Auf dem Weg über die Swinemünder Brücke kommen, langsamen Schrittes, die Zweifel. Eine Geschichte über die Ringbahn? Ehrlich? Im Kreis fahren, von A nach A also, ganz gemütlich, wenn jeder von A nach B hetzt? Nicht ankommen wollen, wo jeder doch gerade ankommen will? Eine Strecke so fahren, wie es sie eigentlich gar nicht gibt, weil sie niemand so erlebt: Den Ring einmal komplett – wer macht das schon, außer betrunkenen Kids in der Nacht zu Sonntag? Jetzt ist Berufsverkehr. Einsteigen, losfahren, aus dem Fenster schauen, zwischendurch immer mal wieder aussteigen.
Ein unzeitgemäßes, vielleicht absurdes Vorhaben. Einmal herum, eine Stunde, 37 Kilometer, 27 Bahnhöfe, sieben Bezirke. Eine Runde Berlin, gegen den Uhrzeigersinn.
Gleich zu Beginn wird es hässlich. Eingequetscht zwischen zwei Einkaufszentren bietet der Bahnhof Gesundbrunnen wenig mehr als Stein gewordene Zweckmäßigkeit. Ein Eingangsgebäude soll demnächst endlich hinzukommen, das Baugerüst steht schon, zuvor hatte sich nur ein mickriger roter Service-Bungalow auf dem Vorplatz verloren. Aber egal, auf, hinein!
„S 42 Richtung Ring, zurückbleiben bitte!“ Türen schließen. Destination: Wedding. Hier oben, zwischen Westhafen und Schönhauser Allee fand 2002 wieder zusammen, was die Mauer einst getrennt hatte. Zum „Ringschluss am Wedding-Day“ rückte die gesamte Berliner Prominenz an. Strahlender Klaus Wowereit. Ewig her. Längst gähnt wieder der Alltag im alten Arbeiterbezirk. Missmutige Gesichter beim Ein- und Aussteigen. Der Blick die Müllerstraße hinunter zeigt drei ewig rote Buchstaben. S. P. D. Kurt-Schumacher-Haus. Ein steinernes Relikt. Die Partei, die hier einst 70 Prozent und mehr einfuhr, haben bei der letzten Abgeordnetenhauswahl, Stimmbezirk 431, von 1 081 Wahlberechtigten noch ganze 91 gewählt.
Keine Zeit für Politik. Nach Ring, zurückbleiben bitte. Mütze aus, Schal lockern, warm werden. Einen ganz eigenen Geruch hat sie, diese S-Bahn, metallen, ein bisschen säuerlich auch, nicht zu verwechseln mit der muffig-warmen U-Bahn. A propos U-Bahn: Heller ist es hier als dort, weiter auch, man hat mehr Platz, und, klar, mehr Aussicht. Über Westhafen und Beusselstraße geht es zur Jungfernheide. Es dominieren große Flächen, hier wird gearbeitet statt gewohnt. Hellweg, Bühnenverleih, Güterwaggons. In der Wellblechwelt ein bisschen alter Backsteinprunk. Behala Westhafen, Gewerbelinie Ring. Beim Halt in Jungfernheide meint man, den Zug schnaufen zu hören. Großes Umsteigen, U7, nach Spandau und Rudow. Dann geht’s nach Süden, scharfe Linkskurve, und rechts tauchen die Märchentürme der Westend-Kliniken auf.
DER RINGBAHN-ROMANTIKER
Als erster Treffpunkt ist gewählt: der S-Bahnhof Westend, Spandauer Damm, Ausfallschneise, irgendwo zwischen Schloss Charlottenburg und Ikea. „Ich war immer ein Liebhaber der Verkehrsmittel“, sagt Jürgen Meyer-Kronthaler. Seit 25 Jahren schreibt der ehemalige Rias- und heutige Deutsche-Welle-Redakteur, „kurz jmk“, für die „Berliner Verkehrsblätter“, kurz „BV“. Eine der zwei großen Liebhaber-Zeitschriften im Berliner Raum. Im Ostteil sind zu Mauerzeiten noch die „Verkehrsgeschichtlichen Blätter“ entstanden, kurz „VB“. Für den Laien kaum zu unterscheiden. Im Lokal „Zur Haltestelle“ trinkt man Schultheiss vom Fass. Das Interieur: Asbach-Uralt-Leuchtreklame, Holzvertäfelung, Wagenrad-Kronleuchter, dunkle Gemälde in Goldrahmen. Unter der Decke: Rettungsring, Fischernetz und Gitarre – Freddy-Quinn-Ensemble. Hinterlegt ist das alles mit 105,5 Spreeradio. Wir sind, kurz gesagt, in einem dieser großartigen Altberliner Saufläden.
