Stell dir vor, es ist Derby…

– Hertha gegen Union, die Rivalität lebt in der vierten Liga fort – im ganz Kleinen. Ein Ortsbesuch

Es sind wirklich viele Polizisten da. Sehr viele Polizisten. Wannen, die am Falkplatz stehen. Wannen, die vor der Haupttribüne stehen. Wannen, die quer im Weg stehen. Ja, sogar: Ein Wasserwerfer. An allen Einlasstoren: Schwarze Uniformen über Schutzpolstern. Derbykleidung.

Hertha gegen Union. Charlottenburg gegen Köpenick am Mauerpark. Hat doch was, oder? Auch wenn es, hier in der vierten Liga, nur das kleine Derby ist, das der U23-Teams, „der Zweeten“, wie die Leute auf der Tribüne sagen.

Ein sind wirklich ein paar Fans gekommen. Vielleicht nicht so viele wie Polizisten, aber immerhin. Die Minuten vor dem Anpfiff. Zeit des Pop. Lana del Rey spielt Videospiele, Lykke Li folgt Flüssen. Hier folgt man den Blauen oder den Roten. Unten knippern zwei Hertha-Fans ein Banner an den Zaun. „Supporters U23“ steht drauf. Nach wenigen Sekunden nehmen die beiden es wieder ab. Dann hängen sie es falsch herum wieder auf. Die Schrift steht nun auf dem Kopf. Vielleicht ein Statement. Man wüsste gerne, wofür.

Der Stadionsprecher verliest die Aufstellungen. Applaus bei Herthas Nummer 30: „Andreas, Zecke, Neuendorf!“ Der Altmeister sitzt auf der Bank. Kann aber jederzeit kommen. Eine 37 Jahre alte Kampfansage.

Es plätschert dann so ein bisschen dahin. Irgendwann: Freistoß Hertha. „Ronnyyyyyy!“, brüllt einer los. „Ronnyyyyyy!“, antworten ein paar andere. Gelächter. Wer weiß, wo der Brasilianer gerade ist, hier ist er natürlich nicht. Union macht kurz darauf das 1:0. Wichtiger Treffer im Abstiegskampf. „Cottbus hat schon gegen Halberstadt verloren“, sagt einer auf der Tribüne.

Foul, ein Roter am Boden. „Scheiß Unioner!“, ruft ein Glatzkopf. „Hau ihm auf die Fresse!“ Kann man sehr gut hören im ziemlich leeren Jahnsportpark. „Genau! Immer ruff!“, antwortet ein Unioner. Gelächter. Gut zu wissen: Keiner nimmt hier irgendwen ernst.

Und dann ist Ronny plötzlich doch da. Unten am Zaun. Das Trikot mit der Nummer 12 spannt. Ronnys Körper ist eher birnenförmig. Ronny hat einen Rucksack dabei, daraus holt er Schal um Schal und knotet sie sich an die Unterarme. Irgendwann hat er an jedem mindestens fünf. Halbzeitpfiff. Ronny klatscht.

Pausen-Unterhaltung auf dem Klo: „Ey, nicht vordrängeln!“ – „Jaja, okay.“ – „Ehrlich, das ist U23. Hier fällste uff.“

Union ist auch danach besser, Herthas Abwehr ist weiter desolat, bald steht es 2:0. Ein alter Mann mit Arcor-Kappe ruft: „Wir steigen auf und ihr bleibt hier!“ Stille. Dann ruft er: „Wir fahren nach Bayern und ihr nach Ingolstadt!“ Ronny wedelt mit einem Deutsche-Bahn-Fähnchen. Er ist nur von hinten zu sehen. Aber er sieht traurig aus. Wie einer eben, der an einem Donnerstagabend in einem leeren Stadion sitzt und mit einem Deutsche-Bahn-Fähnchen wedelt.

Andreas Neuendorf zieht sich die Trainingsjacke aus. Es ist jetzt Zecke-Zeit. Er steht schon auf der Tartanbahn, da fällt das 3:0. Zecke streicht sich über den Scheitel. Er weiß, er ist keine Kampfansage mehr, er ist jetzt nur noch eine Durchhalteparole.

Sagt ein Vater zu seinem Sohn: „Wären wir mal lieber nach nebenan gegangen.“ Nebenan, in der Schmeling-Halle, spielen gerade die Berlin Recycling Volleys. Da ist immer was los. Klatschpappen und alles. Hier singen jetzt 50 Mann: „Eisern Berlin!“ Eine vorbei laufende Polizistin beschwert sich über den Kaffeepreis. Rechts starten die Maschinen vom Flughafen Tegel in den Abendhimmel. Links steht ein Baukran. Vielleicht, denkt man sich, kriegt jede Stadt dann doch die Derbys, die sie verdient.

Vater und Sohn packen ihre blau-weißen Schals in die Tasche und gehen nach Hause. Das Spiel ist aus. Die Fans wollen noch abklatschen. Man kann sie zählen. Es sind genau sieben. Die Spieler huschen schnell vorbei. Nur Zecke bleibt länger stehen. Er unterhält sich mit den Jungs vom verkehrten Banner. Ein paar Meter weiter steht Ronny. Er hat seine Hand durch den Zaun gestreckt und wartet geduldig.

»Happel guckte sehr, sehr böse«

– Walter Eschweiler (77) war einer der ersten Stars unter den Bundesliga-Schiedsrichtern. Ein Gespräch über die Gründerjahre der Liga, den Hass der Massen und den traurigen Stan Libuda (11FREUNDE #138)

Herr Eschweiler, was ist die wichtigste Eigenschaft eines Bundesliga-Schiedsrichters?
Gelassenheit. Ein Schiedsrichter muss auch in größter Hektik absolute Ruhe ausstrahlen. Das ist das Wichtigste. Und Menschlichkeit.

Menschlichkeit?
Man darf sich als Schiedsrichter nicht so tierisch ernst nehmen. Der Schiedsrichter ist dazu da, den Regeln Geltung zu verschaffen, in vernünftiger, menschlicher Form.

Wie macht man das?
Das geht schon los, wenn man sich das erste Mal im Kabinengang sieht und begrüßt. Seinerzeit gab es beim DFB die strikte Marschroute: Bei Anpfiff müssen die Trikots in der Hose und die Stutzen nach oben gezogen sein. Na, und dann kam ein Mann wie Paul Breitner…

… der langhaarige Rebell, der 68er…
Ich habe zum ihm gesagt: »Paul, tun Sie mir den Gefallen, stecken Sie es bitte rein, nur zum Anpfiff. Aber danach darf wieder alles sein wie vorher.« Das hat geklappt. Eine Sache der Einstellung.

Der Ton macht die Musik, ist es so einfach?
Meiner Meinung nach ja. Ich hatte natürlich noch den Vorteil als Rheinländer, die Situation mit einem netten, freundlichen Wort entkrampfen zu können.

Ein bisschen Selbstironie hilft?
Richtig. Die Zuschauer sind wirklich nicht gekommen, um den Schiedsrichter zu sehen. Sie wollen das Spiel sehen.

Sie pfiffen noch ganz in Schwarz. Haben die bunten Leibchen den Schiedsrichtern Autorität genommen?
Die Kleidung alleine macht es nicht. Es geht um das Auftreten.

Hilft ausreichende Körpergröße?
Das ja. Wenn Sie klein sind, haben sie es auf jeden Fall schwerer. Das ist ungerecht, aber so ist es.

Wie kamen Sie im Proletensport Fußball an als distinguierter Konsul vom Auswärtigen Amt?
Natürlich nicht nur positiv, das ist ja klar. Der Uwe Seeler sagte mal: »Diese Politiker aus Bonn, die sind nicht nur überbezahlt, die sehen auch ganz schön schlecht.« Als er aus drei Metern danebenschoss, sagte ich: »Ich kenne sogar Lizenzspieler, die ziemlich schlecht sehen.« Er lachte und gab mir die Hand.

Dennoch wurde aus Ihnen die »Diva vom Rhein«. Wie kam das?
Nach einem Spiel von Bayern München kamen die Reporter auf den Platz und es ging sofort in rüder Tonart los, warum dies und warum jenes. Ich sagte: Meine Herren, ich bin jetzt sehr verschwitzt. Warten Sie einen Moment, ich verkleide mich als Gentleman, dann können Sie mich alles fragen.

Das haben die ihnen übel genommen?
Der tiefere Sinn war, dass ich wusste, dass sie bald Redaktionsschluss hatten. Sie waren hartnäckig und folgten mir bis vor die Kabinentür. Ich schloss ab und sagte: Schieben Sie Ihre Fragen unten durch!

Können Sie sich an Ihr allererstes Bundesliga-Spiel erinnern?
Nein.

Wir helfen Ihnen. 20. August 1966, Dortmund gegen Düsseldorf, Stadion Rote Erde.
Oh, schön!

Das Tor für den BVB erzielte Siegfried Held auf Vorlage von Stan Libuda. War der so leicht aus dem Konzept zu bringen, wie alle sagen?
Ja, den musste man immer ein bisschen aufrichten, im Vorbeilaufen, dass das keiner merkt.

