, sagt Marwan, oder Pilot. „Aber eigentlich“, sagt er, „lieber Co-Pilot“. Wobei das mit dem Fliegen so eine Sache ist. Geflogen ist er schon oft, nur vor dem Start hat er immer noch Angst, „ich schlafe dann immer ein“. Vor der Landung hat er sich noch nie gefürchtet. Jeden Sommer fliegt er mit seiner Familie in den Libanon, ans Meer, sechs Wochen, die ganzen Ferien, da gibt es den besten Fisch, und Fisch ist Marwans Lieblingsessen.

„Schniegeln! Striegeln! Schhhhhniegeln! Schhhhhtriegeln!“ Die Kinder zischen um die Wette. Der 15. Februar, der Tag des Auftritts, ein trüber, windiger Tag in Berlin. Foyer des Kammermusiksaals, erster Stock, aus dem großen Außenfenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen, sieht man den Backsteinturm der Matthäuskirche, einen kahlen Baum und einen Baukran. Vor dem Fenster stehen genau 59 Kinder auf drei Stufen. Zum ersten Mal singen sie zusammen, alle drei Chöre, es ist ein Experiment im Experiment. Um halb drei schon ist der Auftritt, direkt vor dem Kinderkonzert, das erste Mal vor Zuschauern. Aufregend. „So“, sagt Judith Kamphues in den Kinderlärm hinein, „Hellersdorf, bitte. Die Bäckermeister, von vorne.“

Und dann kneten sie, die Heinzelmännchen, und fegen und backen und klopfen und hacken, und die Kinder legen sich richtig ins Zeug, genau wie die Heinzelmännchen in dem Lied. Der offene, helle Raum, der besondere Anlass, das wirkt, man spürt das. Was natürlich nicht heißt, dass die Kinder in den kurzen Pausen keine Kinder mehr sind. „Konstantina, komm von deinen Freundinnen weg, ihr macht eh nur Quatsch!“ – „Och, nööö. Letzte Chance?“

Aber dann, direkt bevor der nächste Durchgang losgeht, die Arme der Dirigentin in der Luft, ist es so still, dass nicht mal der Fotograf, der um das Gehäuse seiner Kamera extra einen gepolsterten Schalldämpfer gelegt hat, seinen Finger zu krümmen wagt.

„Das lief super an dem Tag“, sagt Judith Kamphues. „Viel besser, als ich befürchtet hatte. Dass die Kinder sich so gut verstanden haben, toll.“ In den Pausen flitzen sie über den Teppichboden, die weiten Gänge rauf und runter, die Winterstiefel haben noch Klettverschlüsse in diesem Alter, das Leben ist gut, singen, toben und mittags gibt’s Nudeln mit Tomatensoße, „jetzt geht’s zur Raubtierfütterung“, sagt ein Mädchen. „Einmal noch mal Kind sein“, sagt einer der Ehrenamtlichen, „diese Energie, Wahnsinn, und gar keine Regeln, die einem den Atem nehmen.“

Und nach dem Essen liegen dann alle auf dem Boden, sie hören sich noch mal das ganze Stück an, aber nur gesprochen, sie sollen sich ausruhen, aktiv entspannen, wenn man so will, und tatsächlich wird es nach ein, zwei Minuten wieder ganz still, die Kinder liegen lang da, die meisten auf dem Rücken, die Augen schräg nach oben, wo eigentlich ein grauer Himmel ist, und deswegen sieht auch keiner das Männlein mit seinem Zottelbart, das draußen vor der Fensterfront auftaucht, eine Fotokamera um den Hals, ein Mützchen auf dem Kopf, neugierig schaut es herein, was da wohl los ist, ein drolliger Kulturtourist auf Durchreise, und dann trollt er sich schon wieder, die riesige Kamera lustig vor dem grauen Parka baumelnd. Mach’s gut, Heinzelmännchen!

Und dann ist es halb drei, und sie stehen alle da, ordentlich in drei Reihen, dunkle Hosen und Röcke, die T-Shirts sind gelb, rot oder blau, nur Marwan hat ein weißes T-Shirt an und um den Hals natürlich das schwarze Tuch, er steht in der letzten Reihe, fast ganz rechts. Es ist mucksmäuschenstill, eng stehen die Erwachsenen beisammen, nur ein paar Meter entfernt, die Eltern, die Geschwister, die anderen Chorleiter und Stimmbildner und Ehrenamtlichen, es sind ja auch ihre Kinder, die da stehen, und alle sind gespannt.

Und wie sie dann singen – miteinander und ein bisschen auch durcheinander, ein bisschen laut ein paar, ein bisschen leiser dafür ein paar andere – da fällt einem auf, dass hier, auf diesen drei Stufen kein normaler Chor singt, nein, eigentlich singt hier Berlin, und damit ist nicht die Stadt gemeint, viel mehr Berlin steht vielleicht auf diesen drei Stufen als je auf der Bühne des großen Saals an einem Konzertabend. Hier, ja, genau hier, im Foyer des Kammermusiksaals, stehen sie, die Kinder der Stadt, die Zukunft, und singen, so laut und so gut sie können. Hellersdorf singt und Schöneberg und Moabit, Annika und Antonia, Marwan und Mariam, Melissa, Helene und Josefine, Lion, Lilli und Wilhelm und all die anderen, sie sind ganz bunt vor all dem Himmelsgrau und sie singen ein bisschen schräg und wild und wunderbar.

Und die Erwachsenen klatschen sehr laut.

In der Woche nach dem großen Auftritt ist es warm geworden, der Frühling blinzelt einem schon zu. Ein neuer Dienstag, eine neue Probe im Stadtschloss in Moabit. „Ich bin so froh“, sagt Judith Kamphues, „und so stolz auf die Kinder.“ Jetzt sei endlich ein bisschen mehr Zeit. „Jetzt sind die Kinder dran.“ Alle sind noch ein bisschen aufgeregt. Aber es geht weiter.

Aufwärmen. „Alle, die was Grünes anhaben, gehen zusammen in eine Gruppe“, ruft Judith Kamphues in den Kinderlärm. „Was ist denn grün?“, fragt ein Mädchen.

Kosova! Kampion!

Sechs Jahre gibt es das Kosovo, doch die Anerkennung des kleinen Landes verläuft schleppend. Das erste offizielle Länderspiel geriet deswegen zum Volksfest. Auch wenn der Gegner nur Haiti hieß. (11FREUNDE, April 2014)

Eine Haiti-Flagge, ruft Alban, wäre es nicht großartig, wenn wir jetzt eine Haiti-Flagge hätten?

Mit breiten Schritten geht er durch die Innenstadt von Mitrovica, der Regen kommt in feinen Fäden herunter, vor dem alten Kaufhaus trommeln und singen sie schon, und Alban Muja freut sich über seinen Einfall. Haiti, klar, ohne Gegner kannst du kein Fußballspiel machen, und noch gibt es auf der Welt nicht viele, die mit dem Kosovo spielen wollen. Haiti aber will, als Gegner, also eigentlich: Verbündeter, und hat damit das erste offizielle FIFA-Länderspiel des kleinen Balkanlandes ermöglicht, seit sechs Jahren erklärtermaßen unabhängig, aber noch kein Mitglied der internationalen Gemeinschaft, auch nicht im Fußball.

Ein erster Schritt ist das, dank Beschluss des Weltverbands. Da muss man dabei sein.

Willkommen in meiner Heimatstadt, Mann, hat Alban nach dem Aussteigen gesagt, die Arme so weit, als müsste die ganze Welt hineinpassen. Ein glücklicher Kosovare mit Schiebermütze, Vollbart und buntem Halstüchlein. Vorher war er in seinem klapprigen Fiat Punto die 50 Kilometer von der Hauptstadt Pristina nach Mitrovica gefahren, mit kreischenden Scheibenwischern, in der rechten Hand eine qualmende Lucky, in der linken meist das Telefon, alle fünf Minuten rief jemand an, wo treffen wir uns, seid ihr schon unterwegs, auf der Ablage über dem Handschuhfach die Sportzeitung mit den großen Lettern auf dem Titelblatt: Auf geht’s, Kosovo!

Es ist nicht nur ein Fußballspiel, sagt Alban, für uns ist das ein historisches Datum. Für mich sowieso, ich kenne das Stadion, ich habe dort ja selbst gespielt.

