I got the love!

– Der bemerkenswerte Soulsänger Charles Bradley gibt ein bemerkenswertes Konzert

Die Meute wird langsam ungeduldig. An die 200 Menschen quetschen sich in den engen Kellerraum, hier im „Fluxbau“ am Spreeufer nahe der Oberbaumbrücke. Draußen gluckert dunkel der Fluss, und Charles Bradley lässt auf sich warten. Nervöses Klatschen. Pfiffe. Ungeduld. Das Publikum: Jung, vielleicht Mitte, Ende zwanzig. Große Brillen, enge Hosen, knallroter Lippenstift bei den Frauen. Ein paar Afros. Und Mützen. Viele Mützen. Und Ungeduld. Es soll doch bitteschön pünktlich losgehen, selbst wenn der Eintritt frei ist.

Für einen Platz auf der Gästeliste musste man nur dem Radiosender FluxFM eine Email geschrieben haben. „Ja, ich will dabei sein, wenn Charles Bradley sein neues Album vorstellt“ oder so ähnlich. Die Antwort kam postwendend. Die, die nun dabei sind, sind sicher auch neugierig geworden auf Bradleys Geschichte, die keine gewöhnliche ist. 64 Jahre ist er schon alt, aber erst seit zehn Jahren Profi-Musiker. Vorher war er einige Jahre James-Brown-Double, Künstlername „Black Velvet“, davor Koch, davor Obdachloser. Jahrzehntelang war der Soulsänger Charles Bradly einer von vielen armen, schwarzen Amerikanern.

Bradley kommt nun auf die Bühne, grauer Rolli, Silberkettchen, funkelnder Ring. Die Menge johlt. „The Screaming Eagle of Soul“ nennen sie ihn, und der Adler schreit, kreischt gleich los mit einer Stimme, die einen packt wie mit Klauen. Mächtig, rauchig. B.B. King auf zwei Packungen Filterlosen.

Nach dem ersten Song die freundliche Bitte, doch das Echo vom Mikro zu nehmen. Völlig logisch: Dieser Mann braucht keine technische Hilfe. In jeden Ton legt er sein Leben. „I believe in your love“, singt er, mit halb geschlossenen Augen und schmerzvoll verzerrtem Gesicht. „I got the love“, singt er, „strictly reserved for you and me.“ Simple, scheinbar naive Botschaften, vorgetragen mit unbändiger Energie, jede Note ein Bekenntnis.

Dass dieser Abend überhaupt möglich ist, scheint Bradley ehrlich zu erstaunen, immer noch und immer wieder. Er will sich rechtfertigen: „Wisst ihr, ich spiele euch hier nichts vor“, sagt er zwischen zwei Songs. „Manche tun das. Aber ich habe es alles selbst erlebt.“ Die Monate auf der Straße, die zu Jahren werden. Den Tod seines Bruders, erschossen vom eigenen Neffen. Die Zeit des Zweifelns, des Versteckens. Erst jetzt, im Alter, lebt er sie aus, seine Liebe zur Musik, sein Gesangstalent, das er jahrzehntelang verheimlicht hat vor allen Fremden. Und 50 Jahre, nachdem ihn seine Schwester zu seinem ersten Konzert mitgenommen hat, James Brown natürlich, steht er vor diesen ganzen jungen Berlinern mit ihren Schlumpfmützen und sagt: „Ich bin euch unglaublich dankbar. Dafür dass ich hier sein darf. Ich danke euch dafür, dass ihr mit mir durch den Sturm gegangen seid!“

Einer hat ein Fenster geöffnet. Der Geruch des Flusses steigt in den Raum. „Ich fühle mich wie Otis Redding“, sagt Charles Bradley, „wie er da unten am Dock saß.“

Bradley singt seine neuen Soul-Balladen, sechs, sieben Stück, er schleudert sie in den Raum, begleitet nur von einer Akustik-Gitarre und zarter Perkussion. Längst schon ist das kein Gig mehr, es ist eine Messe.

„Why is it so hard to make it in America?“ In einem der eindrücklichsten Songs stellt Bradley die Frage seines Lebens: Warum nur ist es so schwer, es in Amerika zu etwas zu bringen? „In Germany too!“, ruft einer aus der Menge, aber das klingt sofort falsch, fast wie eine Frechheit. Ist das Leben hier schwer, für junge, weiße Mittelklasse-Deutsche? Schwerer als drüben?

Bradley aber reagiert sanft: „Ja, du hast recht, Bruder“, sagt er, „die Leute haben es heute überall auf der Welt schwer. Weil es so schwer ist, auf die Seele zu hören.“ Die Menge raunt zustimmend. Und dann singt Charles Bradley davon, wie einfach es eigentlich sein sollte, es in dem Land zu schaffen, aus dem er stammt. Und singt die Zeile, die er selbst widerlegt hat: „Looks like nothing’s gonna change.“

Das Erstaunlichste aber kommt nach den Songs. Die letzten Akkorde sind kaum verklungen, da steigt Bradley hinunter zu seinem Publikum. Er beginnt, die Leute zu umarmen. Er will, so scheint es, wirklich jedem persönlich danken. Fängt vorne an, arbeitet sich nach hinten durch. Dutzende Umarmungen, jede einzelne fest und lange. Und die Menschen stehen schier Schlange, lächeln ihn mit großen Augen an, strecken ihre Arme aus, hier, mich auch! Sie reißen sich darum, diesen Mann zu drücken. Als hofften sie, dass etwas von seiner Zuversicht, seiner weisen Ruhe auf sie abperlt. Smartphones erleuchten den Raum. Bradley ist fast ganz hinten angelangt. Ein besonderer Moment, nicht nur für ihn, man spürt das. Die große Sehnsucht der Twentysomethings nach ein bisschen Nähe. Woher kommt die, wieso bricht sie jetzt so unvermittelt hervor? Die Seele kann man nicht liken, vielleicht ist es das.

Der Ring, der uns verbindet

Auf dem Weg über die Swinemünder Brücke kommen, langsamen Schrittes, die Zweifel. Eine Geschichte über die Ringbahn? Ehrlich? Im Kreis fahren, von A nach A also, ganz gemütlich, wenn jeder von A nach B hetzt? Nicht ankommen wollen, wo jeder doch gerade ankommen will? Eine Strecke so fahren, wie es sie eigentlich gar nicht gibt, weil sie niemand so erlebt: Den Ring einmal komplett – wer macht das schon, außer betrunkenen Kids in der Nacht zu Sonntag? Jetzt ist Berufsverkehr. Einsteigen, losfahren, aus dem Fenster schauen, zwischendurch immer mal wieder aussteigen.