Das Leben von Meyer-Kronthaler, Jahrgang 1950, große randlose Brille, Seitenscheitel, Sakko über Pullunder über Hemd, ist ein Leben in und mit der Bahn. Erster Bänderriss, Ehrensache, beim Abspringen vom fahrenden Zug. Gute, alte Zeit. Meyer-Kronthaler erzählt von früher. Von den Knutschtouren der Nachkriegszeit, als Pärchen sich in die meist leeren Mutter-Kind-Abteile verkrochen. Von seinem Heimatbahnhof, Halensee, der früher noch so einen schönen großen Glasvorbau hatte. Und vom ursprünglichen Namen: „SS-Bahn!“, sagt Meyer-Kronthaler und lehnt sich zurück. Klug gesetzte Kunstpause. „Kurz für Stadtschnellbahn.“ Puh. Das alte Kürzel spuckte der Volksmund im Laufe der Vierziger recht schnell wieder aus. Darauf ein großer Schluck.
„Können Sie mal die Luft aus den Gläsern lassen?“ Schwieriges Thema jetzt: die S-Bahn nach dem Krieg. „Schon allein aus Daffke hab ich die genommen“, sagt Meyer-Kronthaler. Denn die Elterngeneration boykottierte „Ulbrichts Stacheldrahtbahn“ nach 1961. Betrieben wurde sie weiterhin von der Reichsbahn, gefahren von linientreuen DDR-Bürgern. Die S-Bahn, ein Kuriosum des Kalten Kriegs: „Ein maroder, rumpelnder, total überalterter Wagenpark“, sagt Meyer-Kronthaler. Als die Stones-Fans 1965 die Waldbühne verwüsten, werden auf der Heimfahrt die Züge gleich mit zerlegt. „Die S-Bahn war Freiwild, da war viel Kalter Krieg dabei auf beiden Seiten. Jeder Gullydeckel war politisch.“
Die während der Teilung verfallenen Ringbahnhöfe wurden nach 1990 Stück um Stück wieder aufgebaut, die Strecken saniert. Trotz der andauernden S-Bahn-Krise, die auch Meyer-Kronthaler alias jmk in seiner Zeitschrift kritisch begleitet, ein versöhnliches Fazit vom Liebhaber: „Die Ringbahn ist doch ein wunderbares Symbol für die Vereinigung. Die Menschen in Ost und West haben in den gleichen Zügen gesessen. Es war ihre gemeinsame S-Bahn.“ Schöner Schlusssatz.
Doch unten auf dem Bahnsteig hat jmk, ewiger Bahnfahrer, noch einen Spruch parat. Er schaut missbilligend beim Entwerten zu, sagt: „Django stempelt nicht. Django hat Monatskarte.“
Gute Laune bei der Weiterfahrt. Die ganze Ringbahn-Romantik ist ja schon ansteckend, am Bahnhof „Messe Nord / ICC“ überfällt einen gleich der Gedanke: Wie viel schöner war doch der alte Name. Witzleben! In den Blick komm: das gemeinsame Erlebnis Ringbahn. Die Rituale: Das Wegziehen des Rucksacks vom Nebensitz, wenn sich jemand setzen will. Die stummen Codes. Das Aneinander-vorbei-Starren. Die müde Stille im Feierabendverkehr. Das Abfahrtssignal, unverkennbares „Döö-dööööö-dööp“, verewigt von Elektro-DJ Paul Kalkbrenner im Film „Berlin Calling“. Zurückbleiben bitte, Nostalgie und Spinnereien abschütteln, vorbei geht es am Flaggenmeer der Messe und dem silbernen Kongressding, vorbei am Westkreuz, das ohnehin nur zum Umsteigen taugt. Schnell weiter jetzt! Vorbei an Halensee, Pronto Autoservice, Natursteingalerie, immer neue riesige Brachflächen und das immer neue Staunen darüber, wie viel Platz diese Stadt noch hat.