Das haben Sie übernommen?
Ja, sicher. Ich sagte ihm, dass es doch weitergeht, dass er sich nicht grämen soll. Ach, der Stan, der schaute immer so traurig.

Hat Libuda Ihnen Leid getan?
Schon, ja. Und wir wissen, was später mit ihm geschehen ist. Wissen Sie, die Spieler werden von allen möglichen und unmöglichen Leuten getreten, vom Trainer, vom Manager. Und wenn dann noch der Schiedsrichter kommt… nein!

Sie sind in über 150 Bundesliga-Spielen mit fünf Platzverweisen ausgekommen. Nach heutigen Maßstäben ein Witz.
Das würde heute auch noch gehen. Man sollte nicht zu früh mit den Karten beginnen. Sie bringen sich doch selbst in Zugzwang. Mein Bestreben war immer, mit vollständigen Mannschaften wieder vom Feld zu gehen.

Fünfmal Rot, da müssten Sie sich an jeden einzelnen erinnern können.
Ich erinnere mich an Rolf Rüssmann, das war im Spiel Fortuna Düsseldorf gegen Schalke. Der rief: Schiedsrichter, du dumme Sau! Für »dumm« hat er glaube ich vier Wochen, für »Sau« acht Wochen bekommen.

Zwölf Wochen für eine Beleidigung?
Aber ja, der hat reichlich bekommen, das wurde dann aber noch abgemildert. Und der andere, das war der Günter Neues, im Spiel Hamburg gegen Kaiserslautern…

… April 1979, richtig.
Da meinte der Toppmöller noch zu mir, der hätte mich nicht gemeint. Ich sagte: »Läuft denn hier sonst noch ein Schwarzer herum?«

Dann wäre da noch Klaus Winkler vom HSV, und Günter Sebert…
Ach ja, richtig! Stuttgart gegen Waldhof Mannheim. Das war Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Manfred Ritschel von Kickers Offenbach schmissen Sie schon in der 6. Minute runter.
Im Derby gegen Eintracht Frankfurt. Er war schon in der 2. Minute verwarnt und zog dann Jürgen Grabowski die Beine weg. Das war so schlimm, dass Nationaltrainer Helmut Schön nach unten kam, weil er dachte, die Beine sind gebrochen. Gott sei Dank war es nicht so.

Bei so was kannten Sie kein Pardon?
Ich habe mich direkt von ihm verabschiedet.

Die 60er und 70er Jahre war die Zeit der ganz harten Jungs.
In Kaiserslautern haben sie nach allem getreten, was sich bewegt hat. Rehhagel, Klimaschewski und wie sie alle hießen musste man schon beim Einlaufen das Passende sagen.

Als Drohung?
Ach was, als freundlicher Hinweis. Ich habe ja nicht das Recht, die Spieler anzuschreien.

Wer waren weitere Spezialisten?
Bei Werder Bremen wussten Sie: Drei Meter vor dem Strafraum standen Höttges und Piontek. Wer da durch kam, war amputiert. Aber die waren clever, die haben mit Ball gegrätscht. Das war schwer zu sehen. Beckenbauer hat immer einen ganz großen Bogen um die gemacht, der wusste Bescheid.

Für Walter Frosch führte der DFB extra die Gelbsperre ein.
Nun gut, der Walter wollte mangelndes Spielverständnis und fehlende Technik ausgleichen. Oft visierte er schon in den ersten Minuten die Knochen an, dann habe ich ihm gleich gesagt: »Junge, lass das! Ich sehe es.«

Vorbeugende Maßnahmen.
Ganz wichtig. Ich erinnere mich an ein Spiel, da war Uwe Seeler gerade wieder gesund nach langer Verletzung. Und da hatten sie einen jungen Hitzkopf auf ihn angesetzt, den Namen weiß ich leider nicht mehr. Dem sagte ich: »Junger Mann, ich kenne Ihre Weisung. Lassen Sie es sein. Es gibt nur Ärger.« Der kam nach dem Spiel und hat sich bei mir bedankt. Das freut natürlich.

Welche Regeländerung der letzten 50 Jahre war die wichtigste?
Die Rückpassregel. Das war ja furchtbar, diese Zeitschinderei. Und als Schiedsrichter konnten Sie nichts machen.

Ihr Kollege Bernd Heynemann sagt, ein Schiedsrichter brauche vor allem ein schlechtes Gehör.
Da hat er nicht ganz unrecht. Auf dem Fußballplatz wird so einiges gesagt. Man muss sich nicht immer angesprochen fühlen.

Der Schiedsrichter hat oft das ganze Stadion gegen sich.
Ist doch egal. Ich dachte mir nur immer, wie viele nette Leute doch wieder da sind.

Aber wenn die Fans mal wieder die »schwarze Sau« hängen sehen wollten, muss Sie das doch beeindruckt haben.
Kein Problem. Erstens bin ich kein Fabeltier, zum anderen höre ich das gar nicht. Es hat doch keinen Zweck. In dem Moment, in dem Sie da zuhören, sind Sie von der konsequenten Linie weg. Die Gefahr, Fehler zu machen, ist dann riesengroß.

Ist Ihnen nie ein Spiel entglitten?
Nein, Gott sei Dank nicht.

Wie haben Sie sich auf die Spiele vorbereitet?
Erstens mal habe ich unter der Woche immer meine Kondition gepflegt.

Wie denn?
Ganz einfach: Laufen! Mindestens 20 Runden auf der Bahn. Die ersten 300 Meter laufen, dann 50 Meter spurten und die letzten 50 gehen, damit sich der vorolympische Astralkörper erholt.

Andere Kollegen wie Wolf-Dieter Ahlenfelder nahmen das mit der Fitness nicht so genau. Haben Sie auch mal vor dem Anpfiff einen genommen?
Nie. Ich rauche und trinke nicht. Deshalb kann ich zu jeder Dopingkontrolle gehen.

Geschichten wie die von Ahlenfelder, der eine Halbzeit nach 30 Minuten abpfiff, sind selten geworden. Thomas Metzen sorgte 2008 noch mal für Aufsehen, als er gleichzeitig zwei Gelbe Karten zeigte.
Das ist ja Zirkus, das geht nicht. Wir hatten damals ein ähnliches Beispiel. Horst Herden aus Hamburg hatte mal die Karten in den Strümpfen. Der wurde sofort bestraft vom DFB.

In Ihrem letzten Bundesliga-Spiel pfiffen Sie 1984 den Hamburger SV. Auf der Bank: Ernst Happel.
Der war nicht der allergrößte Freund der Schiedsrichter.

Wie hat sich das geäußert?
Indem er sehr, sehr böse guckte und grantelte. Aber da er Dialekt sprach, hätten Sie einen Dolmetscher gebraucht. Ich hab ihn zwar schon verstanden, weil ich in der Wiener Botschaft in der Ausbildung war, aber da kamen dann wieder die berühmten drei Affen zum Zuge.

Ist Jürgen Klopp in dieser Hinsicht der Happel von heute?
Ach, das ist an für sich ein ganz lieber, netter Mensch. Er lebt das Spiel. Und sein bester Freund ist eben der vierte Mann. Da wünsche ich mir manchmal etwas Gelassenheit, auf beiden Seiten. Mancher Offizielle springt ja herum wie ein Scharfrichter.

Die Coaching Zone ist heute penibel markiert. Läuft der Fußball Gefahr, an zu vielen Regelungen zu ersticken?
Sie mussten das leider machen, wegen der verschiedenen Temperamente. Sonst geht es wie mir mit Tschik Cajkovski. Der stand bei einem Spiel in Stuttgart plötzlich vor mir, mitten auf dem Platz. Ich sagte dem Kugelblitz, dass ich ihn lobend im Spielbericht erwähnen würde. Bei der nächsten Begegnung knurrte er: »Du bist Hund. Du können lesen und schreiben.«

Hat Ihnen nie mal einer einen flotten Spruch übel genommen?
Nein, ich habe die ja nie angegiftet. Das lief immer höflich und anständig ab, auch im vollen Lauf. Das geht. Ist eine innere Einstellung. Ich bin ja nicht deren Vorgesetzter.

Spricht Otto Rehhagel eigentlich wieder mit Ihnen?
Selbstverständlich. Der hat wegen mir mal drei Monate Berufsverbot bekommen. Er war in Offenbach derart aufgehetzt und rief: »Der Schiri ist bestochen.« Ganz laut, das hat die ganze Tribüne mitbekommen. Das kann man nicht mehr überhören.

Rehhagel warf Ihnen vor, Sie hätten gelogen.
Ach was, eine reine Schutzbehauptung. Hat doch jeder gehört. Ein halbes Jahr später trafen wir uns zufällig und haben uns ausgesprochen.

Rehhagel nennt sich gerne »Kind der Bundesliga«. Sie auch?
Ich sehe mich als Schiedsrichter für den Fußball, nicht mehr und nicht weniger.

Sie pfiffen noch für 72 D-Mark. Heute bekommen Bundesliga-Schiedsrichter 4200 Euro pro Einsatz. Wäre ein zweiter Fall Hoyzer zu vermeiden, wenn Schiedsrichter noch mehr Geld bekommen würden?
Das glaube ich nicht. Da ist ein junger Mann ohne große Basis in Amateurklassen nach oben geschossen worden, sprich: Jugendwahn. Man hat ja inzwischen eingesehen, dass das nichts bringt. Sie müssen eine gewisse Zeit unterklassig pfeifen, um sich das Rüstzeug zu holen.

