2004 schaffte Arsenals Weltauswahl das Unmögliche: ein Jahr Premier League ohne Niederlage. Längst aber ist Londons Avantgarde in der Geldflut verschwunden (11FREUNDE Spezial, Frühjahr 2016)
Wir müssen natürlich mit diesem Tor anfangen.
Mit dem Tor des Königs.
Frühling ist es, April 2004, alles steht auf dem Spiel und der König steht am Mittelkreis. Er steht da halblinks hinterm Kreis, ganz locker und easy, und wartet auf den Ball. Und er kriegt ihn, auf den rechten Fuß, seinen goldenen Fuß, und dann joggt er los. Die anderen stehen da, in Schwarz-Weiß, und der Deutsche ist der erste. Steht da, der Deutsche, breitbeinig und steif und deutsch, und checkt viel zu spät, wie der König schon immer schneller wird, sieht aus wie ein Morgenläufer im Park und ist doch schon ein Gepard, und Hamann the German merkt es jetzt erst und rutscht und grätscht und trifft nur sich selbst, und dann fällt er auf die Schnauze.
Klatscht einfach lang hin.
Da ist der König schon am Strafraum. Sechzehn Meter noch, und auf der Kreidelinie steht der Scouser. Steht da und zuckt ein bisschen wie ein Kaninchen im Spotlight. Und der König macht es leicht, ganz leicht, legt sich den Ball nach innen, scheinbar, schießt, scheinbar, und schießt schon wieder nicht, und Carragher the Scouser verliert alles, was er mal hatte, das Gleichgewicht und seine Würde, er fällt und knallt seinem Kollegen vors Knie, Jamie Carragher, eben ein Fußballprofi, jetzt eine Marionette mit verhedderten Schnüren.
Und jetzt stehen sie ganz alleine am Fünfmeterraum, drei Rot-Weiße, und die beiden anderen weichen zurück, und Thierry Henry, der König bringt es zu Ende, wie nur er es zu Ende bringen kann, flach, mit der rechten Innenseite, wie ein Kurzpass, unhaltbar ins lange Eck.
Sein Tor.
3:2. Arsenal führt wieder. Arsenal wird nicht verlieren. Nicht heute, gegen Liverpool, Henry macht noch das vierte, nicht übermorgen in Newcastle, nicht in zwei Wochen bei den alten Freunden von der White Hart Lane. Nein, Arsenal wird gar nicht mehr verlieren. Die Gunners werden Meister und keiner wird sie schlagen. Das wissen sie jetzt.
Sie haben das Triple verzockt in dieser einen, schlimmen Aprilwoche, das ja, Samstag gegen United, Dienstag gegen Chelsea, aber jetzt ist es vorbei, sie führen wieder und sie werden jetzt nicht mehr verlieren, nicht in der Liga, nicht in diesem Jahr. Sie werden bis zum Ende gehen, das wissen sie jetzt wieder, die Fans und die Spieler, ungeschlagen in 38 Spielen in der besten Fußballliga der Welt, und Thierry Henry hat ihren Glauben gerettet, Henry, The King, wer sonst, wer sonst.
THE INVINCIBLES, das sind sie, das werden sie für immer sein, dieses Team des Arsenal Football Club von 2003/2004, gecoacht von Henrys Landsmann Arsène Wenger, dem Fußballirren, der sich das eben einfach in den Kopf gesetzt hat, eine perfekte Saison, schon zwei Jahre zuvor hatten sie kein einziges Auswärtsspiel verloren, aber der Boss war noch nicht zufrieden. Meister, nun gut. Aber es muss doch immer noch besser, noch perfekter gehen, chers messieurs, il faut, il faut. Fast hätte er alles zerstört damit, der strenge Elsässer, die Spieler haben ihm schon die Schuld an der verpassten Meisterschaft 2003 gegeben, es hilft nicht, es geht nicht gut, too much pressure, Boss.
Und überhaupt, wer nimmt sich so was vor?
Etwas, das undenkbar ist, nie da gewesen im modernen Spiel im Heimatland des Fußballs, seit 1889, Preston North End. Sie sind die einzigen, die es vorher geschafft haben, aber, bei aller Liebe, das waren nur 22 Spiele, und das war 1889.