Es regnet also, am Morgen des historischen Tages, aber das Wetter muss ja nicht immer ein Zeichen sein für irgendwas. Braune Bäche laufen quer über die abschüssigen Straßen, die Scheiben beschlagen von innen. Der Uni hat Alban heute abgesagt, nicht zum ersten Mal fällt sein Seminar aus, aber zum ersten Mal, wenn er im Land ist und nicht in Berlin, New York oder Ljubljana, er ist viel gereist in den letzten Jahren.

Alban Muja, geboren am 10. September 1980 in Kosovska Mitrovica, ist einer der bekanntesten jungen Künstler seines jungen Landes, im Mai vergangenen Jahres hat ihm die Nationalgalerie in Pristina eine Einzelausstellung gewidmet, sein Name stand auf Plakaten in der ganzen Stadt. Nicht dass ihn nicht auch vorher schon jeder gekannt hätte. Geht er durch die Straßen der Hauptstadt, vergehen kaum je fünf Minuten, bevor er kurz anhalten muss, hallo, wie geht’s, si jeni? A jeni mirë?

Alban Mujas Kunst erzählt viel vom Kosovo: Er hat die neun Jungen fotografiert, die alle den gleichen Vornamen tragen, Tonibler, benannt nach Großbritanniens ehemaligem Premier, albanische Version, Tony Blair wird hier als Retter verehrt, genau wie Bill Clinton, dem sie gleich ein Denkmal gebaut haben in Pristina. Alban hat die junge Frau interviewt, deren Vater sie Palestina genannt hat. Und eines seiner Werke zeigt auch die Ibar-Brücke seiner Heimatstadt, über die niemand mehr gehen will. »Museum of Contemporary History«, so hat Alban das Bild genannt. »Sie verbindet nicht«, sagt er, »sie trennt.«

Die Brücke mit dem aufgeschütteten Erdwall mitten auf der Fahrbahn ist das Symbol geworden für Mitrovica, den Spielort, geteilt zwischen Albanern im Süden und Serben im Norden, und für den langen Weg, den das Kosovo noch vor sich hat. Serbien erkennt die Unabhängigkeit seiner alten Provinz nicht an, Serbien hat Russland im Rücken, und Russland ist UN-Veto-Macht. FIFA-Mitglied werden kann aber nur, wer Mitglied in einer Konföderation ist. Und UEFA-Mitglied werden kann nur, wer UNO-Mitglied ist. So sind die Statuten.

Deswegen wehen auch nur drei Flaggen an den vier Masten des alten Trepca-Stadions, die rote von Haiti, die blaue der FIFA und das gelbe Fair-Play-Banner. Der linke Mast aber bleibt kahl, die blaue Fahne mit dem gelben Umriss des Kosovo nicht aufzuhängen, das war der Kompromiss. »Aber ich habe eine«, ruft Alban und schwenkt sein kleines Papierfähnchen, das sie an alle verteilt haben, die eins wollten. Und dann geht das Feuerwerk los, blau und gelb schießt das Pulver hinter der Tribüne hervor, untermalt von lauten Krachern, und die Leute zücken ihre Handys. Kaum ist der letzte Kanonenschlag verhallt, kommen die beiden Mannschaften auf den matschigen Platz gelaufen, die elf Kosovaren ganz in Weiß, das sieht schön aus im Grau des Tages.

»Es fühlt sich so an«, sagt Enis Alushi, »als würden nicht wir elf Fußball spielen, sondern die ganze Nation.« Der Tag vor dem Spiel: Alushi, 28 Jahre alter Mittelfeldspieler des 1. FC Kaiserslautern, sitzt am Kopfende eines Betts im Hotel Emerald, wo das Team Kosovo untergebracht ist, 15 Kilometer außerhalb von Pristina, direkt an der Ausfallstraße, hinter einer Tankstelle. »Wir machen das auf dem Zimmer«, hat er gesagt. »Eigentlich sollen wir zwischen den Einheiten keine Interviews geben.«

Das Treffen hat also ein bisschen was Konspiratives, Alushi zuppelt noch schnell die Tagesdecke über das Bett, über dem Fußhocker liegen zwei Stutzen zum Trocknen. Es ist eigentlich das Zimmer von Albert Bunjaku, ebenfalls 1.  FCK. Der kommt nach ein paar Minuten hereingeschlendert, Kaffeetasse in der Hand, auch er in weißer Trainingsjacke. »Kosova« steht auf dem Rücken.

Eine knappe Stunde, inklusive Fotos, dann ist Mittagessen. Nicht viel Zeit. Ohnehin nicht ganz leicht, mit professionellen Fußballspielern über ernste Dinge zu reden, sie lernen auf diesem Niveau schon in der Jugend zu reden, ohne etwas zu sagen. Aber um Politik muss es nun mal gehen, heißt doch schon das Stadion nach Adem Jashari, dem ehemaligen UCK-Kommandeur, hier verehrt als Kriegsheld, als Märtyrer. Das Stadion liegt am Ufer des Ibar und seine Sitze sind grün.

»Politik spielt für uns Sportler keine Rolle«, sagt Enis Alushi gleich zu Beginn. »Aber wir wissen, dass es viel Politik gab in den letzten Jahren, damit wir überhaupt auf dem Platz stehen dürfen.«

Auch für Alushi ist es eine Heimkehr, wie Alban Muja ist er in Mitrovica geboren, am 22. Dezember 1985. Hier steht das Haus, in dem er aufwuchs, bis zu dem Tag knapp acht Jahre später, als die Eltern über Nacht die Koffer packten und aufbrachen in das große Land, das Hoffnung versprach, auf nach Deutschland, »hier werden wir doch nicht mehr glücklich«.

Das Haus, in dem Enis Alushi aufwuchs, gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht für ihn, es liegt auf der serbischen Seite. »Bis heute dürfen wir die alte Wohnung nicht betreten«, sagt er. Die Serben im Norden erkennen die Regierung in Pristina nicht an, sie wollen autonom sein oder, besser noch, zu Serbien gehören, vor der Ibar-Brücke stehen auch am Spieltag ein paar Panzerfahrzeuge, »Carabinieri« steht auf den Seiten. »Ich erinnere mich an meine Schulfreunde«, sagt Enis Alushi. »Ab dem Tag habe ich sie nie wiedergesehen. Es war eine gemischte Schule, ich hatte auch mit Serben zu tun, natürlich, als Kind ist man ja kein Politiker.«

Die sind natürlich heute da, die Politiker, das haben sie sich nicht nehmen lassen, die Präsidentin und der Premierminister, selbst zum Abschlusstraining ist Hashim Thaci ja bereits gekommen, das auf einem fleckigen Platz direkt neben dem Braunkohlekraftwerk stattfand, das ganz Kosovo versorgt und dessen Produktivität man dort auch auf den Lippen schmecken kann. »Ihr seid unser Stolz«, hat Thaci zu den Spielern gesagt. »Ihr seid unsere Zukunft, willkommen zu Hause.« – »Ist das erbärmlich«, hat einer der lokalen Fotografen gesagt. »Naja, bald sind Wahlen.«

Die Realität ist hier oft noch dunkler als der Qualm des Kraftwerks, das Land lebt von der internationalen Gemeinschaft, von den Geldsendungen der Exil-Kosovaren, eine halbe Million leben alleine in Deutschland und der Schweiz, und von den EU-Fördergeldern, rund 70 Millionen Euro jährlich. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International steht Kosovo derweil auf Platz 111 von 175, zusammen mit Äthiopien und Tansania. Schlimmer ist da nur, überhaupt nicht aufzutauchen in einem Ranking, denn während Haiti als stolzer 79. der FIFA-Rangliste anreist, sucht man die Kosovaren dort noch vergeblich.

»Ich musste überhaupt nicht überlegen«, hat Enis Alushi gesagt. »Ich wusste schon, wenn die Anfrage kommt, würde ich ja sagen.« Und nun läuft er da unten über den tiefen Rasen, die Stutzen schon voller Matsch, eben hat er nach einem schier aussichtslosen Ball gegrätscht, kurz vor der Auslinie, und ihn noch bekommen, und jetzt macht Enis Alushi, die Nummer fünf des Kosovo, linkes Mittelfeld, eins, zwei, drei, vier Übersteiger und die 17.000 Kosovaren werden wieder laut, die ersten Minuten des Spiels haben sie noch ziemlich still im Regen gestanden, es ist ja für alle das erste Mal.