Die Bahn ist jetzt fast leer. Hohenzollerndamm, Heidelberger Platz, die Häuser verändern sich, werden älter, massiver. Hier hat die Stadt plötzlich Giebel. Bürgerliches Berlin. Vor den wuchtigen Gründerzeitdomizilen, entlang der Stadtautobahn aber auch: endlose Graffiti-Galerien. Fette, bunte Buchstaben, hastig nebeneinandergequetscht. Ringbahn, Abenteuerspielplatz der Heranwachsenden. Das Licht der Öffentlichkeit meidet die Sprayerszene, ist nachtaktiv. „Trainwriting“, das Bemalen von Zügen, das ist das ultimative Wagnis für die Gruppen, es ist gefährlich, die Aktionen in Depots oder auch an Bahnhöfen sind perfekt durchgeplant – wie ein Bankraub. Das Adrenalin ist dabei fast so wichtig wie gute Farbe. Bei Youtube kann man leicht die entsprechenden Videos finden, produziert von den Crews mit narzisstischer Akribie. Üblicher Ablauf: Vermummte Gestalten stürmen aus dem Gleisbett, die Dosen in Umhängetaschen, dann stäubt schon die Farbe, teils beidhändig wird die Grundierung auf die Waggons gemalt. Ein paar Umrisse, fertig. Die Anwesenheit des Zugführers stört keinen. Was soll er machen, allein gegen zehn? Die Crew ist längst weg, bevor die Polizei auftaucht.
Hinter dem Bundesplatz geht es ein Stück hinauf zum Innsbrucker Platz. Der Blick weitet sich. Nie war er bisher größer, der graue Himmel über Berlin. Am Schöneberger Gasometer geht es in sanfter Kurve wieder hinunter, zum Südkreuz, bunte Wände all the way.
Zwischenstopp bei der Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin“
DIE POLIZISTEN
„Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Wenn wir als Uniformierte mal einen Sprüher erwischen, dann sind die schon strunzdoof.“ Ralf Brunner, Bundespolizei-Hauptmeister, Stromberg-Bärtchen, kleine Augen hinter der Brille, sitzt im engen Pausenraum seiner Wache, tief unten im Bahnhof Südkreuz. Zwischenstopp bei der Ordnungsmacht. Kopfschüttelnd setzt Brunner seinen Kaffee ab. „Das sind große Crews, 20 Mann, die gehen in die Bahn rein, texten alles zu, und wenn der Bahner kommt, malen sie den auch noch voll. Die kennen da nichts.“ Die Strecke zwischen Bundesplatz und Ostkreuz, das ist Brunners Revier, und das seines Partners Norman Förster. Der ist im Team der Mann für die lockeren Sprüche. So wie: „Der Beamte wird nach oben mit Mütze begrenzt.“ Allgemeine Heiterkeit.