INVINCIBLE, in dem Wort steckt noch das erhabene Latein von ganz, ganz früher, die Sprache der Legionäre und Gladiatoren. Ein Wort wie in Marmor gemeißelt. Ein Wort, das eine goldene Trophäe verdient, bis heute die einzige, die von den Herren der Premier League je in Auftrag gegeben worden ist. Eine goldene Equipe, ein goldenes Jahr. Die letzte Meisterschaft, der letzte große Titel von Arsenal bis auf weiteres, ein frühes letztes Hurra in Wengers immer noch andauernder Amtszeit.
VINCERE, das heißt siegen, aber auch: seinen Willen durchsetzen.
Wie also bleibst du ein Jahr ungeschlagen?
Du kaufst Spieler, die es hassen, hassen, HASSEN, zu verlieren.
Gestatten, Jens Lehmann und Sol Campbell. Gestatten, Kolo Touré, Freddie Ljungberg und Patrick Vieira. Salut, Thierry Henry und Dennis Bergkamp. Heute schon verloren, Ray Parlour, Martin Keown? Wollte schon sagen.
Und dann noch dieser Manager, der das Spiel auf der Insel einmal auf links zieht. Der selbst beim Mittagessen noch ans Gewinnen denkt, chew to win, kauen, kauen, erinnert er die Spieler, sonst fährt der Körper zu sehr runter, die Leistung, die Leistung.
„Der Fußball kann Glück und Schönheit bringen, unerwartet. Etwas, das der Kunst nahe ist.“ So gehen Wenger-Sätze. Und er ist natürlich auch einer von denen, die es einfach nicht können, einfach nicht ertragen: „Jede Niederlage ist eine Narbe in deinem Herzen“, sagt Wenger, „eine Narbe, die niemals verschwindet. Der Moment, in dem du leidest wie sonst nie.“
Ein Bekloppter. Alles Bekloppte. Mal einen kleinen Einblick? Da werden sie dann am Ende also vorzeitig Meister, 35. Spieltag, im Stadion ihres liebsten Nord-Londoner Feinds, bei Tottenham. 2:2. Schlusspfiff. Premiership. Und Wenger sagt, er sei enttäuscht gewesen. Und Campbell und Lehmann wollen sich gegenseitig auf die Fresse hauen.
Oder dieses Gesicht von Martin Keown, 6. Spieltag bei United, als er Ruud van Nistelrooy nach dem Abpfiff mit einem Kranich wie aus Karate-Kid halb in den Nacken springt. Diese Fratze! Fuck you very much, Van, du hast eine Rote Karte geschunden und einen Elfer gekriegt, aber geschlagen hast du uns nicht!
Oder die Geschichte von Kolo Tourés Probetraining, als er nacheinander Henry, Bergkamp und dann auch noch Wenger selber umpflügt. Der feingliedrige Boss sitzt hinterher verkniffen in der Kabine, hält sich Eis auf den geschwollenen Knöchel und sagt: „Ich mag seinen Willen. Ab morgen spielt er bei uns.“
Touré, den 21-jährigen No-Name von der Elfenbeinküste, macht Wenger zum Innenverteidiger. Hat der Junge noch nie in seinem Leben gespielt, macht aber nichts, findet der Coach. Lernt er es eben. Hat ja Lehmann, Campbell und Vieira um sich herum.
Wenger ist es egal, was vorher war, das Gewöhnliche ist für ihn keine Kategorie: „Wenn du dich fragst, welche Position zu einem Spieler passt, schau dir seine Persönlichkeit an.“ Den ruhigen, fokussierten Henry macht er vom Flügelspieler zum eiskalten Mittelstürmer – und damit am Ende zum besten Arsenal-Torschützen aller Zeiten. 30 von 73 Arsenal-Toren schießt er allein im goldenen Ligajahr. 228 insgesamt. Und den flinken Ashley Cole hat Wenger im Ligaalltag Linksverteidiger lernen lassen: Crashkurs an der Seite von Tony Adams. Läuft.
Und dann erst The Crazy German hinten im Kasten. Lehmann ist der einzige Neuzugang im Sommer 2003, die letzte Addition für die seit Jahren zusammengewachsene Truppe. Ein spielender Keeper, ein schneller, fixer, nach dem alten Türsteher Seaman. Mad Jens, noch so ein Besessener, der sich mit Kraftwerk-Beats vor den Spielen in Fahrt bringt, ein permanenter Seiltänzer, der immer wieder mal abschmiert. Aber eben auch einer, der es absolut nicht abkann, eins mehr aus dem Netz zu holen, als die anderen vorne gemacht haben. Welcome to the team, Jensie.