Wäre solch ein Fall in Ihrer Generation denkbar gewesen?
Das ist eine hypothetische Frage. Aber ich denke, unter den FIFA-Schiedsrichtern nicht.

Sie sind Jahrgang 1935, haben Krieg und Zerstörung als Kind miterlebt.
Ich habe auch Schulspeisungen erlebt, weil es zu Hause nichts zu beißen gab. Das prägt.

Wie?
Man ist dankbar für jeden Tag, den man erleben darf. Ist es nicht eine wunderbare Sache, wenn Sie mit einer Pfeife große Spiele leiten dürfen, in vollen Stadien, überall auf der Welt?

Was wünschen Sie Ihren Nachfolgern für die nächsten 50 Jahre?
Ich wünsche ihnen, dass sie immer das nötige Glück haben, denn das braucht man. Dass sie optimal vorbereitet sind und dass sie wissen, dass sie eine dienende Funktion haben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und, bitte: Sie sollen sich nicht so tierisch ernst nehmen.

Der Fußball-Botschafter

– Der Deutsch-Türke Mehmet Matur wirbt für mehr Integration auf Berlins Sportplätzen – ein Tag mit einem überzeugten Ehrenamtler

Mehmet Matur ist ein geduldiger Mann, das ist vielleicht das Allerwichtigste. Ein früher Mittwochnachmittag im „Haus des Fußballs“. Im Sitz des Berliner Fußball-Verbands tagt der Integrations-Ausschuss. Es geht um eine wichtige Sache, um den Sozialpreis, der an engagierte Klubs vergeben wird. Doch es ist wie so oft bei diesen Sitzungen: Es wird sehr viel geredet. Über die Preisverleihung, den Programmablauf, die Sitzordnung, das Catering, die Show-Acts, die Besetzung der Jury. In der Ecke hängt ein Plakat, darauf steht: „Wir leben Fußball. Bevor aus Frust Gewalt wird“.

Mehmet Matur sitzt ruhig da und hört zu. Er trägt eine strahlend weiße Trainingsjacke von Werder Bremen. Nicht nur Sympathie, ein Statement. Werder hat Ende März den DFB-Integrationspreis verliehen bekommen. Mehmet Matur ist im Berliner Fußball der wichtigste Mann in Sachen Integration, auch wenn er das selbst nie unterschreiben würde. 1960 in der Türkei geboren, mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen, sitzt er seit 2004 auf Betreiben von BFV-Chef Bernd Schultz im Präsidium. Der erste Migrant überhaupt. Als langjähriger Funktionär von Türkiyemspor kennt er auf Berlins Fußballplätzen so ziemlich alles und jeden. „Er ist sehr direkt und jemand, der stark den persönlichen Kontakt sucht“, sagt Schultz. Fast jeden Tag ist Matur unterwegs, zu Punktspielen und Klubheimen, 30 bis 40 Stunden die Woche, schätzt er. Alles ehrenamtlich.

„Meine Verwandten in der Türkei glauben mir das nicht.“ Die Sitzung ist vorbei, Matur steuert seine schwarze A-Klasse durch den Stadtverkehr. Dass jemand 30 Stunden die Woche arbeitet, ohne Geld dafür zu bekommen, das verstehen sie nicht. „Aber es ist ja keine Arbeit“, sagt Matur. „Ich setze mich ein, ich will dem Fußball dienen. Doch sie denken trotzdem, dass ich irgendeinen Vorteil verfolge, dass ich Bürgermeister werden will oder Abgeordneter.“ Matur lacht, aber er beschreibt da eines der Probleme, gegen die er ankämpft. Ihre Kinder spielen fast alle Fußball, aber es gibt nach wie vor zu wenige Migranten, die sich ehrenamtlich einsetzen. Immerhin: Ihr Anteil steigt, 2010 lag er deutschlandweit laut DOSB bei 13 Prozent, drei Jahre zuvor noch bei 7,2. Ein anderes Problem ist die Gewalt, oft aus Vorurteilen gespeist.

Matur ist Fußball-Botschafter, er wirbt für Verständnis und Annäherung, auf beiden Seiten. Dafür, dass die Weihnachtsfeier vielleicht stattdessen Abschlussfeier genannt wird, damit sich auch die muslimischen Mitglieder willkommen fühlen. Dafür, dass sich Migrantenvereine deutsche Namen geben, um sich zu öffnen, wie der Neuköllner Klub Galatasaray, der nun Rixdorfer SV heißt. „Ich wünschte, es wäre nicht so, aber der Name spielt eine Rolle“, sagt Matur. „Traurig, aber wahr“, viele seiner Sätze beginnen so oder so ähnlich.

Nach einer halben Stunde parkt Matur seinen Wagen in der Erkstraße. Hier, im Herzen von Neukölln, betreibt er mit seinem Bruder das „Butterfly Sporthaus“, seit bald 20 Jahren. In dem engen Büro hinter dem Verkaufsraum stapeln sich Schuhkartons, bis hoch zur Decke. An den freien Stellen: Vereinswimpel. Ankaraspor, Türkiyemspor, BSC Rehberge, und der rot-weiße Wimpel des BFV. Daneben die Autogrammkarte von Mesut Özil. Und gerahmte Fotos: Matur mit Prinz Charles. Matur mit Joachim Löw und Oliver Bierhoff. Auf dem Tisch liegt die aufgeschlagene „Fußball-Woche“.

Bei einem Tee umreißt Matur seine Lebensgeschichte, und mit jedem Satz wundert man sich mehr, dass er immer noch hier vor einem sitzt.

Matur erzählt von den Anfängen, den Schwierigkeiten. Wie er in Deutschland der Einfachheit halber zwei Klassen zurückgestuft wird, weil er kein Deutsch kann. Wie er trotzdem ein Jahr später eine Gymnasialempfehlung bekommt. Wie sein Vater, ein einfacher Mann, der selbst nur die Grundschule besucht hat, den Sohn trotzdem auf die Hauptschule schickt. Und: Wie ihn die Fußballmannschaft aufnimmt, Tura Hennef, er spricht den Namen noch heute aus als wäre er ein Himmelsgeschenk, der Trainer kauft ihm Schuhe und Trainingsanzug, weil seine Eltern jeden hart verdienten Pfennig für später sparen. Mit 16 muss er zunächst auf Wunsch der Familie wieder in die Türkei, doch Anfang 20 kehrt er alleine wieder nach Deutschland zurück, er vermisst die Freunde und, wie er sagt, „die Ruhe und die Ordnung“.

Es folgen der Umzug nach Berlin und elf Jahre bei der BVG. Es folgt: eine Desillusionierung. Matur ist nun der, der er in Hennef nie war: der Fremde, der „Eseltreiber“, wie sie ihn nun nennen. Mehmet Matur ist niemand, der böse Worte über andere Menschen verliert, aber die Namen derer, die ihn gekränkt haben, weiß er noch heute. Nach dem Türkei-Urlaub sagt eine Kollegin: „Die sind ja gar nicht so wie ihr.“ Maturs Blick bleibt sanft, scheinbar ungerührt, als er das erzählt, nur ab und zu fasst er sich schnell an den Hals, um den Reißverschluss seiner Jacke ein Stückchen weiter aufzumachen. Er erzählt von einem Spiel in Neustrelitz, bei dem seine Mannschaft mit Bier beworfen wird. Von dem Tag, als der türkische Botschafter ein Pokalspiel beim BFC Dynamo vorzeitig verlassen muss, auf Drängen seiner Sicherheitsleute. „Wissen Sie“, sagt Matur. „Ich habe mich damals in Hennef nie wie ein Fremder gefühlt. Aber heute spüre ich das, obwohl ich schon so lange hier bin.“

Als Matur die BVG verlässt, 1994, steht er vor der Wahl: Kapitulieren oder bleiben. „Ich bin Steinbock. Ich wollte mich wehren, nicht nur alleine, sondern mit anderen. Man sollte nicht durch den Willen von ein paar Idioten weggehen, nur aus eigenem Willen.“ Matur bleibt.

Ein Blick auf die Uhr. „Wir müssen los.“ Wieder ins Auto und den kurzen Weg hinüber zum Columbiadamm. Hürtürkel gegen Tennis Borussia, Punktspiel in der Berlin-Liga. Keine ganz normale Partie, TeBe bringt viele Fans mit, im Vorfeld hat es außerdem wohl ein paar zweideutige Facebook-Botschaften gegeben. Hürtürkel steht ohnehin im Fokus, seit der Klub im letzten Jahr wegen antisemitischer und rassistischer Äußerungen bei einem Spiel mit Punktabzug bestraft wurde. Matur sagt: „Der Verein hat eine gute Reaktion gezeigt, mit der Polizei kooperiert, Spieler und Trainer zu Anti-Gewalt-Kursen geschickt“.