Ein unzeitgemäßes, vielleicht absurdes Vorhaben. Einmal herum, eine Stunde, 37 Kilometer, 27 Bahnhöfe, sieben Bezirke. Eine Runde Berlin, gegen den Uhrzeigersinn.

Gleich zu Beginn wird es hässlich. Eingequetscht zwischen zwei Einkaufszentren bietet der Bahnhof Gesundbrunnen wenig mehr als Stein gewordene Zweckmäßigkeit. Ein Eingangsgebäude soll demnächst endlich hinzukommen, das Baugerüst steht schon, zuvor hatte sich nur ein mickriger roter Service-Bungalow auf dem Vorplatz verloren. Aber egal, auf, hinein!

„S 42 Richtung Ring, zurückbleiben bitte!“ Türen schließen. Destination: Wedding. Hier oben, zwischen Westhafen und Schönhauser Allee fand 2002 wieder zusammen, was die Mauer einst getrennt hatte. Zum „Ringschluss am Wedding-Day“ rückte die gesamte Berliner Prominenz an. Strahlender Klaus Wowereit. Ewig her. Längst gähnt wieder der Alltag im alten Arbeiterbezirk. Missmutige Gesichter beim Ein- und Aussteigen. Der Blick die Müllerstraße hinunter zeigt drei ewig rote Buchstaben. S. P. D. Kurt-Schumacher-Haus. Ein steinernes Relikt. Die Partei, die hier einst 70 Prozent und mehr einfuhr, haben bei der letzten Abgeordnetenhauswahl, Stimmbezirk 431, von 1 081 Wahlberechtigten noch ganze 91 gewählt.

Keine Zeit für Politik. Nach Ring, zurückbleiben bitte. Mütze aus, Schal lockern, warm werden. Einen ganz eigenen Geruch hat sie, diese S-Bahn, metallen, ein bisschen säuerlich auch, nicht zu verwechseln mit der muffig-warmen U-Bahn. A propos U-Bahn: Heller ist es hier als dort, weiter auch, man hat mehr Platz, und, klar, mehr Aussicht. Über Westhafen und Beusselstraße geht es zur Jungfernheide. Es dominieren große Flächen, hier wird gearbeitet statt gewohnt. Hellweg, Bühnenverleih, Güterwaggons. In der Wellblechwelt ein bisschen alter Backsteinprunk. Behala Westhafen, Gewerbelinie Ring. Beim Halt in Jungfernheide meint man, den Zug schnaufen zu hören. Großes Umsteigen, U7, nach Spandau und Rudow. Dann geht’s nach Süden, scharfe Linkskurve, und rechts tauchen die Märchentürme der Westend-Kliniken auf.

DER RINGBAHN-ROMANTIKER

Als erster Treffpunkt ist gewählt: der S-Bahnhof Westend, Spandauer Damm, Ausfallschneise, irgendwo zwischen Schloss Charlottenburg und Ikea. „Ich war immer ein Liebhaber der Verkehrsmittel“, sagt Jürgen Meyer-Kronthaler. Seit 25 Jahren schreibt der ehemalige Rias- und heutige Deutsche-Welle-Redakteur, „kurz jmk“, für die „Berliner Verkehrsblätter“, kurz „BV“. Eine der zwei großen Liebhaber-Zeitschriften im Berliner Raum. Im Ostteil sind zu Mauerzeiten noch die „Verkehrsgeschichtlichen Blätter“ entstanden, kurz „VB“. Für den Laien kaum zu unterscheiden. Im Lokal „Zur Haltestelle“ trinkt man Schultheiss vom Fass. Das Interieur: Asbach-Uralt-Leuchtreklame, Holzvertäfelung, Wagenrad-Kronleuchter, dunkle Gemälde in Goldrahmen. Unter der Decke: Rettungsring, Fischernetz und Gitarre – Freddy-Quinn-Ensemble. Hinterlegt ist das alles mit 105,5 Spreeradio. Wir sind, kurz gesagt, in einem dieser großartigen Altberliner Saufläden.

Das Leben von Meyer-Kronthaler, Jahrgang 1950, große randlose Brille, Seitenscheitel, Sakko über Pullunder über Hemd, ist ein Leben in und mit der Bahn. Erster Bänderriss, Ehrensache, beim Abspringen vom fahrenden Zug. Gute, alte Zeit. Meyer-Kronthaler erzählt von früher. Von den Knutschtouren der Nachkriegszeit, als Pärchen sich in die meist leeren Mutter-Kind-Abteile verkrochen. Von seinem Heimatbahnhof, Halensee, der früher noch so einen schönen großen Glasvorbau hatte. Und vom ursprünglichen Namen: „SS-Bahn!“, sagt Meyer-Kronthaler und lehnt sich zurück. Klug gesetzte Kunstpause. „Kurz für Stadtschnellbahn.“ Puh. Das alte Kürzel spuckte der Volksmund im Laufe der Vierziger recht schnell wieder aus. Darauf ein großer Schluck.

„Können Sie mal die Luft aus den Gläsern lassen?“ Schwieriges Thema jetzt: die S-Bahn nach dem Krieg. „Schon allein aus Daffke hab ich die genommen“, sagt Meyer-Kronthaler. Denn die Elterngeneration boykottierte „Ulbrichts Stacheldrahtbahn“ nach 1961. Betrieben wurde sie weiterhin von der Reichsbahn, gefahren von linientreuen DDR-Bürgern. Die S-Bahn, ein Kuriosum des Kalten Kriegs: „Ein maroder, rumpelnder, total überalterter Wagenpark“, sagt Meyer-Kronthaler. Als die Stones-Fans 1965 die Waldbühne verwüsten, werden auf der Heimfahrt die Züge gleich mit zerlegt. „Die S-Bahn war Freiwild, da war viel Kalter Krieg dabei auf beiden Seiten. Jeder Gullydeckel war politisch.“

Die während der Teilung verfallenen Ringbahnhöfe wurden nach 1990 Stück um Stück wieder aufgebaut, die Strecken saniert. Trotz der andauernden S-Bahn-Krise, die auch Meyer-Kronthaler alias jmk in seiner Zeitschrift kritisch begleitet, ein versöhnliches Fazit vom Liebhaber: „Die Ringbahn ist doch ein wunderbares Symbol für die Vereinigung. Die Menschen in Ost und West haben in den gleichen Zügen gesessen. Es war ihre gemeinsame S-Bahn.“ Schöner Schlusssatz.