Arsenals Vice-Chairman David Dein hat Wenger mit kleinem bis mittelgroßem Geld eine echte Weltauswahl zusammengestellt, und 2004 schwebt sie scheinbar unaufhaltsam dem dritten Ligatitel in sieben Jahren entgegen. Aus Frankreich, Holland und Schweden, aus Brasilien, Kamerun, Nigeria und der Elfenbeinküste kommen die Stützen des Teams. Wo sind die Engländer?, meckern sie auf der Insel. Warum Englands Beste nehmen, wenn wir die Besten der ganzen Welt entdecken können?, sagt Wenger. „Das waren die UN unter rot-weißer Kanonenflagge“, fasst es Amy Lawrence zusammen, die das ultimative Buch über 2003/04 geschrieben hat, es heißt, natürlich, „Invincible“.
Ein neuer Fußball, eine neue Stadt. Auch London streckt und reckt sich rings um die Jahrtausendfeierlichkeiten. Old Kingtown schmückt sich neu, und während Wenger bei Arsenal die alten Betten ausschüttelt, ein neues Trainingszentrum forciert, die Süßigkeiten streicht und einen Osteopathen einfliegen lässt, kriegt London sein neues Auge an der Themse, eine Brücke nur für Fußgänger rüber nach St. Paul und mit der Tate Modern im alten Ölkraftwerk an der Southbank im Millenniumsjahr auch endlich, endlich sein eigenes MoMA.
Fußball als Kunst, nichts weniger predigt Arsène Wenger, und Bergkamp, Henry und Co. kommen dem Ideal so nahe wie lange niemand mehr. Die echte, die bildende Kunst wird derweil zum Weltereignis made in London. Die Frieze Art Fair, die erste große internationale Kunstmesse, zieht 2003 im Regents Park allein am ersten Tag 10.000 Leute an, Olafur Eliasson schafft es mit seinem Weather Project in der Tate-Turbinenhalle auf die Titelseiten der Zeitungen, die Young British Artists, allen voran Damien Hirst, sind in aller Munde, und Britpop rules the music world. 2005 schließlich kriegt nicht Paris, nicht Madrid, New York oder Moskau die Olympischen Sommerspiele, sondern … ja, genau.
Die Dinge kommen in Bewegung und prallen aufeinander, London, Stadt der Gegensätze, „kosmopolitisch und provinziell verträumt“, so steht es 2004 in MERIAN, „prächtig und schäbig, eine Stadt der scharfen Kontraste, in der Eliten und Lumpenproletariat koexistieren“. Ein Ort, in dem es (noch) beides im gleichen Rang gibt, das Alte und das Neue, das Angeranzte und das Glänzende.
Und Arsenal ist Avantgarde in seinem ganz eigenen Atelier, randvoll mit Erinnerungsstücken, das alte Highbury, das 90 Jahre Fußballgeschichte verströmt und nun Spieler aus zehn Geburtsländern unter der großen runden Analog-Uhr auflaufen sieht. Hinter der prachtvollen Fassade des East Stand ist das ein zutiefst englisches Stadion, mit seinen vier offenen Ecken, den überlappenden Terrassen und den Backsteinhäusern gleich nebenan. Hier, wo noch Ali gegen Henry Cooper geboxt hat, läuft der Ball nun schneller als jemals zuvor, die Konterattacken fliegen nur so über das winzige Spielfeld, Ljungberg, Pirès, Bergkamp, Henry, Tor.
Keine Niederlage, keine Niederlage. Nicht verlieren, bloß nicht! Es geht schon gut los, die ersten Gegner sind nicht die allerschwersten, aber nach fünf Spielen steht dann zum ersten Mal alles auf dem Spiel. Da oben, bei United im Old Trafford, bei denen, die unbedingt Meister bleiben wollen, 0:0 steht es lange, und dann fliegt Vieira vom Platz, nach einem Beinzucker gegen van Nistelrooy. Und dann, ganz am Ende, plötzlich noch ein Elfmeter für die anderen, Ruud, der Holländer, schon wieder, und es könnte direkt alles vorbei sein, allerletzte Minute, und dann die Latte, und dann Schluss.
Und Keown macht den Kranich.