Aber eine Fahrt ins Stadion ist immer eine Fahrt ins Ungewisse, nicht nur was das Ergebnis angeht. Matur ist angespannt. „Ich habe Magenkrämpfe“, gesteht er. „Ich hoffe, dass der Tag gut zu Ende geht.“

Es ist ein milder Abend. Vor dem Stadioneingang stehen zwei Polizei-Wannen. Drinnen sind die Fangruppen geteilt, mit rot-weißem Absperrband und kleinen Pappschildchen. „Heim“ steht rechts, „Gast“ links. „Das ist schon mal gut“, sagt Matur. Er schüttelt viele Hände. An einem Stehtisch begrüßt er eine Frau. Neben ihr steht ein Rentner. Schnauzender Rentner: „Warum seid ihr so teuer geworden?“ Matur schaut ihn an. „Wieso wir? Ich gehöre nicht zu Hürtürkel. Ich komme vom Berliner Fußballverband.“ Grimmiger, schweigender Rentner. Matur sagt: „Ich habe meinen Eintritt gezahlt, wie alle anderen.“ Beim Weitergehen schüttelt er leicht den Kopf.

Der Eintrittspreis sorgt für Unmut. Zehn Euro verlangt Hürtürkel zunächst, später dann nur noch acht. Auch das nicht gerade wenig für ein Sechstligaspiel. Gut 50 TeBe-Fans weigern sich, zu zahlen, und verfolgen das Spiel lieber von draußen, durch den Zaun.

Es bleibt alles friedlich. Das Spiel ist schon zur Pause entschieden, Hürtürkel führt 4:1. Nur kurz wird es hitzig, aber es ist nur der ganz normale Frust der Verlierer, man schüttelt sich schnell wieder die Hände. Die zweite Hälfte plätschert dahin. Sommerabendstimmung. Auf der Tartanbahn spielen ein paar Kinder. Die Fans hinterm Zaun singen ein paar halb-ironische Gesänge. Dann ist Schluss. Mehmet Matur trinkt noch einen Tee. Gegessen hat er in der zweiten Halbzeit auch endlich was. Der Magen ist wieder okay. Ein guter Abend. Ein normaler Abend. Es ist jetzt dunkel, aber die weiße Werder-Jacke ist noch weithin zu sehen.

Timos Traum

– Er spielte in einer Elf mit Thomas Müller – ein Jahr später war Müller Deutschlands Held, und Timo Heinze hörte mit dem Fußball auf. Eine Geschichte von Aufstieg und Fall (11FREUNDE, Tsp.)

Es gibt diese eine Szene, eine, von der kleine Kinder träumen und, ja, auch Erwachsene. Das große Stadion, Flutlicht, volles Haus. Auf dem Feld: Die besten Fußballspieler Deutschlands. Den Ball abfangen, in der eigenen Hälfte, und nach vorne sprinten, in den freien Raum, den Ball vor sich hertreiben, Haken schlagen, ein, zwei Gegner stehenlassen, schon dicht am anderen Strafraum. „Hier ist Heinze“, sagt Kommentator Bela Rethy, „ein 22 Jahre alter Außenverteidiger.“ Es ist der Satz, den wir alle mal hören wollten, über uns.

Die Menge in der Münchner Arena raunt, Timo Heinze könnte jetzt schießen, gleichzeitig sieht er, wie der Stürmer Miroslav Klose seinen Weg kreuzt. Eine blitzschnelle Entscheidung. Heinze spielt den Ball geradeaus in die Lücke, doch Klose läuft weiter nach rechts, ein einfaches Missverständnis. Der Ball trudelt ins Leere.

Und dann dieses Foto, entstanden nur ein paar Monate später. Die Ersatzbank. Junge Menschen mit tiefen Brauen. Auswechselspieler sehen selten glücklich aus. Doch Timo Heinze, ganz rechts, leerer Blick, Zähne auf der Unterlippe, sieht aus wie einer, der sich fragt: Was mache ich hier? Er sieht aus wie ein Verlorener.

Der Fußball ist ein rasendes Business, das ist ein Klischee, aber über Timo Heinze ist es wahrhaft hereingebrochen. Er hat den Traum gelebt, unser aller Traum, er war Jugendnationalspieler, Kapitän der Bayern-Reserve mit Anfang 20, auf dem Sprung nach oben. Vielleicht nach ganz oben. Und dann spuckte ihn die große Maschine wieder aus. Sein Spurt bei Oliver Kahns Abschiedsspiel blieb der einzige Moment auf der ganz großen Bühne. Heinze hat es nicht geschafft. In einem Sport, der nur in Gewinner und Verlierer einteilt, hat er verloren. Darüber hat er ein Buch geschrieben, „Nachspielzeit: Eine unvollendete Fußballkarriere“, erschienen Ende letzten Jahres. Eine Selbsttherapie. Eine Abschiedshilfe. „Das Buch war ein Glücksfall“, sagt Heinze. „Wenn ich das nicht alles aufgeschrieben hätte, wäre ich sicher noch nicht so weit.“ Nicht so weit mit der Trauerarbeit. Mit dem Entzug.

Denn der Fußball ist wie eine Droge für die, die sich ihm verschrieben haben. Nur wer sich ihm ganz und gar hingibt, wer alles andere vernachlässigt, der kann es überhaupt zu etwas bringen. Davon wieder loszukommen, ist irrsinnig schwer, manche schaffen es nie, man muss sich nur all die traurigen Ex-Profis anschauen, die Tag für Tag in den Sportsendungen herumsitzen. Timo Heinze musste noch viel früher als die meisten loslassen, was es nicht einfacher macht. „Es tut inzwischen nicht mehr weh“, sagt Heinze, „ich habe abgeschlossen.“ Aber er sagt diese Sätze vorsichtig, wie jemand, der von der ersten großen Liebe berichtet, die immer die bedingungsloseste ist, weil sie noch keine Enttäuschung kennt.

Fußball ist ein einfaches Spiel, sagen die, die keine Ahnung haben. Es ist ja gerade die Einfachheit, die den Sport so schwer beherrschbar macht. Der Mensch ist nicht einfach. „Ich war schon immer ein Kopfmensch“, sagt Heinze, und was eine nützliche Eigenschaft sein kann, wenn es gut läuft, verkehrt sich in der Krise schnell ins Gegenteil: „Um ehrlich zu sein, ich war immer ein Spieler, der das Vertrauen brauchte, um dann gute Leistungen zu bringen“, schreibt Heinze. „Wenn ich mich in meiner Situation unwohl fühlte und die Anerkennung des Trainers vermisste, fiel meine Leistung rapide ab. Einem Thomas Müller zum Beispiel wäre das niemals passiert.“

Müller. Er hat das Vorwort zu Heinzes Buch geschrieben, natürlich kein Zufall. Er hat zusammen mit Heinze bei Bayerns zweiter Mannschaft gekickt, noch 2009 stehen sie zusammen auf dem Feld. Ein Jahr später beendet Heinze frustriert seine Karriere, und Müller wird der jüngste WM-Torschützenkönig aller Zeiten.

Heinze redet nur gut über Müller, sie sind Kumpels von früher, er bewundert ihn für seine Art, die er „schizophren“ nennt. Damit meint er: dass Müller, der intelligente, beredte Kerl, auf dem Platz ein anderer wird, wie auf Knopfdruck. Die Last der Gedanken wegwischt, die vergebenen Chancen, die Erwartung der Zuschauer. Das ist Müllers größte Gabe. Er hat es geschafft, obwohl er viel zu dünn ist, eigentlich, und viel zu hölzern. Über seinen Treffer im Champions-League-Finale gegen Chelsea schrieb die „Süddeutsche Zeitung“: „Die Bayern hatten den Schlüssel gesucht, und am Ende hatte Thomas Müller die Tür einfach eingetreten.“ Ein unmögliches Tor, ein hässlicher Aufsetzer, man musste zweimal hinsehen, aber der Ball war drin. So einer ist Müller. Ein Gewinner. Als er ausgewechselt wurde, verloren die Bayern noch.

Auch Heinze ist lange ein Gewinner im Sinne des Systems, er spricht ein bisschen so wie Müller, hat das gleiche breite Grinsen, mit zwölf Jahren wird er von den Bayern-Scouts entdeckt, er durchläuft alle Jugendteams, absolviert zwei Dutzend Länderspiele bis zur A-Jugend. Dann, das Abitur gerade gepackt: der erste Knick. Leistenbruch, beidseitig, eine normale Verletzung, zumal bei Fußballern. Doch nach der Operation schmerzen die Narben, es gibt Komplikationen, eine Not-OP. „Das war der erste Riesenschlag“, sagt Heinze heute, „wenn man so will, war die Verletzung der Anfang allen Übels.“ Am Ende wird Heinze wieder fit, doch es dauert ein Jahr. Ein verlorenes Jahr. Eine Ewigkeit, gerade in dem Alter. Doch Heinze kämpft sich zurück, spielt bald für die Bayern-Reserve und wird von Trainer Hermann Gerland schließlich sogar zum Kapitän gemacht. Es scheint nur noch ein ganz kleiner Schritt zu sein. Der Traum ist fast Wirklichkeit. Und dann geht alles binnen weniger Wochen dahin. Warum?