Doch unten auf dem Bahnsteig hat jmk, ewiger Bahnfahrer, noch einen Spruch parat. Er schaut missbilligend beim Entwerten zu, sagt: „Django stempelt nicht. Django hat Monatskarte.“

Gute Laune bei der Weiterfahrt. Die ganze Ringbahn-Romantik ist ja schon ansteckend, am Bahnhof „Messe Nord / ICC“ überfällt einen gleich der Gedanke: Wie viel schöner war doch der alte Name. Witzleben! In den Blick komm: das gemeinsame Erlebnis Ringbahn. Die Rituale: Das Wegziehen des Rucksacks vom Nebensitz, wenn sich jemand setzen will. Die stummen Codes. Das Aneinander-vorbei-Starren. Die müde Stille im Feierabendverkehr. Das Abfahrtssignal, unverkennbares „Döö-dööööö-dööp“, verewigt von Elektro-DJ Paul Kalkbrenner im Film „Berlin Calling“. Zurückbleiben bitte, Nostalgie und Spinnereien abschütteln, vorbei geht es am Flaggenmeer der Messe und dem silbernen Kongressding, vorbei am Westkreuz, das ohnehin nur zum Umsteigen taugt. Schnell weiter jetzt! Vorbei an Halensee, Pronto Autoservice, Natursteingalerie, immer neue riesige Brachflächen und das immer neue Staunen darüber, wie viel Platz diese Stadt noch hat.

Die Bahn ist jetzt fast leer. Hohenzollerndamm, Heidelberger Platz, die Häuser verändern sich, werden älter, massiver. Hier hat die Stadt plötzlich Giebel. Bürgerliches Berlin. Vor den wuchtigen Gründerzeitdomizilen, entlang der Stadtautobahn aber auch: endlose Graffiti-Galerien. Fette, bunte Buchstaben, hastig nebeneinandergequetscht. Ringbahn, Abenteuerspielplatz der Heranwachsenden. Das Licht der Öffentlichkeit meidet die Sprayerszene, ist nachtaktiv. „Trainwriting“, das Bemalen von Zügen, das ist das ultimative Wagnis für die Gruppen, es ist gefährlich, die Aktionen in Depots oder auch an Bahnhöfen sind perfekt durchgeplant – wie ein Bankraub. Das Adrenalin ist dabei fast so wichtig wie gute Farbe. Bei Youtube kann man leicht die entsprechenden Videos finden, produziert von den Crews mit narzisstischer Akribie. Üblicher Ablauf: Vermummte Gestalten stürmen aus dem Gleisbett, die Dosen in Umhängetaschen, dann stäubt schon die Farbe, teils beidhändig wird die Grundierung auf die Waggons gemalt. Ein paar Umrisse, fertig. Die Anwesenheit des Zugführers stört keinen. Was soll er machen, allein gegen zehn? Die Crew ist längst weg, bevor die Polizei auftaucht.

Hinter dem Bundesplatz geht es ein Stück hinauf zum Innsbrucker Platz. Der Blick weitet sich. Nie war er bisher größer, der graue Himmel über Berlin. Am Schöneberger Gasometer geht es in sanfter Kurve wieder hinunter, zum Südkreuz, bunte Wände all the way.
Zwischenstopp bei der Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin“

DIE POLIZISTEN

„Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Wenn wir als Uniformierte mal einen Sprüher erwischen, dann sind die schon strunzdoof.“ Ralf Brunner, Bundespolizei-Hauptmeister, Stromberg-Bärtchen, kleine Augen hinter der Brille, sitzt im engen Pausenraum seiner Wache, tief unten im Bahnhof Südkreuz. Zwischenstopp bei der Ordnungsmacht. Kopfschüttelnd setzt Brunner seinen Kaffee ab. „Das sind große Crews, 20 Mann, die gehen in die Bahn rein, texten alles zu, und wenn der Bahner kommt, malen sie den auch noch voll. Die kennen da nichts.“ Die Strecke zwischen Bundesplatz und Ostkreuz, das ist Brunners Revier, und das seines Partners Norman Förster. Der ist im Team der Mann für die lockeren Sprüche. So wie: „Der Beamte wird nach oben mit Mütze begrenzt.“ Allgemeine Heiterkeit.

Weniger Heiterkeit dagegen bei der Jagd auf Sprüher, die erledigen andere, zum Beispiel die Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin“. Brunner und Förster dokumentieren meist nur. „So frech“ seien die Sprayer geworden, sagt Förster, 43, gegelte kurze Haare, breites Lachen, dass sie sogar die Zugkehre direkt neben der Wache bemalten. „Bis wir da sind, haben wir nur noch ein schönes Bild vor uns.“

Ansonsten sind es hauptsächlich „alte Bekannte“, die die beiden auf ihren Einsätzen am südlichen und östlichen Ring treffen, sagen sie, meist jugendliche Mehrfachtäter. „Die diskutieren wahnsinnig gerne.“ Hin und wieder müssen sie auch eine der beliebten Ringbahnpartys auflösen, Bier auf Bollerwagen, ein paar Dutzend Kids, Musik. Der Ring ist eine Szene für sich, unter der Woche Pendlerbahn, an Frei- und Samstagen Partyzug und Club-Zubringer. Ohne Bierflasche in der Hand fällt im Sommer selbst die Zivilstreife auf. Und ab zwei Uhr nachts kommt dann die Zeit einer ganz bestimmten Tätergruppe. „Diebstahl zum Nachteil Schlafender“ heißt es im offiziellen Polizeisprech, wenn die dösenden Helden der Nacht in der Ringbahn ihrer Habseligkeiten beraubt werden. Insgesamt aber sei der Ring sicher. 2012 wurden 3 028 Delikte verzeichnet, davon 634 Diebstähle – bei gut 300 000 Fahrgästen an Werktagen.

Förster und Brunner trinken ihren Kaffee aus großen Tassen und erzählen in entspannter Haltung. Oberboss Joachim Gauck schaut derweil mit mildem Lächeln von der Wand aus zu. Gute Story: wie sie einmal einer abreisenden türkischen Familie den Koffer mit Reisepässen wiedergebracht haben – gefunden von einer türkischen Familie in Neukölln. Oder der liebeskranke Gymnasiast vom Bundesplatz, den sie nach gutem Zureden wieder aus den Gleisen begleiten konnten.