Sie haben nicht nachgegeben, sie haben nicht verloren, mit zehn Mann beim größten Rivalen. Jetzt schlagen sie auch Liverpool in Anfield und das neureiche Chelsea. An Neujahr stehen sie bei 13 Siegen und sechs Unentschieden, aber United ist doch noch einen Punkt vorne. Weiter, weiter! Besser, immer besser jetzt! Dabei hat die Weltauswahl ganz nebenbei mit dem Rücken zur Wand in der Champions League schon das Spiel der Saison gemacht, 5:1 bei Inter Mailand, höchster Europacup-Sieg, und die Gazzetta hebt am nächsten Tag Edvard Munchs „Schrei“ auf den Titel.
Alright. Freuen, Rückflug, weiter.
Im Januar kommen sie dann richtig ins Rollen, neun Spiele, neun Siege in der Liga, bis Ende März geht das so, und bei Henry klappt jetzt alles. Neun Spiele, neun Tore, und er ist ja nicht der einzige. „Wir hatten Henry und Bergkamp“, sagt Vieira später. „Wir wussten, es würde immer was passieren.“
Henry, der 30-Tore-Mann, wird mit Rückblick auf die ganzen Ballstafetten, das Vor-und-quer-und-quer-und-rein schwärmen: „Wir waren so selbstlos, jeder von uns gab den Ball an den weiter, der besser postiert war. Wir wollten immer alles teilen.“ Aber das ist natürlich nichts als Fußballerkitsch. Der Punkt ist wohl eher ein anderer: Alle wussten, was zu tun ist, um den eigenen Willen durchzubringen. Um am Ende das eine Tor mehr zu schießen. Oder um mit Wenger zu sprechen: um so wenige Narben wie möglich davon zu tragen. Kein Mensch aber ist selbstlos, und wenige Teams hatten mehr Ego, mehr Ecken und Kanten als Arsenal ’04. „It was complicated“, fasst Wenger später das Kabinenklima in bester Beziehungssprache zusammen. „LOTS of character“, sagt nur trocken der Haudegen Ray Parlour.
Massig Charakter, aber es geht. Sie halten den Laden zusammen. Nicht zuletzt dank Henry, dem König von Highbury. Sein fünftes Jahr in Nord-London ist sein bestes. Und was für Tore er schießt! Der Knaller gegen ManCity. Die Freistöße gegen Charlton und Blackburn. Das Solo gegen Liverpool, eins von drei Toren von ihm an diesem Tag. Seine Panenkas gegen Newcastle und Leeds. Es sieht so leicht aus. Perfekte Tore. Ein perfektes Jahr. No regrets?
Wenger seufzt: Wir hätten alles gewinnen können. Jedenfalls: auch die Champions League. Aber der Coach hat daneben gegriffen, hat seine erste Elf im FA-Cup gegen das verhasste United ermüdet und muss zusehen, wie Chelseas Wayne Bridge drei Tage später das Champions-League-Aus eintütet. Chelsea? Es ist wie ein Vorbote der Zukunft.
2004 siegt noch einmal der Wengersche Entdeckermodus. Dann übernimmt das ganz große Geld. Abramowitsch. Die Russen und die Scheichs und die Glazers. Es wird jetzt neunstellig gerechnet. Die Fußballwelt gerät aus den Fugen. Das Geld verliert seinen Wert, Spieler werden Aktien, hoffnungslos überbewertet. Und Wenger klammert sich wie ein Schiffbrüchiger an seine Dogmen. Junge Spieler, junge Spieler… Entwicklung… Ein Team… Das Große, Ganze… Die anderen kaufen längst einfach die Besten und verkaufen sie genauso schnell wieder. 2008 legt Manchester City 32 Millionen Pfund für Robinho auf den Tisch. Mehr Geld, als Arsenal für Henry, Bergkamp, Pirès und Ljungberg zusammen gezahlt hatte.
Ganz London wird vom Geld überschwemmt. Die Banker in der City spekulieren die Welt in den Abgrund, und Damien Hirst lässt an zwei Tagen Kunstwerke für 111 Millionen Pfund versteigern. Zehn Mal mehr als der vorherige Rekordhalter, a certain Pablo Picasso. Werte verschieben sich. Welten. Die Liga verändert sich mit der Stadt. Chelsea holt zweimal den Titel, United zieht wieder vorbei. Der Avantgardist Wenger wirkt plötzlich wie ein alter Kauz, der gegen den Zeitgeist anredet: „Du fühlst dich wie mit Steinen gegen Maschinengewehre. Die Leute interessiert es nicht. Sie wollen nur, dass du Meister wirst.“
Neue High-Tech-Stadien schießen aus dem Boden. 2006 verlässt auch Arsenal die Heimat des Fußballs, das Highbury. Zu klein, zu alt. Arenen werden jetzt nach arabischen Fluglinien benannt, um noch ein paar Millionen extra zu machen. Überall in der Stadt rollt die Teuerungswelle, die einfachen Leute fliehen immer weiter raus. Bald pendeln sie eine Stunde und mehr. Die neue Normalität.