»Kosova! Kosova!«, rufen sie nun, und hinter der gegenüberliegenden Fankurve sieht man die Hügel von Nord-Mitrovica, an den Hängen stehen Häuser aus rotem Backstein, und rechts ist das Wahrzeichen der Stadt zu sehen, die riesige Steinlore aus Beton, denn hier, in den Minen von Trepca, lagern Blei, Zink, Silber, Gold, Nickel, Bodenschätze, die Jugoslawien einst reich gemacht haben, damals, als noch mit voller Kapazität gearbeitet wurde, die Minen liegen genau an der Grenze zwischen dem Norden und dem Süden.

»Vielleicht ist es ein kleines Zeichen an andere Nationen«, hat Enis Alushi gesagt, kurz vor dem Mittagessen, »an die, die uns immer noch nicht akzeptieren wollen. Dass wir nicht aufgeben, dass wir unsere Akzeptanz haben wollen und gerade an diesem Ort unser Debüt feiern.«

»Mitrovica war multi-ethnisch«, sagt Alban. »12 bis 15 Prozent waren Nicht-Albaner. Eine Teilung in Nord und Süd gab es nicht, das Wort existierte nicht mal in unserem Vokabular.«

Auf einer Ibar-Brücke, über die er damals täglich ging, fand er statt, der Moment, an dem Alban merkte, dass etwas in eine völlig falsche Richtung läuft. Auf dem Heimweg, nachts, hielten ihn drei Polizisten an. »Woher kommst du so spät«, fragten sie, und Alban Muja entschuldigte sich, sein Serbisch sei nicht so gut. Da schlug ihm der Polizist mit der flachen Hand ins Gesicht. »Sieh zu, dass dein Serbisch besser wird bis zum nächsten Mal«, sagten sie, dann ließen sie ihn laufen.

Die Worte sind alle noch da. »Künstler, male ein Porträt von mir!«, sagte der Befehlshaber zu Albans Vater. »Oder … du weißt schon. Befehl ist Befehl.« Und der Vater, im Klassenzimmer der Schule, die nun ein Internierungslager war, malte das Bild, Kreide auf Schultafel, ein schönes Porträt, und er wurde nicht zu den vier Männern gestellt, die verschwanden für immer. »Ich habe meinen Vater gar nicht wiedererkannt«, sagt Alban, »20 Kilogramm hatte er verloren in der Zeit in der Schule. Ich habe so viel gelernt in diesen Monaten, den ersten sechs Monaten des Jahres 1999. Ich habe gelernt, wie stark ein Mann sein kann, stärker als ein Stein.«

»18 Jahre war ich, aber sie hielten mich für 16«, sagt er. »Meine Eltern hatten mir noch die Haare kurz geschnitten, am Tag vorher, damit ich jünger aussah. Alle Männer sortierten sie aus, von 18 bis 55 Jahren, aber nicht mich, nicht mich.«
»Duam fitoru!«, ruft Alban jetzt zusammen mit den anderen 17 000, die Zigarette im Mundwinkel. »Duam fitoru!« Wir wollen einen Sieg! Er steht halb in einer Pfütze, das Leder seiner Halbschuhe saugt sich voll, aber das Team des Kosovo reißt die Leute jetzt mit, es wird immer stärker gegen Ende der ersten Halbzeit. Die Haitianer, deren rote Trikots ihnen kalt um die Körper schlackern, kommen kaum noch aus der eigenen Hälfte. Aber auch die beste Chance, ein schneller Gegenstoß, eingeleitet von Alushi, hereingegeben von Bunjaku, führt nicht zu einem Tor, das Bein eines Abwehrspielers ist irgendwie noch dazwischen. »Huuuuuuu!«, machen die Zuschauer.

Halbzeit. Die Polizisten auf der Tartanbahn, Gesicht zur Kurve, stehen schweigend da, manche lächeln. In der Reihe vor Alban hat ein Vater den Arm um seinen Sohn gelegt, er ist vielleicht zehn, elf Jahre alt. Vater und Sohn haben beide blaue Kosovo-Kappen auf, die wurden in der Innenstadt verkauft und vor dem Stadion. Der Vater lässt ein Foto machen. Vorne auf beiden Kappen sind sechs Sterne und der gelbe Umriss des Landes. »Geschichte wird nur einmal geschrieben!«, ruft einer von hinten, als die elf Weißen wieder rauskommen. »Ja«, sagt Alban und dreht sich zu ihm um, »aber Geografie ein paar Mal.« Dann freut er sich und zündet sich noch eine Zigarette an.

Dabei ist das Spiel nicht mal hier, im Kosovo selbst, unumstritten. Es gebe nur eine Kombëtare, sagen manche, nur eine Nationalmannschaft, und das sei die albanische. Einige Fans sind lieber nach Tirana gefahren, wo Albanien am Abend gegen Malta spielt. »Albanien ist auch immer mein Team gewesen«, sagt Alban, »aber Kosovo als Mannschaft zu haben ist noch bewegender.«

Für Albanien wird Alban Meha später ein Traumtor schießen, auch er ist in Mitrovica geboren, auch er spielt in Deutschland, beim SC Paderborn. Nein, keiner der albanischen Nationalspieler ist gekommen zu diesem historischen Spiel, auch Xherdan Shaqiri und die anderen Kosovaren aus der Schweizer Nati nicht. Die WM steht bald an, ihre Karrieren sind immer schon fernab der Heimat verlaufen. Und eine kosovarische Flagge im Wembley-Stadion zu schwenken, ist nun mal deutlich einfacher, als ein ganzes Leben aufzugeben für eine Mannschaft, deren Zukunft in den gelben Sternen steht. Absolut verständlich, sagen die einen. Dann sollen sie nicht so tun, die anderen.

Den Leuten im Stadiumi Olimpik Adem Jashari ist es in diesem Moment egal, der Regen hat aufgehört, die Mannschaft des Kosovo gibt eine gute Figur ab, sie kämpft um jeden Ball, kaum eine Rückennummer ist noch zu sehen von all dem Matsch, nur ein Tor will irgendwie nicht fallen. Aber hat nicht Haiti letztes Jahr auch unentschieden gegen das große Italien gespielt? La Ola rollt über die alten Steintribünen. »Kosova! Kampion!«

»Vielleicht«, hat Enis Alushi in seinem Hotelzimmer gesagt, »werden Shaqiri und die anderen, wenn sie sich das Spiel anschauen, ein bisschen neidisch auf uns sein.«

Er hat ein Haus gebaut, für seine Familie, auf dem Grundstück, das ihm seine Großmutter überlassen hat. Es liegt auf der anderen Seite der Brücke, in einer der wenigen ethnisch durchmischten Nachbarschaften. »Das Haus ist bezugsfertig«, sagt Enis Alushi. »Jetzt habe ich hier wieder ein Heim, und ich benutze die Brücke noch.«

Man kann sein Glück nicht immer erzwingen, man braucht Geduld, als kleines Land und als Fußballteam. Und so ist vielleicht dieses torlose Unentschieden, das sich die kosovarische Nationalmannschaft am Ende in ihrem ersten offiziellen Spiel erkämpft und, ja, auch erspielt hat, dann doch das korrekte Ergebnis. Sie haben ihren Willen gezeigt, sie haben die Leute begeistert, ein bisschen zumindest, aber die Zukunft braucht Zeit. Sie müssen sich gedulden.

Alban Muja geht in der drängenden Menge voran, seinen zusammengefalteten Regenschirm über dem Kopf schwenkend wie ein Touristen-Guide, »European Union« steht auf dem Schirm, aber das sieht man jetzt nicht mehr. »Wäre besser gewesen, wenn es nicht geregnet hätte«, sagt er, »aber was soll’s. Schnell nach Hause, dann schaffen wir noch die zweite Halbzeit von Albanien.«

»Reporter? Da sind Sie der neunte!«

Der Wedding, dieser geheimnisvolle Stadtteil, steckt voller großartiger Geschichten. Nicht immer aber haben die Weddinger Lust, sie zu erzählen. Eine kleine Lektion Demut im Musikhaus an der Müllerstraße.

Zum ersten Mal las ich von ihr im Spätsommer vergangenen Jahres. „Wegen Flöten“, stand über dem Artikel, „84-jährige Musikladen-Besitzerin niedergestochen“. Eine Polizeimeldung direkt aus dem Wedding, aus der Müllerstraße, wo die alte Dame, so stand es zu lesen, seit 65 Jahren ihre Musikalienhandlung führe. Der Täter war geflohen, mit einer Flöte und einer Ziehharmonika, die Geschäftsinhaberin fand eine Kundin später hinter dem Verkaufstresen, aus mehreren Schnitten blutend.