Plötzlich aber sitzen die beiden kerzengerade da, Augen weit offen, und halten sich an den Taschen ihrer Schutzwesten fest. Bedrohung der Gedanken. „Der Tote hier oben“, sagt Förster und senkt den Blick. Letzter Juni, ein Mann springt seinem Rucksack hinterher ins Gleisbett, die einfahrende Ringbahn sieht er nicht. Hilflose Retter. „Der hat geschrien, aber wir konnten auch nichts machen.“ Förster schüttelt den Kopf. „Selbst die Feuerwehr nicht, die haben noch zwei Stunden versucht, ihn zu befreien. Aber die konnten den Zug ja auch nicht wegdrücken.“ Brunner beugt sich wieder nach vorne, sagt: „Man spricht mit anderen darüber, klar. Aber man lässt es nicht an sich heran.“

Oben auf dem Bahnsteig dann, beim Fototermin, rollt ausgerechnet ein zugesprühter Zug hinter den Polizisten ein. Sie können, müssen wieder lachen, besser hätte sich selbst Förster die Pointe nicht ausdenken können.

DER LOKFÜHRER

„Wollen Sie noch mit?“, fragt der Mann im blauen Wollpulli, mit einem Bein im Führerhäuschen, drei rote Streifen auf der Schulterklappe, Mikrofon in der Hand. Begrüßendes Lächeln. Klaus Rühmann, „Baujahr sechsnfuffzich“, aktuell praktischerweise genauso alt, lädt ein in sein zweites Zuhause. Mitfahrt im Führerstand, Baureihe 480, Berlin-West, ausgeliefert 1987. Vor Rühmann: braune Armaturen, runder Tacho, bunte Knöpfe und der doppelte Schubregler in Messing, links Tempo, rechts Bremse. Rühmann, das wird sofort offensichtlich, hat hier ein Zimmer mit Panoramaausblick, kein Vergleich mit den wenigen Fetzen Berlin, die hinten am hundsgewöhnlichen Fahrgast vorbeifliegen. Hier vorne ist der Horizont breit, fast 180 Grad. „Diese Freiheit“, sagt Rühmann und beschleunigt, „das ist es. Ich bin alleine, keiner redet mir rein.“ Nicht dass er ein Eigenbrötler wäre, im Gegenteil. Die täglichen Begegnungen mit den Reisenden sind ihm wichtig. Ein kommunikativer Mensch wie er ist hier richtig. „Wir sind nun mal Dienstleister, schon immer gewesen.“

Auch Eisenbahner war Rühmann schon immer. Mit seinen Geschwistern spielte er Bahnhofsabfertigung, schon als Kind in der zugigen Altbauwohnung in der Hauptstadt der DDR. „Die S-Bahn ist meine S-Bahn, schon immer gewesen“, sagt Rühmann. Er fühlt sich verantwortlich, er ist es. „Deswegen tut mir das in der Seele weh.“ Was? Nun, das, was in diesem Text bisher kaum Thema war: die Verspätungen, die Ausfälle, die Beschwerden. Mit einem Achsbruch ging es im Mai 2009 los, seitdem ist die S-Bahn in der Krise, die Kunden murren, noch immer fahren nicht so viele Züge wie laut Verkehrsvertrag vorgesehen. Für die Zeit ab Dezember 2017 ist das „Teilnetz Ring“, auf dem Lokomotivführer Rühmann gerade mit knapp 70 Sachen unterwegs ist, öffentlich ausgeschrieben. „Ich bin ja selber davon betroffen“, sagt Rühmann über den Ruf der S-Bahn, die einst der Stolz der Berliner war. „Wir machen täglich unsere Arbeit, so gut es geht. Aber wir sind abhängig von anderen. Wir wollen rollen und wir können nicht rollen.“ Das Leiden des Lokführers.

Das Fahren an sich ist immer schon das Gleiche gewesen, links Schub, rechts Bremse, Signale beachten, zurückbleiben bitte, doch drumherum ist alles anders. Als Klaus Rühmann anfing, 1976, war er Angestellter der Reichsbahn und steuerte seine Züge durch ein anderes Land. Leichtere Arbeit damals, mehr Züge, kleinere Strecke, weniger Stress. Klarer sozialistischer Ablauf, Berufsverkehr von fünf bis sieben und wieder von drei bis fünf. „Dann war Ruhe.“

Am weiten, weiten Tempelhofer Feld vorbei rauscht der Zug, auf seinem ewig gleichen und immer anderen Weg, Richtung Neukölln. „Berlins größter Fernsehdienst – durch ihr Vertrauen“: Brandwandwerbung aus einer verlorenen Zeit.

Eines Morgens kommt der DDR-Bürger Rühmann ins Betriebswerk Grünau – und keiner ist da. Alles sitzt in der Kantine, schart sich um einen Kollegen, der neben einem Sixpack Kindl hockt und mit großen Augen von drüben erzählt. „So habe ich mitbekommen, dass die Mauer weg ist“, sagt Rühmann, strahlendes Lachen. „Die Tage und Wochen danach, das war krass, eine tolle Zeit.“ Rund um die Uhr sind sie gefahren, die Züge rappelvoll, die Menschen feierten die Freiheit, die Rühmann da vorne immer schon erahnt hatte.

Nicht alles ist seitdem anders, aber einiges besser geworden. Im totalitären System ging der Einzelne unter. „Wenn du einen überfahren hast, bist du weitergefahren.“ Ihm selbst sei das zum Glück nie passiert. Heute ist Rühmann als Teamleiter verantwortlich für 70 andere Lokführer. Wenn etwas passiert, macht er sich auf den Weg. Wie oft passiert etwas im Jahr? Keine Zahlen von Bahnseite. Von Klaus Rühmann aber jetzt die Versicherung: „Die Kollegen sind nicht alleine.“ Und: „Wir sorgen dafür, dass sie wieder ins Rennen kommen.“

Mit Rühmann vorne im Zug rauscht die Stadt schnell vorbei, 80 Kilometer pro Stunde fährt er jetzt, echte Berliner Geschwindigkeit. „Kennen Sie den Passauer Dom?“ fragt Rühmann, während der Zug am Ostkreuz langsam zum Stehen kommt. „ 500 Jahre Bauzeit – als man vorne fertig war, fing man hinten schon wieder an zu renovieren. Da wird immer ein Baugerüst dranstehen. Das ist für mich Berlin.“ Einen, der noch nie hier war, würde er einfach mitnehmen auf eine Runde, erklärt Rühmann abschließend. „Komm mit!“, würde er sagen. „Ich zeig dir mein Berlin!“

Nur noch das letzte Viertel Ring ist übrig, das Viertel der großen Alleen: Frankfurter, Landsberger, Greifswalder, Prenzlauer, Schönhauser. Vom Friedrichshain hinauf auf den Prenzlauer Berg. Kaputte Baracken, glänzende Hotels, spiegelndes Velodrom. Von den Schlachthöfen an der Storkower Straße ist kaum etwas übrig, wo früher Rinder versteigert wurden, ist nun ein Radhaus. Immer wieder auch die Irren auf den Bahnsteigen. Reden, brabbeln vor sich hin, die hilflos Betrunkenen, am hellichten Tag. Der Ring ist wie ein Magnet für sie, vielleicht, weil er ihrem Leben entspricht. Einsteigen, endlos fahren, und nie ankommen.