Um zu sehen, was aus dem alten Arsenal, was aus London geworden ist, muss man sich nur die Bilder vom „Highbury Square“ anschauen. So heißt die Apartmentanlage, die jetzt da steht, wo mal ein Stadion war, die Seele von Zehntausenden. Es sind helle, funktionale Räumlichkeiten, sie werden angepriesen mit 24-Stunden-Concierge-Service und pitch view von der eigenen Couch, wegen der paar mickrigen Grasparzellen im Inneren der vier Betonungetüme, und das 50-Quadratmeter-Apartment gibt es schon ab einer halben Million Pfund. Vielleicht muss man das sogar günstig finden. Come on, it’s London! Und Tickets für Arsenal kann sich ja auch kaum noch wer leisten. Der Lauf der Zeit, oder?
La-di-da.
Der East Stand ist als einziger noch da, der mit der alten Kanone über dem Portal. Vielleicht hätten sie aber doch besser alles komplett wegreißen sollen, Denkmalschutz hin oder her. Stattdessen dieses Sakrileg. Als ob man diese Luxus-Condos in eine Art-Deco-Tribüne bauen könnte. Ein Seelenort weniger in der alten Fußballstadt London. Bleiben nicht mehr viele.
Aber Wenger, der ist immer noch da. Kein Meistertitel in zwölf Jahren. Kein Champions-League-Finale seit 2006. Ist er der Papst, oder was?, krakeelt Piers Morgan immer lauter.
Ein Verrückter, soll Einstein gesagt haben, macht wieder und wieder das selbe und erwartet immer neue Ergebnisse. Arsène Wenger ist mit diesem Spruch mal konfrontiert worden, und er fand auch keine richtige Antwort darauf. Er schien jedenfalls nicht zu widersprechen.
Und Einstein hatte nicht mal einen Abramowitsch gegen sich, keinen Scheich Mansour.
Warum sagt’s ihm keiner, meckern sie. Warum merkt er es nicht selbst? Warum macht er einfach immer weiter und weiter?
Vielleicht liegt es ja an 2004.
Ein unbesiegbares Team, aber kein perfektes Jahr. Nicht für Wenger, den ewig Suchenden. Vielleicht wäre er längst weg, vielleicht wäre er längst ein ganz anderer, ein neuer Mensch, wenn sie das verdammte Triple damals geholt hätten. Hätten nicht alle, hätte nicht jeder einzelne von ihnen diesen pathetischen Pseudotitel, diese 38 Spiele, ohne Nachzudenken gegen den großen, glänzenden Henkelcup eingetauscht?
Dabei ist es eigentlich egal. Was von 2004 bleibt, sind eh nicht die Zahlen. Was bleibt, sind die Bilder. Die Euphorie. Ein Herzflimmern.
Es ist doch so: Erinnerst du dich an jedes einzelne Kunstwerk, das du je in der Tate gesehen hast? Und spielt es irgendeine Rolle, wie teuer sie sind?
Erinnerungen an eine Stadt, ein Wochenende, ein Fußballspiel, das sind eingefangene Gefühle, nichts sonst. Ein Sound, der herüberweht. Ein entferntes Raunen, das du jederzeit wieder aufdrehen kannst. Weißt du noch, in welcher Minute Thierry Henry das 3:2 gegen Liverpool gemacht hat? Es ist egal.
Aber bist du ein Arsenal-Fan, einer von den echten, alten, ehrlichen, einer aus Highbury, dann weißt du noch genau, was es mit dir gemacht hat, dann hast du es noch ganz klar vor dir und in dir und du spürst, wie es war, damals, als der König übers Feld schwebte.
Es ist noch da, es ist noch da drin, irgendwo. Das ist der Fußball. Und kein Abrissbagger der Welt kommt bis dahin durch.
— Erschienen im 11FREUNDE Spezial „England“, Frühjahr 2016