Ein paar Monate später kam die Rede erneut auf den Musikladen, die Besitzerin, so erzählte mir einer, der den Wedding sehr gut kennt, sitze im Winter im Kalten in ihrem Laden, weil sie sich die Heizkosten nicht mehr leisten könne.

Aber sie sei immer noch da. Das ist der Wedding, sagte er, genau das. Da muss man doch mal hin. Da muss man doch mal was drüber machen.

Den ganzen Artikel im Tagesspiegel lesen.

Tod eines Reisenden

– Christina Schien betrieb 17 Jahre lang eine kleine Kneipe am Treptower Park – bis die Deutsche Bahn ihr plötzlich kündigte. Während Schien mittlerweile in neuer Umgebung glücklich ist, steht die Immobilie auch drei Jahre später noch leer.

Am Abend, als der Bote kommt, steht Christina Schien am Tresen in ihrer Kneipe. Wo auch sonst? Es ist der 30. September 2009, gegen 19 Uhr abends. Ein Mittwoch. „Hugo der Reisende“, ein gemütliches Altberliner Lokal unten im S-Bahnhof Treptower Park, hat an diesem Abend nur ein paar Stammkunden zu Gast. Kneipen sind am Monatsende selten voll.

Als Christina Schien mit hastiger Hand den Umschlag öffnet, fällt ihr Blick gleich auf die fettgedruckte Betreffzeile: „Fristgerechte Kündigung“. Nach 17 Jahren beendet die Deutsche Bahn die Mietbeziehung in Maschinenschrift: „Bitte vereinbaren Sie einen Termin für die Rückgabe des Mietgegenstandes innerhalb der vorgenannten Räumungsfrist.“

Dreieinhalb Jahre später sitzt Christina Schien, 61 Jahre, kurze weiße Haare, am Esstisch ihrer Wohnung am Platz der Vereinten Nationen und schaut hinaus auf Berlin. Schiens Zuhause liegt hoch über dem Friedrichshain, niedrige Decke, alte Platte. Ihr Blick geht zum grau gewaschenen Horizont. Doch in Wirklichkeit ist sie jetzt wieder in ihrem Lokal, Brief in der Hand. „Sie stehen da“, sagt sie, „und verstehen die Welt nicht.“ Sie sei gerade fertig gewesen mit allem, „der Laden stand so, wie ich ihn haben wollte.“

Der „Hugo“, sie nennt ihre Kneipe immer noch wie einen verlorenen Sohn, ist mehr als ein Job, er ist ihr Lebensinhalt gewesen, von 1992 an, als sie das Objekt mit Blick auf den grünen Treptower Park von der Mitropa übernahm. Eifrige Nachwendejahre, Zeit des Aufbruchs. Auch für Schien, die Pfarrerstochter, geboren in Schöneweide bei Berlin, aufgewachsen in der Nähe von Schwedt, mit 19 zurückgekehrt in die Hauptstadt der DDR.

Bevor sie anfängt, ihre Geschichte zu erzählen, hat sie starken Kaffee gebrüht. Sie trinkt in kleinen Schlucken. Anfang 40 ist sie, als sie die Kneipe am Park übernimmt, die Kinder aus dem Haus, eine neue Aufgabe. Stück für Stück renoviert sie, zusammen mit ihrem Mann, Touristenschiffer bei der „Kreis und Stern“. Reißt die alten Pissrinnen heraus, verlegt Fliesen, verputzt und malert. Noch im Herbst 2004 erneuert sie die komplette Elektrik, rund 10.000 Euro Materialkosten, plus ein Vierteljahr Einbauzeit. Die schönsten Impressionen aus den Geburtsjahren des „Hugo“ hebt sie bis heute sorgsam in einem gebundenen Fotoalbum auf. Ein Familienalbum.

An die Bahn überweist sie Monat für Monat ihre Miete, ansonsten macht sie ihr Ding, wie schon zu DDR-Zeiten, als sie bereits eine „freie Kneipe“ betrieben hat, bloß weit weg vom ungeliebten System.

Ab 2002 läuft „Hugo der Reisende“, benannt nach der Figur mit Koffer direkt am Eingang, nur noch als Saisongaststätte, von Anfang April bis Ende Oktober. Eine Entlastung, die kalten Winter mit kaum Gästen sind vorbei. In den warmen Monaten, der Park übervoll, läuft das Geschäft dagegen gut, in der Kneipe und dem Imbiss nebenan. Der „Hugo“ gehört zum Park wie das alljährliche Hafenfest oder das Public Viewing während der WM 2006, das mehr Leute als je zuvor vor die Türen von Christina Schien spült.

Die Elektrik neu, der „Hugo“ rentiert sich, eigentlich ist nun alles perfekt. Bis zu dem Tag kurz vor Saisonende 2009, dem Tag, an dem der Bote kommt.

Einen Kündigungsgrund findet Christina Schien nicht in dem Schreiben. Sie kennt ihn bis heute nicht. „Ich wurde immer abgebügelt“, erzählt sie. „Ich habe keine Antworten bekommen. Am Telefon habe ich geweint, gedroht, eine Mischung von beidem, dass sie mal kommen und man sich Auge in Auge unterhalten können.“

Stattdessen werden Interessenten durch die Räumlichkeiten geführt. Dass ihre Kneipe neu ausgeschrieben ist, erfährt Schien so praktisch beiläufig. Mit der Zeit legt sie sich ihre eigenen Gründe für den Rausschmiss zurecht: „Ich denke, das war ein richtiger Schreibtischtäter. So wie der Chefsanierer sich die Lohnlisten ansieht und jeden vierten oder fünften streicht. In der Preisklasse lief das ab.“

Die Berliner Pressestelle der Bahn hält sich auf Anfrage im Ungefähren. Es habe „rechtliche Probleme“ gegeben, heißt es. Davon will Schien nichts wissen. Ihre These: Die Bahn habe zu deutlich höheren Konditionen neu vermieten wollen.

Die Bahn bestätigt, dass es damals einen konkreten Interessenten gegeben habe. Ein „schönes Konzept“ habe der vorgelegt, eine Mischung aus „Restaurant, Bar, Lounge, richtig schick“ – Name der neuen Lokalität: „Planwirtschaft“. Doch dann habe sich herausgestellt, dass das Objekt in schlechterem Zustand gewesen sei als angenommen. „Schimmel und Wassereinbrüche“ hätten Bauarbeiten vonnöten gemacht, die allerdings bis heute nicht begonnen sind. Für Schien kommt das nicht überraschend. Einsickerndes Wasser von den darüber liegenden Bahngleisen habe es im hinteren Kneipenbereich nach Regenfällen immer gegeben, sagt sie – eigens dafür habe sie sich einen provisorischen Abfluss gebastelt.

Der ehemalige „Hugo“ steht auch drei Jahre später noch immer leer. Schien sagt: „Die Bahn hätte ein Supergeschäft machen können mit mir. Ich habe eine Immobilie bezahlt und betrieben, die sie jetzt nicht mehr vermietet kriegt.“

Schiens Kündigung lief vertragsgemäß ab. Doch die Umstände, das Wortlose, haben Christina Schien tief getroffen – bis heute. Sie ist beim Gespräch merklich angespannt, irgendwann tupft sie sich Tränen von der Wange. „Wissen Sie“, sagt sie, „ich hatte das alles ein bisschen vermauert.“

Ihre persönliche Geschichte hat nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit immerhin eine versöhnliche Richtung eingeschlagen. Sie arbeitet wieder, als Tagesmutter für eine Familie in Prenzlauer Berg. Und hat sich verändert. „Es ist wunderbar, die Langsamkeit zu lernen“, sagt sie. „Früher war ich eine Hektiknudel ohne Ende, immer unter Spannung, nie fertig. Jetzt entdecke ich völlig andere Sichtwinkel.“ Täglich für das zweijährige Kind der Familie zu sorgen, erfüllt sie – anders als das die Kneipe bei allem engen Kundenkontakt je konnte. „Das ist mein fünftes Enkelkind“, sagt Schien und ihre Augen glänzen, vor Freude diesmal. Ihre beiden eigenen Töchter hätten ihr gesagt, sie sei ganz ausgeglichen und ruhig geworden.