Weniger Heiterkeit dagegen bei der Jagd auf Sprüher, die erledigen andere, zum Beispiel die Ermittlungsgruppe „Graffiti in Berlin“. Brunner und Förster dokumentieren meist nur. „So frech“ seien die Sprayer geworden, sagt Förster, 43, gegelte kurze Haare, breites Lachen, dass sie sogar die Zugkehre direkt neben der Wache bemalten. „Bis wir da sind, haben wir nur noch ein schönes Bild vor uns.“
Ansonsten sind es hauptsächlich „alte Bekannte“, die die beiden auf ihren Einsätzen am südlichen und östlichen Ring treffen, sagen sie, meist jugendliche Mehrfachtäter. „Die diskutieren wahnsinnig gerne.“ Hin und wieder müssen sie auch eine der beliebten Ringbahnpartys auflösen, Bier auf Bollerwagen, ein paar Dutzend Kids, Musik. Der Ring ist eine Szene für sich, unter der Woche Pendlerbahn, an Frei- und Samstagen Partyzug und Club-Zubringer. Ohne Bierflasche in der Hand fällt im Sommer selbst die Zivilstreife auf. Und ab zwei Uhr nachts kommt dann die Zeit einer ganz bestimmten Tätergruppe. „Diebstahl zum Nachteil Schlafender“ heißt es im offiziellen Polizeisprech, wenn die dösenden Helden der Nacht in der Ringbahn ihrer Habseligkeiten beraubt werden. Insgesamt aber sei der Ring sicher. 2012 wurden 3 028 Delikte verzeichnet, davon 634 Diebstähle – bei gut 300 000 Fahrgästen an Werktagen.
Förster und Brunner trinken ihren Kaffee aus großen Tassen und erzählen in entspannter Haltung. Oberboss Joachim Gauck schaut derweil mit mildem Lächeln von der Wand aus zu. Gute Story: wie sie einmal einer abreisenden türkischen Familie den Koffer mit Reisepässen wiedergebracht haben – gefunden von einer türkischen Familie in Neukölln. Oder der liebeskranke Gymnasiast vom Bundesplatz, den sie nach gutem Zureden wieder aus den Gleisen begleiten konnten.
Plötzlich aber sitzen die beiden kerzengerade da, Augen weit offen, und halten sich an den Taschen ihrer Schutzwesten fest. Bedrohung der Gedanken. „Der Tote hier oben“, sagt Förster und senkt den Blick. Letzter Juni, ein Mann springt seinem Rucksack hinterher ins Gleisbett, die einfahrende Ringbahn sieht er nicht. Hilflose Retter. „Der hat geschrien, aber wir konnten auch nichts machen.“ Förster schüttelt den Kopf. „Selbst die Feuerwehr nicht, die haben noch zwei Stunden versucht, ihn zu befreien. Aber die konnten den Zug ja auch nicht wegdrücken.“ Brunner beugt sich wieder nach vorne, sagt: „Man spricht mit anderen darüber, klar. Aber man lässt es nicht an sich heran.“
Oben auf dem Bahnsteig dann, beim Fototermin, rollt ausgerechnet ein zugesprühter Zug hinter den Polizisten ein. Sie können, müssen wieder lachen, besser hätte sich selbst Förster die Pointe nicht ausdenken können.
DER LOKFÜHRER
„Wollen Sie noch mit?“, fragt der Mann im blauen Wollpulli, mit einem Bein im Führerhäuschen, drei rote Streifen auf der Schulterklappe, Mikrofon in der Hand. Begrüßendes Lächeln. Klaus Rühmann, „Baujahr sechsnfuffzich“, aktuell praktischerweise genauso alt, lädt ein in sein zweites Zuhause. Mitfahrt im Führerstand, Baureihe 480, Berlin-West, ausgeliefert 1987. Vor Rühmann: braune Armaturen, runder Tacho, bunte Knöpfe und der doppelte Schubregler in Messing, links Tempo, rechts Bremse. Rühmann, das wird sofort offensichtlich, hat hier ein Zimmer mit Panoramaausblick, kein Vergleich mit den wenigen Fetzen Berlin, die hinten am hundsgewöhnlichen Fahrgast vorbeifliegen. Hier vorne ist der Horizont breit, fast 180 Grad. „Diese Freiheit“, sagt Rühmann und beschleunigt, „das ist es. Ich bin alleine, keiner redet mir rein.“ Nicht dass er ein Eigenbrötler wäre, im Gegenteil. Die täglichen Begegnungen mit den Reisenden sind ihm wichtig. Ein kommunikativer Mensch wie er ist hier richtig. „Wir sind nun mal Dienstleister, schon immer gewesen.“
Auch Eisenbahner war Rühmann schon immer. Mit seinen Geschwistern spielte er Bahnhofsabfertigung, schon als Kind in der zugigen Altbauwohnung in der Hauptstadt der DDR. „Die S-Bahn ist meine S-Bahn, schon immer gewesen“, sagt Rühmann. Er fühlt sich verantwortlich, er ist es. „Deswegen tut mir das in der Seele weh.“ Was? Nun, das, was in diesem Text bisher kaum Thema war: die Verspätungen, die Ausfälle, die Beschwerden. Mit einem Achsbruch ging es im Mai 2009 los, seitdem ist die S-Bahn in der Krise, die Kunden murren, noch immer fahren nicht so viele Züge wie laut Verkehrsvertrag vorgesehen. Für die Zeit ab Dezember 2017 ist das „Teilnetz Ring“, auf dem Lokomotivführer Rühmann gerade mit knapp 70 Sachen unterwegs ist, öffentlich ausgeschrieben. „Ich bin ja selber davon betroffen“, sagt Rühmann über den Ruf der S-Bahn, die einst der Stolz der Berliner war. „Wir machen täglich unsere Arbeit, so gut es geht. Aber wir sind abhängig von anderen. Wir wollen rollen und wir können nicht rollen.“ Das Leiden des Lokführers.