Ich zeig dir mein Berlin. Welches Berlin eigentlich – ist das die Frage? Vielleicht aber ist es auch bereits die Antwort. Denn unter Umständen ist ja gerade dies das Besondere: dass jeder sich sein Berlin immer wieder neu erkämpfen kann, neu erkämpfen muss, die Reisenden, stumm oder grölend, missmutig oder ausgelassen, der Lokführer, immer die surrende Freiheit im Kopf, die schunkelnden Party People, die Beamten, die Irren und die Sprayer. Brunner und Förster, Rühmann und jmk. Am Ring kommen sie alle zusammen und trennen sich wieder – Tag für Tag aufs Neue. Wem gehört Berlin, wem gehört der Ring?

Nun, wem nicht?

DER DICHTER

Der Mann in der Daunenjacke, zerzauste blonde Haare, schaut aus eisblauen Augen. „Möchten Sie ein originelles Gedicht hören?“ Omit nennt er sich, „so heißt mein Name rückwärts“, sagt er. Obdachlos ist er nicht, anders als die Motz-Verkäufer, mit denen er meist verwechselt wird. Eine „psychiatrische Vergewaltigung“ hat er dafür hinter sich, wie er sagt, angezettelt vermutlich von seinem Vater, so genau weiß das Omit nicht mehr. Seine kleinen Verse trägt er auf handgeschriebenen Zetteln mit sich. Jeden Tag ist er am Ring unterwegs, morgens halb acht, abends halb acht, obwohl ihn die Bahner nicht haben wollen. Er zahlt die tägliche Verkaufsgebühr von 30 Euro nicht. Doch unverdrossen führt er seinen Kampf gegen die Windmühlen des Alltags, der Vernunft.

Eine junge Frau in dickem Wollschal ist interessiert. „Ich liege neben den Versuchen“, hebt Omit an, „überlebenslang – hinaus, zwischen den Händen und Beinen, meines Tages, ohne Sein. Denn auch dieses Lied ist wie ein Ring, jedes Mal, wenn es gelesen wird, passt es sich perfekt der Situation an.“ Die Frau im Wollschal will nicht zahlen. „Okay, danke“, sagt Omit, lächelt und steht auf. An der Tür kommt sie ihm nach. „Aber du hast voll die schöne Stimme, du solltest Märchenerzähler werden.“ Beim Aussteigen schaut der Dichter prüfend in den Himmel. „Märchenerzähler, warum nicht? Originelle Märchen, ja, vielleicht sollte ich mal Märchen schreiben.“

Abschied von Omit. Am Ende soll es nun noch einmal in die Kneipe gehen. „Molle und Korn 2,50 Euro“, so die klare Ansage auf einer Tafel vor der Gaststätte „Nordring“. Stargarder Straße, Ecke Greifenhagener. Hier hörte der Ostring einst auf. Im Niemandsland zwischen dem S-Bahnhof Schönhauser Allee (DDR) und S-Bahnhof Gesundbrunnen (BRD) kamen fünf Menschen ums Leben. Heute ist alles schön bunt. Eine Eisenbahnerkneipe inmitten von Antikläden, Pizzerien und Babyshops.

Hinter dem Tresen ist das Reich von Heiner, Schnurrbart, Pullover, gerötete Haut. Hinter seinem Rücken das Schild: „Legt euer Geld in Alkohol an – wo sonst gibt es 40 %?“ Gleicher Muff wie in der „Haltestelle“, eine halbe Ringumdrehung weiter westlich. Beruhigend, dass beiderseits der Mauer die gleichen Kneipen überlebt zu haben scheinen. Von den rot-gelben Zügen, die hier an jeder Wand hängen, will Heiner nichts wissen. „Ach, die S-Bahn, die hat ja so viele Minuspunkte, die letzten Jahre waren ja unter aller Sau, na hallo!“ Heiner guckt grimmig. „Nee, mit der S-Bahn hatten wir noch nie was zu tun!“ Warum genau die Kneipe dann heißt, wie sie heißt, und aussieht, wie sie aussieht, ist an diesem Abend nicht mehr herauszufinden. Heiner tanzt lieber zu Nena. „Irgendwie, irgendwo, irgendwann.“ Draußen liegt dunkel die Stadt, und der Barmann bringt es auf den Punkt: „Hauptsache, der Hahn läuft!“

Der Korn verwischt den Rest des Abends. Hassgeliebter Ring, hassgeliebtes Berlin, wieder und wieder aufs Neue, Runde für Runde, jeden Tag. Dies war ein langer. Zeit, nach Hause zu fahren. (Tagesspiegel)

Ick könnt mir dauernd küssen!

Am Anfang steht direkt eines dieser klassischen Berliner Probleme. Den ausgemachten Treffpunkt, das „Süße Café“ in der Grüntaler Straße, gibt es nicht mehr. „Vor sechs Wochen bin ich noch dran vorbeigelaufen“, sagt Steffen Greschner. Kurzes Achselzucken und der schnelle Alternativvorschlag: Die Eckkneipe „Zum Dicken“, 50 Meter weiter. Dort angekommen sagt Greschner: „Genau darum bin ich gerne in Berlin.“ Anfang Januar hat er zusammen mit seiner Mitstreiterin Anja Prüfer das Blog „Unnützes Berlinwissen“ ins Leben gerufen. Die Seite macht sich gut, bei Facebook hat sie nach drei Wochen bereits mehr als 300 „Gefällt mir“-Angaben.

Besucher können sich an kleineren und größeren Geschichten über die Stadt erfreuen, sie lernen zum Beispiel, dass Berlins kleinstes Haus in der Kreuzberger Oranienstraße steht und das Vorbild für das Brandenburger Tor in Athen.