Christina Schien stellt ihre Kaffeetasse ab und steht auf. Mit fester Stimme sagt sie: „Heute bin ich soweit, dass ich sage: Danke, liebe Bahn, ihr habt mich eigentlich befreit. Es tut immer noch weh, aber ich führe jetzt ein anderes Leben.“

Nase voll

– Ein Datingportal lädt zur Schnüffelparty – es kommen zwar fast nur Journalisten, ein Pärchen findet sich aber trotzdem

Die Party läuft noch nicht sehr lange, die ersten Tüten machen gerade die Runde, da hält Tanja plötzlich inne. Sie reckt ihre Nase in alle Richtungen. „Es müffelt.“ Sie schaut in die Runde. „Findet ihr nicht?“ Es stimmt. Es ist stickig, hier im Hinterzimmer. Sehr warm. Was an den ganzen Kameras liegen könnte, an den Scheinwerfern und Aufnahmegeräten, an der ganzen wuselnden Pressemeute.

Ein Altbau in Friedrichshain, Erdgeschoss. Ein junges deutsches Datingportal hat eingeladen, zur ersten Pheromon-Party Deutschlands, eine „Event-Sensation“, wie es heißt. Pheromone, das sei kurz erklärt, sind menschliche Duftstoffe. Das Prinzip des Abends: Die Teilnehmer stopfen gebrauchte T-Shirts in eine nummerierte Plastiktüte, andere Teilnehmer schnüffeln dran – und wo es besonders gut riecht (oder am wenigsten schlecht), dahinter soll der Traumpartner stecken. Der dann mittels eines Fotos entscheiden kann, ob er die nächsten Schritte einleitet. Kommt natürlich, wie jeder gute Trend, aus den USA.

Es sind wirklich viele Leute gekommen, das ist schon mal schön. Aber es sind fast ausschließlich Journalisten. Womit sich zum einen deren Arbeit erheblich erschwert. Typischer Dialog: „Und, was hast du schon so gerochen?“ – „Nichts, bin auch von der Presse.“ Den wenigen echten Teilnehmern macht es den Abend schlicht zur Hölle. Tanja hat schnell, Pardon, die Nase voll: „Ihr macht alles kaputt! Wir sollen hier den Mann fürs Leben erriechen und werden so belagert.“ Daher will sie in den Artikeln irgendwann nur noch Tanja genannt werden. Es gelingt ihr, sich aus dem Knäuel herauszuwinden, doch kaum dreht sie sich um, blinzelt sie in einen grellen Lichtkegel. Das N24-Team hat sie gestellt. „Und, hast du ihn schon gefunden? Na, deinen Traummann?“

Es ist keine ganz einfache Situation. Es schnürt einem den Atem ab. Also vor in den Empfangsraum. Vor der Sponsorenwand posiert eine Teilnehmerin mit blonden Ringellocken, Minirock und Stiefeln. „Be sexy!“, schreit sie der Hausfotograf an. „More sexy! More sexy!“ Die blonde Frau öffnet ihren Mund, schaut jetzt irgendwie lasziv, vielleicht hat sie das mal in einer Magnum-Eis-Werbung gesehen. Apropos: „Produkte zum Verlieben“, mit diesem Slogan wirbt der Veranstalter für seine Seite. Die Produkte, das sind die Männer. Die Frauen können sie in ihren Warenkorb legen. Die Liebe in Zeiten von Amazon.

Als nächstes wird ein schmaler junger Mann an die Wand gestellt, dünne Brille, kariertes Hemd. „Und, wie viele Fotos hast du schon so machen lassen?“ – „Drei.“ – „Und wonach riecht sie, deine Lieblingsfrau?“ – „Keine Ahnung, angenehm.“ – „Wie angenehm?“ – „Angenehm halt. Keine Parfümbombe oder zu viel Schweiß. So, dass man sich vorstellen kann, neben dieser Frau aufzuwachen.“ Das ist dann tatsächlich mal ein halbwegs schöner Satz. Doch der junge Mann muss schnell weg, er hat schon sehr viele Interviews gegeben.

Zurück in den Mittelraum, auf Ledersofas plaudern Bier trinkende Journalisten. Die ersten Facebook-Anfragen gehen raus. Informationen machen rasend schnell die Runde, das ist der Vorteil. So spricht sich schnell herum, dass die beiden schönen Menschen neben Tanja eigentlich Models sind, die sich das RTL-Team als Protagonisten mitgebracht hat. Praktisch. Er könnte so vom Typ her der Sohn von Detlef „D!“ Soost sein, ist eigentlich Tänzer. Seine Tattoos werden leider vom Muskelshirt halb verdeckt. Und sie ist die Sorte Frau, die sich ihre Haare schwarz färbt. Aus ihrem knallengen Büchslein ragt ein weißes iPhone-Cover heraus, mit ein paar funkelnden Edelsteinen drauf, immer mal wieder zieht sie es mit spitzen French-Nail-Fingern heraus. Der Kameramann ist dagegen einfach nur ein echter Profi. Sein Spezialgebiet: Rasend schnelle Schwenks. Von der Foto-Leinwand auf die Models. Und zurück.

Und dann wird’s ernst. Ein Indie-Typ mit Hut hat sich mit der Nummer des Models ablichten lassen. Das Team rüstet sich zum Angriff. Schwarzhaarige vorweg, dicht dahinter Reporter, Kamera-Profi und dann der stolpernde Tonmann, er kommt kaum hinterher. Es ist zu eng, zu laut, man kann leider nicht hören, wie das Gespräch so anläuft.

Tanja hat irgendwann genug. Sie zieht sich die Jacke an. „Gehst schon?“ – „Guck dir mal die Leute an“, sagt sie, „da spricht heute keiner mehr irgendwen an.“ Auf dem Weg nach draußen kommt sie an der Schwarzhaarigen und dem Hut vorbei, die sich tatsächlich immer noch unterhalten, die Kamera ist längst aus, der Beitrag im Kasten. Wie sie so dastehen, geben sie ein großartiges Pärchen ab. Der Singer-Songwriter und die Großraumdisko. Zu gerne würde man ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, ob und wie sie sich riechen können, zum Beispiel, aber das wäre nicht angebracht. Genug geschnüffelt.

Der Fußball-Botschafter

– Der Deutsch-Türke Mehmet Matur wirbt für mehr Integration auf Berlins Sportplätzen – ein Tag mit einem überzeugten Ehrenamtler

Mehmet Matur ist ein geduldiger Mann, das ist vielleicht das Allerwichtigste. Ein früher Mittwochnachmittag im „Haus des Fußballs“. Im Sitz des Berliner Fußball-Verbands tagt der Integrations-Ausschuss. Es geht um eine wichtige Sache, um den Sozialpreis, der an engagierte Klubs vergeben wird. Doch es ist wie so oft bei diesen Sitzungen: Es wird sehr viel geredet. Über die Preisverleihung, den Programmablauf, die Sitzordnung, das Catering, die Show-Acts, die Besetzung der Jury. In der Ecke hängt ein Plakat, darauf steht: „Wir leben Fußball. Bevor aus Frust Gewalt wird“.

Mehmet Matur sitzt ruhig da und hört zu. Er trägt eine strahlend weiße Trainingsjacke von Werder Bremen. Nicht nur Sympathie, ein Statement. Werder hat Ende März den DFB-Integrationspreis verliehen bekommen. Mehmet Matur ist im Berliner Fußball der wichtigste Mann in Sachen Integration, auch wenn er das selbst nie unterschreiben würde. 1960 in der Türkei geboren, mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen, sitzt er seit 2004 auf Betreiben von BFV-Chef Bernd Schultz im Präsidium. Der erste Migrant überhaupt. Als langjähriger Funktionär von Türkiyemspor kennt er auf Berlins Fußballplätzen so ziemlich alles und jeden. „Er ist sehr direkt und jemand, der stark den persönlichen Kontakt sucht“, sagt Schultz. Fast jeden Tag ist Matur unterwegs, zu Punktspielen und Klubheimen, 30 bis 40 Stunden die Woche, schätzt er. Alles ehrenamtlich.