Das Fahren an sich ist immer schon das Gleiche gewesen, links Schub, rechts Bremse, Signale beachten, zurückbleiben bitte, doch drumherum ist alles anders. Als Klaus Rühmann anfing, 1976, war er Angestellter der Reichsbahn und steuerte seine Züge durch ein anderes Land. Leichtere Arbeit damals, mehr Züge, kleinere Strecke, weniger Stress. Klarer sozialistischer Ablauf, Berufsverkehr von fünf bis sieben und wieder von drei bis fünf. „Dann war Ruhe.“
Am weiten, weiten Tempelhofer Feld vorbei rauscht der Zug, auf seinem ewig gleichen und immer anderen Weg, Richtung Neukölln. „Berlins größter Fernsehdienst – durch ihr Vertrauen“: Brandwandwerbung aus einer verlorenen Zeit.
Eines Morgens kommt der DDR-Bürger Rühmann ins Betriebswerk Grünau – und keiner ist da. Alles sitzt in der Kantine, schart sich um einen Kollegen, der neben einem Sixpack Kindl hockt und mit großen Augen von drüben erzählt. „So habe ich mitbekommen, dass die Mauer weg ist“, sagt Rühmann, strahlendes Lachen. „Die Tage und Wochen danach, das war krass, eine tolle Zeit.“ Rund um die Uhr sind sie gefahren, die Züge rappelvoll, die Menschen feierten die Freiheit, die Rühmann da vorne immer schon erahnt hatte.
Nicht alles ist seitdem anders, aber einiges besser geworden. Im totalitären System ging der Einzelne unter. „Wenn du einen überfahren hast, bist du weitergefahren.“ Ihm selbst sei das zum Glück nie passiert. Heute ist Rühmann als Teamleiter verantwortlich für 70 andere Lokführer. Wenn etwas passiert, macht er sich auf den Weg. Wie oft passiert etwas im Jahr? Keine Zahlen von Bahnseite. Von Klaus Rühmann aber jetzt die Versicherung: „Die Kollegen sind nicht alleine.“ Und: „Wir sorgen dafür, dass sie wieder ins Rennen kommen.“
Mit Rühmann vorne im Zug rauscht die Stadt schnell vorbei, 80 Kilometer pro Stunde fährt er jetzt, echte Berliner Geschwindigkeit. „Kennen Sie den Passauer Dom?“ fragt Rühmann, während der Zug am Ostkreuz langsam zum Stehen kommt. „ 500 Jahre Bauzeit – als man vorne fertig war, fing man hinten schon wieder an zu renovieren. Da wird immer ein Baugerüst dranstehen. Das ist für mich Berlin.“ Einen, der noch nie hier war, würde er einfach mitnehmen auf eine Runde, erklärt Rühmann abschließend. „Komm mit!“, würde er sagen. „Ich zeig dir mein Berlin!“
Nur noch das letzte Viertel Ring ist übrig, das Viertel der großen Alleen: Frankfurter, Landsberger, Greifswalder, Prenzlauer, Schönhauser. Vom Friedrichshain hinauf auf den Prenzlauer Berg. Kaputte Baracken, glänzende Hotels, spiegelndes Velodrom. Von den Schlachthöfen an der Storkower Straße ist kaum etwas übrig, wo früher Rinder versteigert wurden, ist nun ein Radhaus. Immer wieder auch die Irren auf den Bahnsteigen. Reden, brabbeln vor sich hin, die hilflos Betrunkenen, am hellichten Tag. Der Ring ist wie ein Magnet für sie, vielleicht, weil er ihrem Leben entspricht. Einsteigen, endlos fahren, und nie ankommen.