Und dass die Berliner Ortszeit eigentlich 6:22 Minuten hinter der Mitteleuropäischen Zeit hinterherhinkt. Offizielle Selbstbeschreibung der Seite: „Die große Stadt und die vergessenen Geschichten dahinter. Skurriles und Geschichtsträchtiges. Blödsinn und Erstaunliches. Zeug, das keiner wissen wissen muss. Unnütz vielleicht. Berlin eben.“

„Die kleinen, teils amüsanten Geschichten im historischen Kontext“, so fasst Greschner das zusammen, amüsante Zitate sind auch mit dabei. Wie das des Schriftstellers Jean Paul, wonach Berlin „mehr ein Weltteil als eine Stadt“ sei. Am besten beschreiben ließe sich der Inhalt der Seite, sagt Greschner, unter dem Label Kneipenwissen. Das „Wusstest-du-eigentlich?“, wie es tagtäglich auch hier im „Dicken“ im Dunst der Zigaretten ausgetauscht wird.

Das Team steht dabei für die Dualität der Großstadt. Prüfer, 29, ist die Alteingesessene, in Weißensee aufgewachsen, nun Weddingerin. Und Greschner, nun, der kommt ursprünglich aus Stuttgart, was natürlich sofort auch Thema ist. Weil es immer Thema ist. „Es ist nicht böse gemeint“, sagt der 32-Jährige und verdreht die Augen, „aber es nervt, wenn jedes Mal ein Spruch oder ein Witz über die Schwaben kommt.“

Auch aus diesem Grund: Das Blog. „Es ist auch ein Bildungsprojekt“, sagt er. Denn das Attribut „unnütz“ ist natürlich teils ironisiert, wie das in der Generation der beiden unerlässlich ist, damit sich überhaupt jemand dafür interessiert. „Das ist wohl auch so eine Facebook-Sache“, sagt Greschner. „Das leicht Provozierende spricht und zieht die Leute eher an.“

Provozierend scheint auch die Anwesenheit der kleinen Gruppe aus Bloggern, Reporter und Fotograf zu wirken, einer der Stammgäste ruft dazwischen: „Euch Touristen kann er ja knipsen! Aber ich will nicht auf Seite eins landen.“ Wenn das so weitergeht, qualifiziert sich der ältere Herr gleich noch für die Kategorie „Jeplapper“, die den beiden besonders ans Herz gewachsen ist. Dort finden sich typische Altberliner Sprüche. So wie: „Ick find mir hübsch, ick könnt mir dauernd küssen“ oder auch „Lieb mir oder ick zerhack dir die Kommode“. Unwiderlegbar überdies die Weisheit: „Säufste – stirbste. Säufste nich – stirbste ooch. Also säufste.“

Vieles davon stammt aus der lebenslangen Berlin-Erfahrung der Frau im Team, die sagt: „Ich bin ja hier groß geworden, im Spreewasser getauft und so weiter, das meiste kenne ich also selbst.“ Greschner ist in dieser Rubrik eher seliger Empfänger: „Das meiste ist mir neu und ich könnte mich wegpacken.“

Die Berlinerin und der Schwabe, sie ergänzen sich ganz gut. „Er ist immer so korrekt“, flüstert sie, als er von dem Impressum des Blogs erzählt. „Ja, und ich achte auch darauf, dass jedes Foto lizenzfrei ist“, sagt er. Eine Abmahnung über ein paar Hundert Euro könne schließlich schnell das Ende des Spaßprojekts bedeuten. Sicher, irgendwann mal ein paar Euro zu verdienen mit dem „Berlinwissen“, sei keine schlechte Sache. „Vielleicht ein Freitagabend-Kneipentipp für 20 Euro oder einen Abend Bier oder was auch immer“, sagt Greschner.

Doch das alles hat Zeit und die wollen sie ihrer Seite auch geben. „Lieber an den kleinen Punkten genauer hinschauen“, sagt Greschner. „Sonst kommt nur etwas Hektisches heraus. So eine Kneipe wie hier, die sehe ich ja gar nicht, wenn ich nur vorbei hetze zur Haltestelle, zur nächsten Gästeliste.“

Quasi im Vorbeischlendern also stoßen die beiden auf die skurrilsten Fakten. Dass in Reinickendorf Europas größte Fabrik für Fertigpizzen steht, eine halbe Milliarde Euro Jahresumsatz. Und dass Joseph Goebbels und Walter Ulbricht mal gemeinsam auf einer Rednerbühne standen, 1932, beim BVG-Streik, zu dem NSDAP und KPD aufgerufen hatten.

„Schon der Wikipedia-Eintrag über die Kastanienallee gibt drei, vier schöne kleine Geschichten her“, sagt Greschner. „Dass dort beispielsweise die ersten Filmaufnahmen Deutschlands gemacht wurden, weiß wahrscheinlich niemand.“

Am Schluss noch ein Praxistest für die Macher. Klassische Berliner Schule. Wie nützlich ist es zu wissen, an welcher Seite des U-Bahnhofs man aussteigen muss? Prüfer sagt schnell: „Ist doch egal, ob man den Weg vorher oder hinterher läuft.“ Greschner widerspricht: „Wenn ich nach Hause fahre, lauf ich immer vorher schon dorthin, wo ich raus muss.“ Verblüffend: Der Schwabe als besserer Berliner, wer hätte das gedacht! (Tagesspiegel)

Manne (5 Minuten Stadt)

Zum Fototermin in eine Eckkneipe in Wedding. Kippenmuff, grau gerauchte Spitzengardinen. Die Stammgäste schauen von ihren Biertulpen auf. Irritierte Blicke, Gemurmel. Die Wirtin aber gibt ihr O.K.: „Klar könnt ihr knipsen.“ Der Fotograf baut seine Blitze auf, drapiert die beiden jungen Berliner, die abgelichtet werden sollen, um einen Holztisch. Es blitzt. Einmal, zweimal. „Hört sofort auf damit!“, kommt es aus der Ecke. Ein weißhaariger Mann sitzt mit weit aufgerissenen Augen auf seinem Stuhl und schreit: „Lasst diese Scheißfotografiererei, ick kann ditt nich ab.“ Er befiehlt seinem Dackel, die ungebetenen Gäste zu beißen, der Dackel dreht sich im Kreis.