Es gibt keine Antworten, nur Faktoren. Zum einen ist da die Erinnerung an die Verletzung, die erste Begegnung mit dem möglichen Scheitern. Zum anderen wird Heinze vom Coach auf die Bank gesetzt, plötzlich, ohne große Begründung. Das ist nicht gut, aber das passiert. Gerland ist alte Schule, ein grimmiger Schweiger, aber ein absoluter Fachmann. Heinze sagt: „Die Entscheidung war hart, aber sie hat mich extrem aus der Bahn geworfen. Wie ich damit umgegangen bin, war alles andere als optimal. Ich konnte das nicht mehr ausblenden und mich aufs Wesentliche konzentrieren.“

Das Scheitern ist jetzt immer präsent, der Kopf ist Timo Heinzes größter Feind. Warum er, warum schon wieder solch ein Rückschlag? Wozu ist das gut, was hat das Schicksal mit ihm vor? Fragen über Fragen, die ihn lähmen. Selbst wenn er mal wieder spielen darf: „Was geht im Kopf des Trainers jetzt vor? Wird er mich gleich auswechseln? Sitze ich dann in nächster Zeit wieder nur auf der Bank? Und wie soll ich dann einen guten Verein finden?“ Unnütze Fragen, weil es keine Antworten gibt. Timo Heinze hat den Glauben an sich selbst verloren.

Es geht, fast zwangsläufig, bergab. Die Bayern verlängern seinen Vertrag nicht. Heinze fällt nun doch noch durchs Sieb, wie so viele vor ihm. Am letzten Trainingstag läuft er mit einer Videokamera noch einmal die Gänge an der Säbener Straße ab. Als müsse er sich selbst überzeugen, dass dies alles Wirklichkeit war. Dass er, der Bayern-Fan, elf Jahre bei seinem Lieblingsklub hatte spielen dürfen.

Es folgt noch ein enttäuschendes Jahr beim Münchner Vorortklub Unterhaching, dann beendet Timo Heinze seine Karriere, mit 24. Als Thomas Müller sein erstes Champions-League-Finale spielt, ist Heinze gerade auf Bali, seinen Rucksack hat er dabei. Eine Flucht vor den Gedanken, eine Flucht ins Selbst. Endlich eine Reise ohne Trainingsplan. Eines Tages spielt er wieder Fußball, am Strand, mit Engländern, Holländern, Spaniern. Backpacker-Weltauswahl. Sie spielen wieder wie früher, wie die Kinder, nur aus Spaß, nur für sich. Für Heinze ein wunderbarer Moment. Er sagt: „Das Spiel an sich ist wunderschön.“

Heinzes neues, zweites Leben: Sportstudium in Köln, sechstes Semester. Vielleicht wird er danach Sportpsychologe, sagt er, „ich kann da sicher einiges weitergeben“. In seiner Freizeit spielt er Futsal, das ist eine komprimierte Variante des Fußballs. Kleinerer Ball, kleineres Feld. Es geht um Technik, um Ballbehandlung, um Schnelligkeit. In Deutschland interessiert sich kaum einer für Futsal. Timo Heinze sagt: „Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden.“

A grandios Apfelkuchen

– Fußballprofis tun sich mit Twitter wahnsinnig schwer – es sei denn, sie sind nicht echt (Tagesspiegel, Sport)

Es war ein Dienstagmorgen, und Robin Dutt hatte beste Laune. „500 Follower!“, schrieb er stolz bei Twitter: „Bei 1.000 krempele ich den DFB um.“ Ganz klare Ansage, garniert noch mit dem Schlagwort „#revolution“. Entsetzte Gesichter wird es an der Frankfurter Otto-Fleck-Schneise, im Hauptquartier des Deutschen Fußball-Bunds, dennoch kaum gegeben haben. War natürlich nicht der echte Dutt. Und auch der humorige Kommentar zu Roman Weidenfellers Geburtstagsfoto, „We have a grandios Apfelkuchen gebacken“, stammte leider nicht vom DFB-Sportdirektor.

Nein, das Profil @Robin_Dutt ist ein Fake, es wird von einem der vielen anonymen Spaßmacher betrieben, die sich im Netz tummeln. Und Profile pflegen, die scheinbar Joachim Löw, Oliver Kahn oder Michael Ballack gehören. Wer sich nicht so gut auskennt, der kann sich zunächst einmal leicht in die Irre führen lassen – denn die Profilfotos sind echt, die Namen meist auch, Ausnahmen wie „Loddar Maddäus“ bestätigen die Regel. Immer zahlreicher werden sie, die falschen Fußball-Promis im Internet, und nur der geübte Nutzer entlarvt sie schnell: Ihnen fehlt das hellblaue Gütesiegel mit dem Häkchen hinter dem Namen, mit dem Twitter die echten Profile bekannter Menschen hervorhebt.

Wer nun ein bisschen in dieser Subkultur herumstöbert, dem Bundestrainer tief in die Mundart blickt oder mit Fredi Bobic in die Kabinengeheimnisse des VfB Stuttgart einsteigt, der ertappt sich irgendwann bei dem Gedanken, dass es doch eigentlich ein bisschen schade ist. Wäre es nicht eine Freude für alle Beteiligten, wenn tatsächlich der echte Kahn twittern würde: „Ich bin zu geil, ich bin zu geil, ich bin zu geil für diese Welt!“ Oder wenn Bayerns Jérôme Boateng, von dem man ansonsten noch nicht allzu viel Selbstironisches vernommen hat, seinen Hintergrund mit den „Bild“-Fotos der sommerlichen Lobby-Bekanntschaft Gina-Lisa Lohfink bestücken würde wie es sein unechtes Pendant @ChezRomeBoateng ganz lässig tut?

Ein ziemlich utopisches Szenario, zugegeben. Man müsste sich dafür schließlich nicht nur den Autorisierungseifer von Klubs und Verbänden, sondern auch die hysterischen Reaktionen vieler Medien wegdenken, die jeden noch so kleinen Satzfetzen aufklauben und nach ihrem Gusto breitschlagen.

In England ist man der Utopie jedoch ein ganzes Stückchen näher. Hier twittern aktuelle und ehemalige Profis häufiger und tendenziell weniger steif. Und manchmal sogar mit einigermaßen Witz. Ex-Nationalspieler Robert Huth beispielsweise hat in über zehn Jahren auf der Insel offenbar einiges an landestypischem Humorverständnis aufgenommen. Seine Selbstbeschreibung bei Twitter lautet: „Innenverteidiger für Stoke City. Ziemlich kleiner Kopf für solch einen mächtigen Kiefer.“ Und als Teamkollege Ryan Shawcross Anfang des Jahres einen neuen Vertrag unterschrieb, freute sich Huth über „garantierte fünf Eigentore pro Saison für die nächsten sechs Jahre“. Natürlich, bitte mal alle kurz entspannen: ein Spaß!

Und wenn nicht, sind hübsche Kontroversen inbegriffen: Dem emsigen Twitterer Rio Ferdinand brachte eine diffamierende Nachricht gegen Ashley Cole in der Rassismus-Kontroverse um John Terry eine happige Geldstrafe durch die FA ein. Und in welch Abgründe man mittels Twitter-Kurznachrichten binnen Minuten stürzen kann, bewiesen erst Mitte Januar Dietmar Hamann und Joey Barton, die einen bald legendären Streit ausfochten, in dessen Folge Hamann sich „Koksnase“ und sein Leben einen „Autounfall“ nennen lassen musste.

Ungeachtet aller Geschmacklosigkeiten ist all das immer noch deutlich unterhaltsamer als die Belanglosigkeiten, die die meisten deutschen Fußball-Profis in der Regel veröffentlichen. Sie scheinen irgendwo zwischen den strikten Auflagen ihrer Geldgeber und dem eigenen diffusen Mitteilungsbedürfnis gefangen. Heraus kommen dann neben Reklamehinweisen auf das neue Schuhmodell des Sponsors meist Tweets wie „5:2 – das hat Spaß gemacht“ (Mesut Özil) oder „Guten Morgen 🙂 Good Morning :)“ (André Schürrle).

Doch offenbar gibt es selbst dafür einen Markt. Özils „News“ lesen immerhin knapp 1,3 Millionen Menschen mit. Für diejenigen jedoch, die sich gerne an frühere, zotige Zeiten erinnern, sei auf das Profil von Peter Neururer hingewiesen, das zwar gefälscht ist, aber komplett auf authentischen Zitaten des Alttrainers basiert. „Karriere, Leben – bei mir ist alles irre“, liest der Fan dort und lechzt und schreit sofort wieder reflexhaft nach den Typen, den echten, den wahren, all den Bonbon-Ristics und Mundart-Steppis, die es doch früher haufenweise gab. Und weiß doch, dass sie nie mehr wiederkommen werden. Vielleicht ja auch gut so. Aber vielleicht hilft dieses aus der Zeit gefallene Beispiel auch, nicht alles immer so wahnsinnig ernst zu nehmen, ein Stück zurückzukehren vom Hype, von der Hysterie zu etwas mehr Normalität und Gelassenheit. Denn schon Neururer wusste: „Spieler sind kein Material, sondern Menschen.“

Das Ballett der Bäuche

– Ein Besuch beim Altherren-Fußballturnier in der Schmeling-Halle

Es ist immer das Gleiche mit den Fußballern. Sie wollen einfach nicht altern. Klar ist das eine oder andere Bäuchlein zu entdecken, bei Guido Buchwald etwa oder Peter Wynhoff, aber die Bewegungsabläufe sind die selben. Vielleicht will man aber in den Ex-Profis, die unter dem Namen eines Stromanbieters und dem Motto „Fußball-Legenden live erleben“ am Samstag in der Max-Schmeling-Halle aufdribbelten, auch nur die Panini-Helden von einst wiedererkennen.