„Meine Verwandten in der Türkei glauben mir das nicht.“ Die Sitzung ist vorbei, Matur steuert seine schwarze A-Klasse durch den Stadtverkehr. Dass jemand 30 Stunden die Woche arbeitet, ohne Geld dafür zu bekommen, das verstehen sie nicht. „Aber es ist ja keine Arbeit“, sagt Matur. „Ich setze mich ein, ich will dem Fußball dienen. Doch sie denken trotzdem, dass ich irgendeinen Vorteil verfolge, dass ich Bürgermeister werden will oder Abgeordneter.“ Matur lacht, aber er beschreibt da eines der Probleme, gegen die er ankämpft. Ihre Kinder spielen fast alle Fußball, aber es gibt nach wie vor zu wenige Migranten, die sich ehrenamtlich einsetzen. Immerhin: Ihr Anteil steigt, 2010 lag er deutschlandweit laut DOSB bei 13 Prozent, drei Jahre zuvor noch bei 7,2. Ein anderes Problem ist die Gewalt, oft aus Vorurteilen gespeist.

Matur ist Fußball-Botschafter, er wirbt für Verständnis und Annäherung, auf beiden Seiten. Dafür, dass die Weihnachtsfeier vielleicht stattdessen Abschlussfeier genannt wird, damit sich auch die muslimischen Mitglieder willkommen fühlen. Dafür, dass sich Migrantenvereine deutsche Namen geben, um sich zu öffnen, wie der Neuköllner Klub Galatasaray, der nun Rixdorfer SV heißt. „Ich wünschte, es wäre nicht so, aber der Name spielt eine Rolle“, sagt Matur. „Traurig, aber wahr“, viele seiner Sätze beginnen so oder so ähnlich.

Nach einer halben Stunde parkt Matur seinen Wagen in der Erkstraße. Hier, im Herzen von Neukölln, betreibt er mit seinem Bruder das „Butterfly Sporthaus“, seit bald 20 Jahren. In dem engen Büro hinter dem Verkaufsraum stapeln sich Schuhkartons, bis hoch zur Decke. An den freien Stellen: Vereinswimpel. Ankaraspor, Türkiyemspor, BSC Rehberge, und der rot-weiße Wimpel des BFV. Daneben die Autogrammkarte von Mesut Özil. Und gerahmte Fotos: Matur mit Prinz Charles. Matur mit Joachim Löw und Oliver Bierhoff. Auf dem Tisch liegt die aufgeschlagene „Fußball-Woche“.

Bei einem Tee umreißt Matur seine Lebensgeschichte, und mit jedem Satz wundert man sich mehr, dass er immer noch hier vor einem sitzt.

Matur erzählt von den Anfängen, den Schwierigkeiten. Wie er in Deutschland der Einfachheit halber zwei Klassen zurückgestuft wird, weil er kein Deutsch kann. Wie er trotzdem ein Jahr später eine Gymnasialempfehlung bekommt. Wie sein Vater, ein einfacher Mann, der selbst nur die Grundschule besucht hat, den Sohn trotzdem auf die Hauptschule schickt. Und: Wie ihn die Fußballmannschaft aufnimmt, Tura Hennef, er spricht den Namen noch heute aus als wäre er ein Himmelsgeschenk, der Trainer kauft ihm Schuhe und Trainingsanzug, weil seine Eltern jeden hart verdienten Pfennig für später sparen. Mit 16 muss er zunächst auf Wunsch der Familie wieder in die Türkei, doch Anfang 20 kehrt er alleine wieder nach Deutschland zurück, er vermisst die Freunde und, wie er sagt, „die Ruhe und die Ordnung“.

Es folgen der Umzug nach Berlin und elf Jahre bei der BVG. Es folgt: eine Desillusionierung. Matur ist nun der, der er in Hennef nie war: der Fremde, der „Eseltreiber“, wie sie ihn nun nennen. Mehmet Matur ist niemand, der böse Worte über andere Menschen verliert, aber die Namen derer, die ihn gekränkt haben, weiß er noch heute. Nach dem Türkei-Urlaub sagt eine Kollegin: „Die sind ja gar nicht so wie ihr.“ Maturs Blick bleibt sanft, scheinbar ungerührt, als er das erzählt, nur ab und zu fasst er sich schnell an den Hals, um den Reißverschluss seiner Jacke ein Stückchen weiter aufzumachen. Er erzählt von einem Spiel in Neustrelitz, bei dem seine Mannschaft mit Bier beworfen wird. Von dem Tag, als der türkische Botschafter ein Pokalspiel beim BFC Dynamo vorzeitig verlassen muss, auf Drängen seiner Sicherheitsleute. „Wissen Sie“, sagt Matur. „Ich habe mich damals in Hennef nie wie ein Fremder gefühlt. Aber heute spüre ich das, obwohl ich schon so lange hier bin.“

Als Matur die BVG verlässt, 1994, steht er vor der Wahl: Kapitulieren oder bleiben. „Ich bin Steinbock. Ich wollte mich wehren, nicht nur alleine, sondern mit anderen. Man sollte nicht durch den Willen von ein paar Idioten weggehen, nur aus eigenem Willen.“ Matur bleibt.

Ein Blick auf die Uhr. „Wir müssen los.“ Wieder ins Auto und den kurzen Weg hinüber zum Columbiadamm. Hürtürkel gegen Tennis Borussia, Punktspiel in der Berlin-Liga. Keine ganz normale Partie, TeBe bringt viele Fans mit, im Vorfeld hat es außerdem wohl ein paar zweideutige Facebook-Botschaften gegeben. Hürtürkel steht ohnehin im Fokus, seit der Klub im letzten Jahr wegen antisemitischer und rassistischer Äußerungen bei einem Spiel mit Punktabzug bestraft wurde. Matur sagt: „Der Verein hat eine gute Reaktion gezeigt, mit der Polizei kooperiert, Spieler und Trainer zu Anti-Gewalt-Kursen geschickt“.

Aber eine Fahrt ins Stadion ist immer eine Fahrt ins Ungewisse, nicht nur was das Ergebnis angeht. Matur ist angespannt. „Ich habe Magenkrämpfe“, gesteht er. „Ich hoffe, dass der Tag gut zu Ende geht.“

Es ist ein milder Abend. Vor dem Stadioneingang stehen zwei Polizei-Wannen. Drinnen sind die Fangruppen geteilt, mit rot-weißem Absperrband und kleinen Pappschildchen. „Heim“ steht rechts, „Gast“ links. „Das ist schon mal gut“, sagt Matur. Er schüttelt viele Hände. An einem Stehtisch begrüßt er eine Frau. Neben ihr steht ein Rentner. Schnauzender Rentner: „Warum seid ihr so teuer geworden?“ Matur schaut ihn an. „Wieso wir? Ich gehöre nicht zu Hürtürkel. Ich komme vom Berliner Fußballverband.“ Grimmiger, schweigender Rentner. Matur sagt: „Ich habe meinen Eintritt gezahlt, wie alle anderen.“ Beim Weitergehen schüttelt er leicht den Kopf.

Der Eintrittspreis sorgt für Unmut. Zehn Euro verlangt Hürtürkel zunächst, später dann nur noch acht. Auch das nicht gerade wenig für ein Sechstligaspiel. Gut 50 TeBe-Fans weigern sich, zu zahlen, und verfolgen das Spiel lieber von draußen, durch den Zaun.

Es bleibt alles friedlich. Das Spiel ist schon zur Pause entschieden, Hürtürkel führt 4:1. Nur kurz wird es hitzig, aber es ist nur der ganz normale Frust der Verlierer, man schüttelt sich schnell wieder die Hände. Die zweite Hälfte plätschert dahin. Sommerabendstimmung. Auf der Tartanbahn spielen ein paar Kinder. Die Fans hinterm Zaun singen ein paar halb-ironische Gesänge. Dann ist Schluss. Mehmet Matur trinkt noch einen Tee. Gegessen hat er in der zweiten Halbzeit auch endlich was. Der Magen ist wieder okay. Ein guter Abend. Ein normaler Abend. Es ist jetzt dunkel, aber die weiße Werder-Jacke ist noch weithin zu sehen.

Timos Traum

– Er spielte in einer Elf mit Thomas Müller – ein Jahr später war Müller Deutschlands Held, und Timo Heinze hörte mit dem Fußball auf. Eine Geschichte von Aufstieg und Fall (11FREUNDE, Tsp.)