Verwirrter harmloser Dackel. Harmloser alter Mann. Doch die Wirtin schreitet ein: „Manne, sei still jetzt!“ Manne sagt erst mal nichts mehr. Dann kommen wieder die Blitze. Zack, Zack, Zack. „Nein! Nicht! Die Gammastrahlung! Hört auf!“ Manne hält sich den Unterarm vors Gesicht. Wütende Wirtin: „Manne, halt deine Fresse!“ Und in die andere Richtung: „Gestern ging er noch.“ Manne sitzt, schweigt und schaut aus großen Augen. Er sieht traurig aus. Das Shooting ist vorbei. Plötzlich steht Manne am Tisch. „Nüscht für unjut“, sagt er, nun ganz ruhig, „aber ich lass mich nicht gern fotografieren.“ Kein Problem, keiner nimmt es ihm übel. Manne sagt: „Ich war 15 Jahre Aufseher in Bautzen. Kennt ihr bestimmt gar nicht mehr. Wie? Na ja, ja, hängt mir bis heute nach, könnt ihr mir glauben. Also, nüscht für unjut.“ (Der Tagesspiegel)

Goldringe am Boden

„Fünf Minuten Stadt“ (Tagesspiegel)

Der Weg zum Bargeld macht Frieren, bitterer Wintermorgen. Der Wind jagt die leere Torstraße in Mitte hinauf. Tür auf zum Vorraum der Bank. Hier drinnen: volles Haus, Nachtlager der Obdachlosen. Ein Mann mit St.-Pauli-Kutte sitzt auf den Steinstufen, neben ihm schläft ein anderer mit auf die Brust gesunkenem Kopf, hinter den beiden noch zwei volle Schlafsäcke. Am Automaten: eine Frau mit Perlen im Haar. Der Mann mit der Kutte, schleppende Sprache der Betrunkenen, will von ihr wissen, wo sie herkommt. Sie zögert, schweigt. Sagt dann: „Karibik! Trinidad and Tobago.“ Er nickt, wie in Zeitlupe. Die Frau dreht sich zum Automaten, dann abrupt wieder zurück.

„But why?“, fragt sie, etwas lauter als zuvor, in seine Richtung. „Warum?“ Er versteht die Frage nicht. „Why you doing this?!“ Sie klingt nun ehrlich entsetzt, schaut sich um, deutet mit der Hand zu den Schlafsäcken. Er schaut sie mit leeren Augen an. „Why you sleeping-on-this-floor?!“ Sie geht schreiend in die Knie, hämmert bei jeder Silbe ihre Fingerknöchel auf den Steinboden. Goldringe klackern. Sie lässt ihn nicht antworten, er versucht es auch kaum. „Warum kein Geld von Jobcenter?! Du! He?!“, schreit sie, gestikuliert mit der einen Hand und hämmert mit der anderen wild auf den Automaten ein, der rattert und ein paar Scheine ausspuckt. Sie hält sich den Zeigefinger quer unter die Nase. „Oh my God. You people make me sick.“ Dann stößt sie die Tür auf, weinend, und die eisige Kälte der Stadt pfeift herein.

Das Ballett der Bäuche

– Ein Besuch beim Altherren-Fußballturnier in der Schmeling-Halle

Es ist immer das Gleiche mit den Fußballern. Sie wollen einfach nicht altern. Klar ist das eine oder andere Bäuchlein zu entdecken, bei Guido Buchwald etwa oder Peter Wynhoff, aber die Bewegungsabläufe sind die selben. Vielleicht will man aber in den Ex-Profis, die unter dem Namen eines Stromanbieters und dem Motto „Fußball-Legenden live erleben“ am Samstag in der Max-Schmeling-Halle aufdribbelten, auch nur die Panini-Helden von einst wiedererkennen.

Und so mag Jörg „Ali“ Albertz zwar ein paar Falten mehr im Gesicht haben, er ist aber immer noch das gleiche rothaarige Kraftpaket, das in den Stadien zwischen Glasgow und Gladbach den Freistoßhammer auspackte.

Damit das Deja-vu perfekt wird, ist auch die Musik altbekannt und altbewährt. Vom Band singen Opus „Live is life“ und Altkanzler Gerhard Schröder fordert unaufhörlich eine Flasche Bier. Auch hier also: Das gleiche Lied.

Hertha und Union sind natürlich am Start, zugereist sind außerdem der spätere Turniersieger Bayer Leverkusen, Borussia Mönchengladbach, der VfB Stuttgart und Real Madrid. Eine hochkarätige Mannschaft aus dem Ausland dabei zu haben, die auch einen gepflegten Ball spielen könne, sei wichtig, sagt Bernd Schultz, der als Präsident des Berliner Fußball-Verbands offizieller Veranstalter ist. Bis 1997, als die goldene Zeit des Hallenfußballs mit der letzten Austragung des DFB-Hallenmasters endete, fand Jahr für Jahr auch das Turnier in der Deutschlandhalle statt. Dann wurde die Winterpause kürzer, und die Klubs hatten keine Zeit mehr für Qualifikationsturniere, in denen sie zwischen Oldenburg und Karlsruhe, Schwerin und Krefeld den wertvollen Punkten hinterherhetzten.

Nun, 16 Jahre später, stehen die gleichen Fußballer im Rampenlicht. Immer noch, immer wieder. In der zum dritten Mal nacheinander ausverkauften Halle. Und die Delegation des spanischen Rekordmeisters nimmt die Sache wirklich ernst, sie begeht vorab den Kunstrasen mit einer Akribie, als stünde die alles entscheidende Meisterschafts-Partie an. „Die Mischung aus Show und Sport findet Geschmack“, sagt Schultz. Und Dariusz Wosz, Prototyp der Zaubermaus, pflichtet bei. „Klar ist auch Ehrgeiz dabei“, sagt der heutige Bochumer A-Jugend-Coach, „aber nicht mit aller Macht. Ich hab’ ja keinen Bock, mich zu verletzen!“ Mit Wosz im Team: Ante Covic, Pal Dardai, die Schmidt-Brüder und der ewig bissige Andreas Neuendorf. „Zecke! Zecke!“, schreit der Hertha-Block.

Das Derby zwischen Hertha und Union gibt es gleich zweimal

Union-Keeper Oskar Kosche hat derweil andere Probleme: „Ich bin froh, wenn ich am Leben bleibe“, sagt er. Und lacht. „Die Devise heißt: Kontrollierter Einsatz. Aber blamieren will sich auch keiner.“ Genau das aber passiert ihm dann – ausgerechnet im Derby. Beim bitteren 4:8 in der Vorrunde muss Kosche in der ersten Hälfte gleich fünfmal den Ball aus dem Netz fischen. Wosz spielt ganz groß auf, schießt vier wunderschöne Tore. „Oh, wie ist das schön!“, singt der Hertha-Block und tanzt zur Atzenmusik. Allerdings revanchieren sich die Köpenicker später beim 3:2-Sieg im Spiel um Platz drei.