Und so mag Jörg „Ali“ Albertz zwar ein paar Falten mehr im Gesicht haben, er ist aber immer noch das gleiche rothaarige Kraftpaket, das in den Stadien zwischen Glasgow und Gladbach den Freistoßhammer auspackte.

Damit das Deja-vu perfekt wird, ist auch die Musik altbekannt und altbewährt. Vom Band singen Opus „Live is life“ und Altkanzler Gerhard Schröder fordert unaufhörlich eine Flasche Bier. Auch hier also: Das gleiche Lied.

Hertha und Union sind natürlich am Start, zugereist sind außerdem der spätere Turniersieger Bayer Leverkusen, Borussia Mönchengladbach, der VfB Stuttgart und Real Madrid. Eine hochkarätige Mannschaft aus dem Ausland dabei zu haben, die auch einen gepflegten Ball spielen könne, sei wichtig, sagt Bernd Schultz, der als Präsident des Berliner Fußball-Verbands offizieller Veranstalter ist. Bis 1997, als die goldene Zeit des Hallenfußballs mit der letzten Austragung des DFB-Hallenmasters endete, fand Jahr für Jahr auch das Turnier in der Deutschlandhalle statt. Dann wurde die Winterpause kürzer, und die Klubs hatten keine Zeit mehr für Qualifikationsturniere, in denen sie zwischen Oldenburg und Karlsruhe, Schwerin und Krefeld den wertvollen Punkten hinterherhetzten.

Nun, 16 Jahre später, stehen die gleichen Fußballer im Rampenlicht. Immer noch, immer wieder. In der zum dritten Mal nacheinander ausverkauften Halle. Und die Delegation des spanischen Rekordmeisters nimmt die Sache wirklich ernst, sie begeht vorab den Kunstrasen mit einer Akribie, als stünde die alles entscheidende Meisterschafts-Partie an. „Die Mischung aus Show und Sport findet Geschmack“, sagt Schultz. Und Dariusz Wosz, Prototyp der Zaubermaus, pflichtet bei. „Klar ist auch Ehrgeiz dabei“, sagt der heutige Bochumer A-Jugend-Coach, „aber nicht mit aller Macht. Ich hab’ ja keinen Bock, mich zu verletzen!“ Mit Wosz im Team: Ante Covic, Pal Dardai, die Schmidt-Brüder und der ewig bissige Andreas Neuendorf. „Zecke! Zecke!“, schreit der Hertha-Block.

Das Derby zwischen Hertha und Union gibt es gleich zweimal

Union-Keeper Oskar Kosche hat derweil andere Probleme: „Ich bin froh, wenn ich am Leben bleibe“, sagt er. Und lacht. „Die Devise heißt: Kontrollierter Einsatz. Aber blamieren will sich auch keiner.“ Genau das aber passiert ihm dann – ausgerechnet im Derby. Beim bitteren 4:8 in der Vorrunde muss Kosche in der ersten Hälfte gleich fünfmal den Ball aus dem Netz fischen. Wosz spielt ganz groß auf, schießt vier wunderschöne Tore. „Oh, wie ist das schön!“, singt der Hertha-Block und tanzt zur Atzenmusik. Allerdings revanchieren sich die Köpenicker später beim 3:2-Sieg im Spiel um Platz drei.

Nach schleppendem Beginn geht es endlich etwas höher her auf dem Kunstrasen, immer wieder knallt der Ball ins Netz oder ans Aluminium. „Mann, was für Scharfschützen“, urteilt Leverkusens Mike Rietpietsch, gespielt genervt, und Stefan Beinlich nickt. Bei Real Madrid gehört der prominenteste Name Michel Salgado. Die Haare sind noch so lang und blond wie eh und je, die Begrüßung von Gladbachs Oliver Neuville herzlich. Man kennt sich, aus dem Champions-League-Finale 2002.

„Legenden, das ist immer ein großes Wort, aber der Bedarf an hochqualifiziertem Hallenfußball ist auf jeden Fall vorhanden“, sagt BFV-Präsident Schultz. „Die Hallenatmosphäre, der Kontakt zu den Spielern“ seien beliebt bei den Leuten. Die Fans kommen ihren Lieblingen so nahe wie selten. Bernd Schneider, noch so eine Zaubermaus, schreibt lässig Autogramme, während ihm der Schweiß übers Gesicht rinnt und der obligate Brilli im Licht der Scheinwerfer funkelt wie wild.

Schon eine gute Stunde vor Beginn sind sie die Gleimstraße heruntergeströmt, Herthaner und Unioner. Letztere haben lange gute Laune. „Alte Försterei“-Rufe. Man fühlt sich wie zuhause. Es ist in erster Linie eine Berliner Veranstaltung, selbst Leverkusen hat ja in Stefan „Paule“ Beinlich und Carsten Ramelow zwei ehemalige Berliner mitgebracht. Beim erstmaligen Teilnehmer VfB Stuttgart ist neben Weltmeister „Diego“ Buchwald in Krassimir Balakow immerhin ein beziehungsweise zwei Schenkel des legendären magischen Dreiecks von einst gekommen. Fredi Bobic hat kurzfristig abgesagt, und Giovane Elber, nun, der ist mittlerweile Rinderzüchter in seiner Heimat Brasilien. (Tagesspiegel Sport)

Der Tag, an dem der FC Bayern starb

– Rückblick: Finale dahoam (11FREUNDE.de)

Der Tag, an dem der FC Bayern starb, war traumhaft schön. Kaum ein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel über dem Englischen Garten, die Menschen saßen auf Bänken in der Sonne, sie redeten, und bisweilen sangen sie auch. Bierkrüge klirrten, die grünen Blätter der Bäume rauschten sanft im Wind. Weißbierwetter.

Nur der Flaschensammler störte kurz die Idylle, ein abgerissener Afrikaner mit Dreadlocks und kaputter Hose, einen riesigen Müllsack auf dem Buckel. »Drogba!«, murmelte er vor sich hin. »Yes, yes. Watch Drogba!« Wie bitte, was? »He’s dangerous! Yes, yes, he is!« Kaum einer nahm Notiz von dem Mann, nur hin und wieder drehte sich jemand um, mit einem müden Lächeln, mit dem man einem kleinen Kind begegnet, das gerade behauptet hat, es werde später Astronaut, ein Lächeln für Betrunkene und Geisteskranke.

Der Flaschensammler hatte sie offenkundig nicht mehr alle. Drogba? Chelsea? Nein, die Engländer waren in diesem superhappy Sommerfest nur geduldete Gäste, sie waren die bunten Wimpelchen am Zaun, die eifrigen Kellner, die den bierseligen Bayern den schäumenden Krug direkt an den Tisch servierten. Chelsea, der Treppenwitz dieses Endspiels. Im Viertelfinale schon draußen, im Halbfinale auf groteske Art siegreich gegen den großen FC Barcelona. Statt Messi, Iniesta und Xavi war also eine bessere Altherrentruppe nach München gereist. Perfekt, danke, läuft. Dachte ich, dachten alle.

München feierte rein in dieses Champions-League-Finale, ab mittags. Brezen, Sonne, mia san Bier. Und ich, der die Bayern nie gemocht hatte, tauchte ein in die allgemeine Glückseligkeit, bestellte mir eine Halbe, strich mir den Schaum aus dem Bart und freute mich auf das, was da kommen mochte. Nur auf dem Weg hinunter in die U-Bahn, Station »Universität«, kam er mir noch einmal in den Sinn, nur ganz kurz, der gemeine Satz: Was wäre wenn?

»My time is now«, stand da, auf der Werbetafel neben einer Abbildung von Didier Drogba.

Stunden später. Ecke für Chelsea. Die erste. Für Bayern hat Kroos schon gefühlt 20 reingebracht, ungefährlich allesamt, aber was soll’s? Es steht 1:0 für die Bayern, 1:0 für München, für die Party.

And now goal. Was David Luiz im Vorbeilaufen dem völlig fertigen Bastian Schweinsteiger steckte, war bei uns auf der Tribüne nur ein bitterböses Unken. Und dann: Goal. Kopfball. Drogba. So absurd und gleichzeitig so folgerichtig, dass mir in dem Moment nicht mal der Flaschensammler einfiel. Mir fiel, wie allen, in diesem Moment überhaupt nichts mehr ein. Außer Schweinsteiger. Der war schon in der 65., 70. Minute mit pumpendem Oberkörper an der Seitenlinie gewesen, hatte gierig getrunken, der Körper völlig kaputt, der Wille machte ihn funktionieren. Was macht Schweinsteiger? Er kämpft. Mit sich, gegen sich.