Es gibt diese eine Szene, eine, von der kleine Kinder träumen und, ja, auch Erwachsene. Das große Stadion, Flutlicht, volles Haus. Auf dem Feld: Die besten Fußballspieler Deutschlands. Den Ball abfangen, in der eigenen Hälfte, und nach vorne sprinten, in den freien Raum, den Ball vor sich hertreiben, Haken schlagen, ein, zwei Gegner stehenlassen, schon dicht am anderen Strafraum. „Hier ist Heinze“, sagt Kommentator Bela Rethy, „ein 22 Jahre alter Außenverteidiger.“ Es ist der Satz, den wir alle mal hören wollten, über uns.

Die Menge in der Münchner Arena raunt, Timo Heinze könnte jetzt schießen, gleichzeitig sieht er, wie der Stürmer Miroslav Klose seinen Weg kreuzt. Eine blitzschnelle Entscheidung. Heinze spielt den Ball geradeaus in die Lücke, doch Klose läuft weiter nach rechts, ein einfaches Missverständnis. Der Ball trudelt ins Leere.

Und dann dieses Foto, entstanden nur ein paar Monate später. Die Ersatzbank. Junge Menschen mit tiefen Brauen. Auswechselspieler sehen selten glücklich aus. Doch Timo Heinze, ganz rechts, leerer Blick, Zähne auf der Unterlippe, sieht aus wie einer, der sich fragt: Was mache ich hier? Er sieht aus wie ein Verlorener.

Der Fußball ist ein rasendes Business, das ist ein Klischee, aber über Timo Heinze ist es wahrhaft hereingebrochen. Er hat den Traum gelebt, unser aller Traum, er war Jugendnationalspieler, Kapitän der Bayern-Reserve mit Anfang 20, auf dem Sprung nach oben. Vielleicht nach ganz oben. Und dann spuckte ihn die große Maschine wieder aus. Sein Spurt bei Oliver Kahns Abschiedsspiel blieb der einzige Moment auf der ganz großen Bühne. Heinze hat es nicht geschafft. In einem Sport, der nur in Gewinner und Verlierer einteilt, hat er verloren. Darüber hat er ein Buch geschrieben, „Nachspielzeit: Eine unvollendete Fußballkarriere“, erschienen Ende letzten Jahres. Eine Selbsttherapie. Eine Abschiedshilfe. „Das Buch war ein Glücksfall“, sagt Heinze. „Wenn ich das nicht alles aufgeschrieben hätte, wäre ich sicher noch nicht so weit.“ Nicht so weit mit der Trauerarbeit. Mit dem Entzug.

Denn der Fußball ist wie eine Droge für die, die sich ihm verschrieben haben. Nur wer sich ihm ganz und gar hingibt, wer alles andere vernachlässigt, der kann es überhaupt zu etwas bringen. Davon wieder loszukommen, ist irrsinnig schwer, manche schaffen es nie, man muss sich nur all die traurigen Ex-Profis anschauen, die Tag für Tag in den Sportsendungen herumsitzen. Timo Heinze musste noch viel früher als die meisten loslassen, was es nicht einfacher macht. „Es tut inzwischen nicht mehr weh“, sagt Heinze, „ich habe abgeschlossen.“ Aber er sagt diese Sätze vorsichtig, wie jemand, der von der ersten großen Liebe berichtet, die immer die bedingungsloseste ist, weil sie noch keine Enttäuschung kennt.

Fußball ist ein einfaches Spiel, sagen die, die keine Ahnung haben. Es ist ja gerade die Einfachheit, die den Sport so schwer beherrschbar macht. Der Mensch ist nicht einfach. „Ich war schon immer ein Kopfmensch“, sagt Heinze, und was eine nützliche Eigenschaft sein kann, wenn es gut läuft, verkehrt sich in der Krise schnell ins Gegenteil: „Um ehrlich zu sein, ich war immer ein Spieler, der das Vertrauen brauchte, um dann gute Leistungen zu bringen“, schreibt Heinze. „Wenn ich mich in meiner Situation unwohl fühlte und die Anerkennung des Trainers vermisste, fiel meine Leistung rapide ab. Einem Thomas Müller zum Beispiel wäre das niemals passiert.“

Müller. Er hat das Vorwort zu Heinzes Buch geschrieben, natürlich kein Zufall. Er hat zusammen mit Heinze bei Bayerns zweiter Mannschaft gekickt, noch 2009 stehen sie zusammen auf dem Feld. Ein Jahr später beendet Heinze frustriert seine Karriere, und Müller wird der jüngste WM-Torschützenkönig aller Zeiten.

Heinze redet nur gut über Müller, sie sind Kumpels von früher, er bewundert ihn für seine Art, die er „schizophren“ nennt. Damit meint er: dass Müller, der intelligente, beredte Kerl, auf dem Platz ein anderer wird, wie auf Knopfdruck. Die Last der Gedanken wegwischt, die vergebenen Chancen, die Erwartung der Zuschauer. Das ist Müllers größte Gabe. Er hat es geschafft, obwohl er viel zu dünn ist, eigentlich, und viel zu hölzern. Über seinen Treffer im Champions-League-Finale gegen Chelsea schrieb die „Süddeutsche Zeitung“: „Die Bayern hatten den Schlüssel gesucht, und am Ende hatte Thomas Müller die Tür einfach eingetreten.“ Ein unmögliches Tor, ein hässlicher Aufsetzer, man musste zweimal hinsehen, aber der Ball war drin. So einer ist Müller. Ein Gewinner. Als er ausgewechselt wurde, verloren die Bayern noch.

Auch Heinze ist lange ein Gewinner im Sinne des Systems, er spricht ein bisschen so wie Müller, hat das gleiche breite Grinsen, mit zwölf Jahren wird er von den Bayern-Scouts entdeckt, er durchläuft alle Jugendteams, absolviert zwei Dutzend Länderspiele bis zur A-Jugend. Dann, das Abitur gerade gepackt: der erste Knick. Leistenbruch, beidseitig, eine normale Verletzung, zumal bei Fußballern. Doch nach der Operation schmerzen die Narben, es gibt Komplikationen, eine Not-OP. „Das war der erste Riesenschlag“, sagt Heinze heute, „wenn man so will, war die Verletzung der Anfang allen Übels.“ Am Ende wird Heinze wieder fit, doch es dauert ein Jahr. Ein verlorenes Jahr. Eine Ewigkeit, gerade in dem Alter. Doch Heinze kämpft sich zurück, spielt bald für die Bayern-Reserve und wird von Trainer Hermann Gerland schließlich sogar zum Kapitän gemacht. Es scheint nur noch ein ganz kleiner Schritt zu sein. Der Traum ist fast Wirklichkeit. Und dann geht alles binnen weniger Wochen dahin. Warum?

Es gibt keine Antworten, nur Faktoren. Zum einen ist da die Erinnerung an die Verletzung, die erste Begegnung mit dem möglichen Scheitern. Zum anderen wird Heinze vom Coach auf die Bank gesetzt, plötzlich, ohne große Begründung. Das ist nicht gut, aber das passiert. Gerland ist alte Schule, ein grimmiger Schweiger, aber ein absoluter Fachmann. Heinze sagt: „Die Entscheidung war hart, aber sie hat mich extrem aus der Bahn geworfen. Wie ich damit umgegangen bin, war alles andere als optimal. Ich konnte das nicht mehr ausblenden und mich aufs Wesentliche konzentrieren.“

Das Scheitern ist jetzt immer präsent, der Kopf ist Timo Heinzes größter Feind. Warum er, warum schon wieder solch ein Rückschlag? Wozu ist das gut, was hat das Schicksal mit ihm vor? Fragen über Fragen, die ihn lähmen. Selbst wenn er mal wieder spielen darf: „Was geht im Kopf des Trainers jetzt vor? Wird er mich gleich auswechseln? Sitze ich dann in nächster Zeit wieder nur auf der Bank? Und wie soll ich dann einen guten Verein finden?“ Unnütze Fragen, weil es keine Antworten gibt. Timo Heinze hat den Glauben an sich selbst verloren.

Es geht, fast zwangsläufig, bergab. Die Bayern verlängern seinen Vertrag nicht. Heinze fällt nun doch noch durchs Sieb, wie so viele vor ihm. Am letzten Trainingstag läuft er mit einer Videokamera noch einmal die Gänge an der Säbener Straße ab. Als müsse er sich selbst überzeugen, dass dies alles Wirklichkeit war. Dass er, der Bayern-Fan, elf Jahre bei seinem Lieblingsklub hatte spielen dürfen.