Nach schleppendem Beginn geht es endlich etwas höher her auf dem Kunstrasen, immer wieder knallt der Ball ins Netz oder ans Aluminium. „Mann, was für Scharfschützen“, urteilt Leverkusens Mike Rietpietsch, gespielt genervt, und Stefan Beinlich nickt. Bei Real Madrid gehört der prominenteste Name Michel Salgado. Die Haare sind noch so lang und blond wie eh und je, die Begrüßung von Gladbachs Oliver Neuville herzlich. Man kennt sich, aus dem Champions-League-Finale 2002.

„Legenden, das ist immer ein großes Wort, aber der Bedarf an hochqualifiziertem Hallenfußball ist auf jeden Fall vorhanden“, sagt BFV-Präsident Schultz. „Die Hallenatmosphäre, der Kontakt zu den Spielern“ seien beliebt bei den Leuten. Die Fans kommen ihren Lieblingen so nahe wie selten. Bernd Schneider, noch so eine Zaubermaus, schreibt lässig Autogramme, während ihm der Schweiß übers Gesicht rinnt und der obligate Brilli im Licht der Scheinwerfer funkelt wie wild.

Schon eine gute Stunde vor Beginn sind sie die Gleimstraße heruntergeströmt, Herthaner und Unioner. Letztere haben lange gute Laune. „Alte Försterei“-Rufe. Man fühlt sich wie zuhause. Es ist in erster Linie eine Berliner Veranstaltung, selbst Leverkusen hat ja in Stefan „Paule“ Beinlich und Carsten Ramelow zwei ehemalige Berliner mitgebracht. Beim erstmaligen Teilnehmer VfB Stuttgart ist neben Weltmeister „Diego“ Buchwald in Krassimir Balakow immerhin ein beziehungsweise zwei Schenkel des legendären magischen Dreiecks von einst gekommen. Fredi Bobic hat kurzfristig abgesagt, und Giovane Elber, nun, der ist mittlerweile Rinderzüchter in seiner Heimat Brasilien. (Tagesspiegel Sport)

Zu Gast in Schwabylon

– Beim Weckenbäcker gibt es alles – außer Zuzügler (Tagesspiegel)

Am Türknauf krallen sich zwei Löwen in einer Brezel fest. Neben dem Eingang prangt die Angebotstafel: „Neu! Chai Latte, 2,- EUR“. Prenzlbergiger geht nicht. Und schwäbischer auch nicht.

„Schwäbische Bäckerei“ steht schlicht über der hohen Fensterfront, Prenzlauer Allee Ecke Danziger Straße, Einflugschneise der Zugezogenen, nur ein paar Straßen liegen Helmholtz- und Kollwitzplatz, die pulsierenden Herzen des sagenumwobenen Schwabylon, auseinander. Kein Wunder, dass Wolfgang Thierse es hier kaum noch auszuhalten scheint. Jetzt haben sie schon ihre eigenen Backstuben.

„Hallo.“ Die junge Verkäuferin ist allein. Um sie herum: weiße Wände mit rosa Bordüren, gekachelter Boden, eine große gläserne Auslage mit marmoriertem Umlauf.

Darunter die Backwaren. Auf den Plastikschildchen: Nußschnecke (mit ß), Schweinohr (ohne e), Kameruner, Kirschplunder, Käsekuchen. Schwäbische Bäckerei? Gibt es denn hier auch was Schwäbisches? „Ja“, sagt die Bäckersfrau und zeigt auf ein kleines Brötchen. „Schwabenecke“ steht da. Eine Art Schrippe, sie sieht etwas verschrumpelt aus.

Badisches Brot weiß die Verkäuferin noch anzupreisen, „ist etwas würziger im Geschmack“. Ob sie selbst aus Schwaben kommt? „Nein, aus Lichtenberg.“ Und der Besitzer, ist der Schwabe? „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er mehrere Sprachen spricht.“ Wer weiß, vielleicht ist ja auch Schwäbisch darunter. Darauf erst mal einen Chai Latte, bitte!

Die Filiale versprüht Tchibo-Charme. Kleine runde Tischchen mit roten Plastikdecken, Topfprimeln aus Plastik. Auf den Ablagen rote Servietten, ein Aufkleber mit zwei grinsenden Pfannkuchen: „Echt heiß… Wir haben in Biskin gebadet.“ So stellt man sich gemeinhin eine Bäckerei vor – eine gute, alte Berliner Bäckerei.

Draußen rauscht hektisch die Stadt vorbei, auf dem Rad, im Auto oder in der Tram. Hier drinnen: gähnende Leere. Wo sind die Kunden, die hungrigen Schwaben? „Normaler Andrang“, sagt die Bäckersfrau. Der Chai Latte ist schon halb leer, da kommt endlich einer. „Zehn Schrippen, bitte.“ Wie bitte? Entschuldigung, wo kommen Sie her? „Na, Berlin, sehense doch.“ Die Frage nach Wolfgang Thierse schneidet der Mann gleich ab. „Hören Sie mir auf mit die Politiker“, brummt er, der Berliner reinen Wassers, winkt ab und ist schon durch die Tür verschwunden.

Der Chai Latte ist leer. Wo sind die Kinderwagen-Muttis, die stark schwäbelnd ihre Weckle bestellen, wo die schnöseligen Stuttgarter, die den armen Hartz-IV-Berliner in die Randbezirke verdrängen? Da steht er plötzlich da: Daunenjacke, Röhrenjeans, Dreitagebart, das ist er, das muss er sein, der Pornohippieschwabe. Klassische Ausfertigung. Und bestellt auch gleich drei Schwabenecken. Kurze Zwischenfrage: Sie sind Schwabe, oder? Der Mann mit der Mütze lächelt. „Nein, aus Thüringen.“ Und die Schwabenecke? „Na, die könnte ja auch ‚Berliner Ecke‘ heißen, ich kauf die nur, weil sie schmeckt.“ Immerhin kennt der Mann ein paar Schwaben: „Jaja, aber keine, die in Berlin wohnen.“

Wir verlassen die „Schwäbische Bäckerei“. Mit der Hand am Messinglöwen ein letzter Gedanke: Der Berliner Schwabe ist, wenn es ihn hier in dieser Gegend gibt, einen Tag nach Neujahr wohl noch zu Hause bei Familie und alten Freunden, in Esslingen oder Obertürkheim, er sitzt allenfalls im ICE zurück in die Wahlheimat. Oder er kauft seine Weckle bei Kamps.