Dann Verlängerung. Dann Elfmeter. Drogba foult, Robben schießt. Schweinsteiger sieht nicht hin. Die falsche Seite der Arena jubelt. Schweinsteiger wird von seinem Torwart hochgerissen, er scheint lange zu brauchen, bis der Wille wieder stärker ist als der Körper. Ich beobachte jetzt nur noch ihn. Und Drogba. Ringkampf der verlorenen Seelen. Drogba stolziert in den Pausen auf und ab, vor sich hin murmelnd, wie ein Voodoopriester, wie in Trance. Und Schweinsteiger spielt eine grandiose zweite Verlängerungshälfte, dies hier ist sein größtes Spiel, zweifellos. Dann kommt das Elfmeterschießen. Und Schweinsteiger. Und Drogba. Und dann ist es vorbei, das Spiel, das Bastian Schweinsteiger dreimal verlieren und Didier Drogba dreimal gewinnen musste, ehe es endlich entschieden war.

Die Stimmung in der Stadt zu beschreiben, danach, ist unmöglich. Beerdigungen sind schöner. Später, schon weit nach Mitternacht, eine winzige, traurige Kneipe an der Schleißheimer Straße. Erbarmungswürdige Gesellschaft. Gramgebeugte Bayern-Trikots am Tresen. Trotz Musik und Geplauder: Totenstille. Und ich, der Bayern-Hasser, der sich 1999 noch gefreut hatte, dass die Bayern einen drauf bekommen hatten, wollte am liebsten hingehen und sie trösten und ihnen sagen: Es tut mir Leid, für heute – und für damals. Das habt ihr nicht verdient. Sowas hat keiner verdient.

Aber in Momenten wie diesem gibt es nichts zu sagen.

Ich zahlte mein Bier und ging langsam nach Hause.

Respekt am Grill und auf dem Platz

– Der Berliner Fußball-Verband müht sich um Integration – immer wieder kommt es zu Rassismus und Gewalt

Berlin (dapd). Die Frau im Kopftuch wird freudig begrüßt, kurz darauf brutzelt saftiger Sis Kebab neben goldenen Maiskolben auf dem Grill, dazu gibt es deutschen Kartoffelsalat. Und dann beginnt das Spiel, das die afrikanischen, türkischen oder deutschen Eltern der Nationalspieler vor dem Fernseher verfolgen. „Mas Integracion“, der Imagefilm des DFB war vier Jahre lang vor jedem Länderspiel zu sehen und ist sicher einer der meistgesehenen TV-Spots aller Zeiten.

Eine multikulturelle Nationalelf eines perfekt integrierten Landes – die Realität ist wie so oft ein bisschen weniger bunt und schön als der Film. So brach nach der EM eine krude Debatte über das Mitsingen der Hymne von Spielern mit Migrationshintergrund los.

In Berlin, wo am Donnerstag Bundeskanzlerin Merkel mit deutschen Fußballgrößen die Integrations-Initiative „Geh Deinen Weg“ vorstellt, sind rund 40 ethnische Fußballvereine angemeldet. Sie heißen BSV Hürtürkel, FK Srbija, SD Croatia oder SC Al-Quds. Im Liga-Alltag kommt es immer wieder zu Gewalt und Rassismus, von deutschen Vereinen gegen Migrantenklubs – oder von verfeindeten Ethnien gegeneinander. So wurden Anfang Juni ein Spieler und der Trainer von Hürtürkel nach antisemitischen Beleidigungen gegen den jüdischen Verein TuS Makkabi mit mehrmonatigen Sperren belegt, der Verein erhielt eine Geldstrafe und Punktabzug.

Alexander Sobotta leistete viereinhalb Jahre im Integrationsprogramm des Deutschen Fußball-Bund (DFB) Pionierarbeit, der 34-Jährige ist jetzt selbstständig im Bereich „Diversity Management“ tätig. Für seine Diplomarbeit besuchte er türkische Vereine in Berlin. Sein Fazit fiel „differenziert“ aus. Es gebe Klubs, die sich öffnen wollten und Sozialarbeit leisteten, sagt er, bei Türkiyemspor spielten Fußballer aus rund 20 Nationen. Aber es gebe auch Gegenbeispiele. „Gerade kleinere Vereine sind immer noch Anlaufstellen für Menschen aus der gleichen Herkunftsregion.“

Das bestätigt Bernd Schultz, der Präsident des Berliner Fußball-Verbandes (BFV). Problematisch sei vor allem, die Vereinsvertreter dazu zu bewegen, für Ämter und Gremien zu kandidieren. „Oft konzentrieren sie sich sehr auf sich. Ich sage immer, ‚Leute, bringt euch ein‘, aber sie kapseln sich ab.“ Häufig käme ein Sprachproblem dazu, obwohl Spieler und Betreuer meist schon in der dritten Generation in Deutschland lebten. „Es vermischt sich aber erfreulicherweise mehr und mehr“, sagt der 54-Jährige der dapd.

Zwtl.: Ehrenamt unter Migranten rasant ansteigend

Das ehrenamtliche Engagement unter Migranten ist im Fußballbereich derweil rasant im Anstieg. Von 2007/08 bis 2009/10 wuchs ihr Anteil an der Gesamtzahl laut „Sportentwicklungsbericht“ des DOSB von 7,2 auf 13 Prozent – fast zehn Prozent mehr als im Gesamtsport. Zum Vergleich: 19 Prozent der DFB-Mitglieder haben einen Migrationshintergrund. In Berlin sitzt der Deutsch-Türke Mehmet Matur als Integrationsbeauftragter im Verbandspräsidium. „Er kennt Gott und die Welt bei den Vereinen“, sagt Sobotta.

In der Vergangenheit war der BFV für schleppende Aufarbeitung von Gewalt- und Rassismusfällen kritisiert worden. Das harte Urteil gegen Hürtürkel in diesem Jahr soll auch Symbolwirkung entfalten. „Wir haben die Regeln erheblich verschärft. Wir erwarten Respekt voreinander auf den Plätzen“, sagt Präsident Schultz.

Dass es unter Migranten eine höhere Gewaltbereitschaft gebe, wie oft unterstellt wird, verneint er. „Wir haben das von der Uni Potsdam untersuchen lassen. Sie haben genau so viele Deutsche, die ausrasten, wie Personen mit Migrationshintergrund.“ Er betont jedoch auch, dass es sich bei Einwanderern der dritten Generation auch um Deutsche handele: „Das sind ja keine Leute aus Anatolien, sie sind hier geboren und aufgewachsen. Da hat die Gesellschaft etwas verpasst. Wir als Sport sind nicht der Reparaturbetrieb.“

Separate Ligen sind für Bernd Schultz keine Lösung. „Wir müssen in einer Weltstadt wie Berlin die vielen Kulturen und Nationen in den Vereinen unter ein Dach bekommen.“ Aber auch der Dachverband sei gefragt: „Es muss Aufgabe des DFB bleiben, sich dieser gesellschaftlichen Themen auch weiterhin anzunehmen.“ Multi-Kulti-Grillfeste sind im Berliner Verband übrigens bereits Realität, auch wenn sie bei Problempaarungen unter Umständen vom BFV verordnet werden – Integration auf Befehl sozusagen.

Irgendwann, da war es Liebe

– Hertha vor der Relegation: Ein Treffen mit Ex-Stürmer Karl-Heinz Granitza an der Wiege des Vereins

Berlin (dapd). Wer versuchen will, den Fußballverein Hertha BSC zu verstehen, der muss dahin gehen, wo er herkommt. Dahin, wo es wehtut. Berlin, Ortsteil Wedding. Gesundbrunnen, Ecke Behmstraße. Hier, wo die Spielkasinos blinken und die Kampfhunde knurren, wo ein gigantisches Einkaufszentrum jede Aussicht nimmt, da ist dieser Klub ursprünglich zu Hause. Wedding, Paradies der Proletarier. Zweihundert Meter von hier stand bis zum Abriss 1974 Herthas Stadion, die „Plumpe“. Hertha spielt nun im Olympiastadion im feinen Charlottenburg.

Von damals übriggeblieben ist die ehemalige Vereinsgaststätte, der „Bierbrunnen an der Plumpe“. Eine dieser Kneipen, vor denen einem schon der abgestandene Kippengeruch entgegenkommt, bei dem man sich immer fragt, ob es eher muffiger Rauch oder rauchiger Muff ist. Es ist eine dieser Kneipen, in denen mittags um zwei schon mächtig was los ist. Ein Mann mit rotem Gesicht und eine aschfahle Frau spielen Billard, die runde Theke ist schon recht ordentlich besetzt. Man trinkt hier sein Bier aus Tulpengläsern.

Karl-Heinz Granitza sitzt an einem Tisch in der Ecke. Über ihm: Herthas letzte Meistermannschaft von 1931. Neben dem Team ein Betreuer mit riesiger Schiebermütze, Lederkoffer in der Hand. Granitza trinkt wie alle aus der Tulpe. „Fassbrause“, sagt er gleich als Erstes. Fassbrause! Ein Ur-Berliner Getränk. Granitza, der in den goldenen Siebzigern für Hertha 34 Bundesliga-Tore geschossen hat, könnte man für einen dieser Ur-Berliner halten. Er ist zwar im Ruhrgebiet aufgewachsen, aber Hertha ist seine Heimat. Und der 60-Jährige besitzt die wichtigste Eigenschaft des Berliners: Er kann ganz vorzüglich motzen.