Es folgt noch ein enttäuschendes Jahr beim Münchner Vorortklub Unterhaching, dann beendet Timo Heinze seine Karriere, mit 24. Als Thomas Müller sein erstes Champions-League-Finale spielt, ist Heinze gerade auf Bali, seinen Rucksack hat er dabei. Eine Flucht vor den Gedanken, eine Flucht ins Selbst. Endlich eine Reise ohne Trainingsplan. Eines Tages spielt er wieder Fußball, am Strand, mit Engländern, Holländern, Spaniern. Backpacker-Weltauswahl. Sie spielen wieder wie früher, wie die Kinder, nur aus Spaß, nur für sich. Für Heinze ein wunderbarer Moment. Er sagt: „Das Spiel an sich ist wunderschön.“

Heinzes neues, zweites Leben: Sportstudium in Köln, sechstes Semester. Vielleicht wird er danach Sportpsychologe, sagt er, „ich kann da sicher einiges weitergeben“. In seiner Freizeit spielt er Futsal, das ist eine komprimierte Variante des Fußballs. Kleinerer Ball, kleineres Feld. Es geht um Technik, um Ballbehandlung, um Schnelligkeit. In Deutschland interessiert sich kaum einer für Futsal. Timo Heinze sagt: „Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden.“

Sein Kampf

– Serdar Somuncu bearbeitet als zorniger Gegenpapst das System von innen – ein großer Künstler und brillanter Redner

Die allerersten waren die Ossis. Die ersten offiziellen Opfer des Hasspredigers, aus einer Laune heraus. Serdar Somuncu erzählt von dem Urlaubstag in Italien vor bald 20 Jahren, an dem er im Auto sitzend urplötzlich zu einer minutenlangen Tirade gegen die reisefreudigen Ostdeutschen ansetzt, die neuerdings den Westlern die Straßen verstopfen. Pointe à la Somuncu: „Meine Freundin hat sich fast vollgekotzt vor Lachen.“

Man darf das jetzt, bitte, nicht falsch verstehen. Plumpe Stammtisch-Hetze ist ja genau das, was der 44-Jährige nicht im Sinn hat, auch wenn ihm das mitunter vorgeworfen wird, von denen, die ihn nicht verstehen. Oder nicht verstehen wollen. Nein, hinter dem beißenden Spott gegen Minderheiten – Türken, Juden, Nazis, Schwule, Schwarze, Behinderte, egal – steckt bei Somuncu eine programmatische Provokation, die so viel mehr ist als die Laune eines gelangweilten Urlaubers.

Mit seinen kommentierten Lesungen von Hitlers „Mein Kampf“ wurde der gelernte Musiker und Theaterschauspieler ab Mitte der 90er Jahre einem breiteren Publikum bekannt, Zehntausende Kilometer Autobahn, unermüdliche Grassroots-Schufterei, insgesamt fast 1.500 Abende. Eigentlich ist es Somuncu selbst, der den großen Kampf führt.

Wogegen aber kämpft er?

„Es geht um Selbstbestimmung und Freiheit“, antwortet Somuncu mit feinem Lächeln. Er ist gerade mit dem Auto von Münster nach Berlin gefahren, er sollte erschöpft sein. Er sagt, hellwach: „Es geht um die Frage: Wie geht das moderne Individuum mit den Möglichkeiten um, sich selbst zu bestimmen? Oder leben wir doch noch in Diktaturen, obwohl wir denken, wir hätten alle Möglichkeiten, frei zu sein?“

Wer nur die Kunstfigur Somuncu kennt, den geifernden „Hassprediger“, der sich neuerdings gar als „Hassias“ zum diktatorischen Anführer seiner eigenen Pseudo-Religion aufgeschwungen hat, der mag von solch akademischen Ausführungen irritiert sein. Aber natürlich ist auch längst die Person hinter der Maske, der echte Somuncu, der breiten Öffentlichkeit bekannt. Seit Jahren taucht Somuncu, in Istanbul geboren, in Deutschland aufgewachsen, immer wieder in den deutschen Talkshows auf, bei Markus Lanz und Anne Will, meist zum Thema Integration. Dort besticht er mit rhetorischer Brillanz und scharfer Argumentation. Das Ziel aber ist das gleiche: Die Diktatur bekämpfen, egal wie man sie im Einzelfall nennen will, Bigotterie, politische Korrektheit oder Kapitalismus.

„Political correctness ist doch nichts anderes als versteckte Intoleranz“, so steht es im Begleittext des gerade erschienenen „Hasstaments“, der verschriftlichten Internet-Tiradenshow „Hatenight“. Indem er, als Künstler, Witze über Behinderte mache, sagt Somuncu, schließe er sie doch als erster überhaupt endlich ein in den Kreis der „Normalen“. Die ständigen Grenzüberschreitungen sind dabei keinesfalls sich selbst genug. „Es geht nicht darum, den Judenwitz zu machen, damit er stattfindet“, sagt Somuncu. „Es geht darum, den Judenwitz zu entmystifizieren davon, dass er nicht stattfinden darf.“

Somuncu entlarvt auch die Inkonsequenz des modernen Menschen, unser aller Inkonsequenz. Beschimpft die „saturierten Ökos, die den ganzen Tag Bionade saufen und nicht wissen, dass die längst von Dr. Oetker gekauft ist“. Fragt, warum alle bei Brüderle aufschreien, aber Dieter Bohlen in der DSDS-Jury alle sexistischen Zoten durchgehen lassen. Warum wir von Freiheit träumen und uns von Facebook auf Schritt und Tritt verfolgen lassen. Er selbst schließt sich ausdrücklich ein in diese Zerrissenheit. „Ich bin auch bei Facebook“, sagt Somuncu.

Er sprengt Konventionen, Genres und Erwartungen, mit Vorsatz, immer wieder. Alle drei, vier Jahre häutet er sich, er startet dann einen neuen Abschnitt, ein neues Programm, das gleichzeitig auf allem vorherigen aufbaut, auf der Entwicklung, die der Künstler zusammen mit seinem Publikum durchgemacht hat. Denn natürlich ist es kein Zufall, dass Somuncu nach „Mein Kampf“ und Goebbels‘ Sportpalast-Rede dann irgendwann die „Bild-Zeitung“ auf der Bühne seziert.

Auch gegen sich selbst setzt der Künstler immer wieder die Kreissäge an, die wir aus dem „Hatenight“-Logo kennen: „Ich muss mein Klischee immer wieder zerstören“, sagt er. Mit seiner Vergangenheit als Fernseh-Comedian im Quatsch Comedy Club und Co. hat er gebrochen. Nachdem er sich dem großen TV-Mechanismus unterworfen hatte, aus Neugier und natürlich auch wegen des Geldes, wurde er von der Maschine wieder ausgespuckt, weil er, ganz Somuncu, auch dort aus dem Rahmen fallen wollte.

Somuncu macht seitdem wieder das, was er am besten kann: Provokation durch Kunst, aber mit Unterbau. Denn ohne die zweite Ebene, den persönlichen Bildungsauftrag, wäre all das Geschimpfe und Tabugebreche ja sinnlos. „Ich will die Leute herausfordern, selbst zu denken an einem Theaterabend.“ Überforderung statt Unterforderung, Somuncus Ansatz basiert auch auf dem unerschütterlichen Glauben an die Neugier der Menschen. Schon dafür müsste man ihm einen Preis verleihen.

Mit fast 45 nun füllt Somuncu an zwei Abenden in Folge die Columbiahalle, ohne ein einziges Werbeplakat. Er ist in gewisser Weise angekommen, einerseits. Was er natürlich so nie unterschreiben würde. Er sagt, er sei Punk geblieben, obwohl er jetzt Pop ist. Darauf ist er stolz.

Andererseits fallen ihm mit zunehmender Karrieredauer die Häutungen immer schwerer. All die Rollen, die er gespielt hat, die Erwartungshaltung der Leute, die muss er immer wieder beiseite schieben, um sich treu zu bleiben. Somuncu hält kurz inne, dann sagt er: „Manchmal wünsche ich mir, wieder ein weißes Blatt sein zu können, ein Programm zu machen, bei dem es keine Rolle spielt, wer ich bin oder woher ich komme.“ Und dann lächelt Serdar Somuncu wieder sein feines Lächeln. Weil er weiß, dass das unmöglich ist. Selbst für einen wie ihn.