„Was waren wir früher für eine unglaubliche Heimmannschaft“, sagt er. „Und heute?“ Granitza gibt sich die Antwort selbst. „Heute ist es den Spielern doch größtenteils scheißegal, ob sie zu Hause oder auswärts spielen. Die werden erst nach der Karriere merken, wie stolz sie hätten sein sollen, in diesem Stadion zu spielen.“

Das macht ihn jetzt echt wütend. Am Donnerstag kommt Fortuna Düsseldorf zum Relegations-Hinspiel, und daheim hat Hertha erst vier Spiele gewonnen diese Saison. „Vier Spiele!“, ruft Granitza. Die Leute am Tresen würden schon gucken, wenn nicht Andrea Berg so laut aus der Jukebox schlagern würde. Granitza schiebt seine Brille die Nasenwurzel hoch, er ringt um Worte und schaut aus dem Fenster.

„Irgendwann, da war es Liebe“, schallt es durch den Raum, „vielleicht sogar ein bisschen mehr“. Das Billard-Pärchen schunkelt ein bisschen. „Meine heimliche Liebe war immer Hertha BSC“, sagt Granitza leise. „Wenn die mich nicht damals hätten verkaufen müssen, ich wäre nie weggegangen.“ 1979 wechselt der Stürmer in die USA, für 1,2 Millionen Dollar, wie er sagt. Bei Chicago Sting wird er zum Soccer-Helden, den Hall-of-Fame-Ring trägt er stolz an der rechten Hand. Erst 1990 kehrt er zurück nach Berlin, zu seiner Liebe Hertha. Aber ein Leben mit dieser Liebe war noch nie ein einfaches.

Granitza sagt: „Michael Preetz hat so viele Fehler gemacht, dass es beängstigend ist, dass wir noch die Relegation erreicht haben.“ Er schüttelt den Kopf. „31 Punkte! Was ein Glück, dass der Kölsche Klüngel noch schlimmer war als wir.“ Jetzt ist er bei seinem Thema: Herthas Führungsschwäche. Präsident Werner Gegenbauer und Manager Michael Preetz. „Alleinherrscher“ nennt er die beiden, Gegenbauer auch noch einen „Diktator“: „Es kann doch nicht so weitergehen, die beiden Sonnenkönige können doch nicht ewig so weiter wurschteln. Die müssen so ein Feuer kriegen auf der Jahreshauptversammlung.“

Der 29. Mai soll der Tag seines alten Teamkameraden Michael Sziedat werden. Der war lange Herthas Rekordspieler in der ersten Liga, bis ihn vor zwei Jahren der Ungar Pal Dardai überholte. Sziedat kandidiert am 29. für den Hertha-Vorstand. „Es wäre eine Farce“, sagt Granitza, „wenn die Fans diesen Ur-Berliner nicht mit 99,9 oder 100 Prozent in den Vorstand wählen würden.“

Granitza hofft dann auch auf einen Job im Hertha-Umfeld. Welchen genau, sagt er nicht. Das Problem ist nur: Fußballfans haben ein wahnsinnig kurzes Gedächtnis. Rettet sich Hertha also noch, wird es Ende Mai wohl nicht mal ein Strohfeuer geben.

„Glaub mir, ich sterbe nicht noch mal“, schallt es durch die Kneipe. „Du, ich brauch dich nicht.“ Andrea Berg klingt jetzt wie ein drohender Hertha-Fan. Der zweite Abstieg in zwei Jahren… und dann?

Nein, sagt Granitza, und schüttelt energisch den Kopf. „Ich glaube wieder dran.“ Der 3:1-Sieg gegen Hoffenheim am letzten Spieltag, „das war das schönste Erlebnis der ganzen Saison“, sagt er. „Es wird ein fantastisches Gefühl sein, am Donnerstag ins Stadion zu gehen.“

Eigentlich aber hat Karl-Heinz Granitza die Hoffnung nie aufgegeben. In seinem kleinen Blog, in dem er regelmäßig über Hertha schreibt, hat er in den Vorschauen noch nie auf Niederlage getippt. Hinterher schrieb er dann Sätze wie „Hertha quält seine Fans“. Und nun, nach einem Jahr Quälerei, hat der Fußballgott als Zugabe verfügt: Zweimal 90 Minuten, vielleicht mehr. Gespielt wird, bis einer weint.

„Ich glaube, die Spieler haben den Schuss gehört“, sagt Granitza. Die Musik ist verstummt, seine Worte hallen im Schankraum wider, es ist jetzt mucksmäuschenstill im Bierbrunnen. Die Leute gucken. Granitza schaut sich um, dann verabschiedet er sich. Als er weg ist, sagt einer am Tresen: „Naja, der Granitza. Vor Weihnachten hat von denen keiner wat jesagt. Und jetzt kommse aus allen Ecken.“

Zwei für eine Woche

– Die Hertha-Interimstrainer Rene Tretschok und Ante Covic sollen den Stimmungsumschwung schaffen

Berlin (dapd). Vor dem Dienstagmorgentraining begrüßte die Profis des Bundesligisten Hertha BSC ein neuer Vorgesetzter. Mal wieder. Rene Tretschok leitete nach Michael Skibbes Demission erstmals die Übungseinheit – zusammen mit seinem Assistenten Ante Covic. Die beiden Interimstrainer sollen die Zeit überbrücken, bis Michael Preetz einen neuen Chefcoach gefunden hat. Und, wenn möglich, bitteschön auch noch einen Stimmungsumschwung schaffen in der Mannschaft, die sich am Wochenende beim 0:5 in Stuttgart, der fünften Niederlage im fünften Spiel 2012, bereits aufzulösen schien. Am Samstag kommt Borussia Dortmund nach Berlin.

Es gibt zweifellos dankbarere Aufgaben, aber Tretschok und Covic, beide ehemalige Hertha-Spieler und seit vielen Jahren im Klub, wollen das Beste daraus machen. Die Rollenverteilung ergibt sich dabei schon aus dem gegensätzlichen Naturell von Interimschef Tretschok, 43 Jahre alt, der 85 Mal für Hertha in der Bundesliga spielte, und des 36 Jahre alten Covic, 62 Erstligaspiele als Aktiver. Schon beim „sieben gegen drei“ zum Warmwerden ist das zu sehen. Die Sonne ist gerade herausgekommen, etwas Milde liegt in der Luft, die Hertha-Profis genießen den Augenblick ein bisschen zu sehr. „Bewegen! Raus aus dem Schatten!“, ruft Covic den Spielern zu, die gleich ein bisschen eifriger zur Sache gehen im Hütchenquadrat.

Tretschok dagegen sieht dem Treiben vorzugsweise reglos zu, einen Fuß auf den Ball gestützt. Ein Denkmal in Daunenjacke. Covic ist hinterher heiser, er bringt es noch einmal mit schelmischem Lächeln für die Journalisten auf den Punkt: „Ich bin von Hause aus ein lockerer Typ. Rene ist die Respektsperson.“

Vielleicht ist genau das ja die heilsame Mischung für die unter dem farblosen Skibbe zuletzt lust- und disziplinlosen Spieler.

Laut wie beim Käfigkick

Als die Hütchen abgeräumt sind und das Ein-Wochen-Duo zehn gegen zehn spielen lässt, ist es dann tatsächlich so laut wie sonst nur beim Käfigkick in den Berliner Randbezirken. Alles brüllt, feuert an, will den Ball. Nur die Südamerikaner Ramos, Raffael und Ronny traben stumm übers Feld, die Sprache eben, tun aber sonst ebenfalls eifrig mit – Ronny drischt den Ball einmal fast wütend in den Winkel.

Mit den Dreien habe er gleich die ersten Einzelgespräche anberaumt, sagt Tretschok, inklusive Übersetzer. Bis Samstag will er möglichst mit allen Spielern reden. Viel Zeit ist nicht, Tretschok weiß das, fünf Einheiten stehen ihm an vier Tagen zur Verfügung, um irgendwie irgendwas zu verändern in den Köpfen der Profis. „Wir verlangen von den Jungs nichts, was sie nicht können. Wir wollen nur wachrufen, was sie können“, sagt Tretschok und das klingt leichter, als es in Wirklichkeit wohl ist. „In der Hinrunde haben wir ja das Potenzial im spielerischen Bereich gesehen.“

Vielleicht erzählen Tretschok und Covic ihren Jungs ja auch ein bisschen von früher, zum Beispiel wie der junge Covic sein erstes Bundesligator erzielt hat, damals gegen den BVB im Olympiastadion. Tretschok seinerseits hat mit Dortmund zwei Meisterschaften und die Champions League gewonnen. Alles Schnee von gestern: „Ich bin Herthaner, alles andere interessiert mich nicht.“

Im Gegenteil: „Wir sind dabei, Borussia Dortmund auseinanderzunehmen“, sagt Tretschok. Damit meint er allerdings dann doch lediglich die akribischen Analysen des Gegners. So viel Realismus muss sein.