Ich zeig dir mein Berlin. Welches Berlin eigentlich – ist das die Frage? Vielleicht aber ist es auch bereits die Antwort. Denn unter Umständen ist ja gerade dies das Besondere: dass jeder sich sein Berlin immer wieder neu erkämpfen kann, neu erkämpfen muss, die Reisenden, stumm oder grölend, missmutig oder ausgelassen, der Lokführer, immer die surrende Freiheit im Kopf, die schunkelnden Party People, die Beamten, die Irren und die Sprayer. Brunner und Förster, Rühmann und jmk. Am Ring kommen sie alle zusammen und trennen sich wieder – Tag für Tag aufs Neue. Wem gehört Berlin, wem gehört der Ring?
Nun, wem nicht?
DER DICHTER
Der Mann in der Daunenjacke, zerzauste blonde Haare, schaut aus eisblauen Augen. „Möchten Sie ein originelles Gedicht hören?“ Omit nennt er sich, „so heißt mein Name rückwärts“, sagt er. Obdachlos ist er nicht, anders als die Motz-Verkäufer, mit denen er meist verwechselt wird. Eine „psychiatrische Vergewaltigung“ hat er dafür hinter sich, wie er sagt, angezettelt vermutlich von seinem Vater, so genau weiß das Omit nicht mehr. Seine kleinen Verse trägt er auf handgeschriebenen Zetteln mit sich. Jeden Tag ist er am Ring unterwegs, morgens halb acht, abends halb acht, obwohl ihn die Bahner nicht haben wollen. Er zahlt die tägliche Verkaufsgebühr von 30 Euro nicht. Doch unverdrossen führt er seinen Kampf gegen die Windmühlen des Alltags, der Vernunft.
Eine junge Frau in dickem Wollschal ist interessiert. „Ich liege neben den Versuchen“, hebt Omit an, „überlebenslang – hinaus, zwischen den Händen und Beinen, meines Tages, ohne Sein. Denn auch dieses Lied ist wie ein Ring, jedes Mal, wenn es gelesen wird, passt es sich perfekt der Situation an.“ Die Frau im Wollschal will nicht zahlen. „Okay, danke“, sagt Omit, lächelt und steht auf. An der Tür kommt sie ihm nach. „Aber du hast voll die schöne Stimme, du solltest Märchenerzähler werden.“ Beim Aussteigen schaut der Dichter prüfend in den Himmel. „Märchenerzähler, warum nicht? Originelle Märchen, ja, vielleicht sollte ich mal Märchen schreiben.“
Abschied von Omit. Am Ende soll es nun noch einmal in die Kneipe gehen. „Molle und Korn 2,50 Euro“, so die klare Ansage auf einer Tafel vor der Gaststätte „Nordring“. Stargarder Straße, Ecke Greifenhagener. Hier hörte der Ostring einst auf. Im Niemandsland zwischen dem S-Bahnhof Schönhauser Allee (DDR) und S-Bahnhof Gesundbrunnen (BRD) kamen fünf Menschen ums Leben. Heute ist alles schön bunt. Eine Eisenbahnerkneipe inmitten von Antikläden, Pizzerien und Babyshops.
Hinter dem Tresen ist das Reich von Heiner, Schnurrbart, Pullover, gerötete Haut. Hinter seinem Rücken das Schild: „Legt euer Geld in Alkohol an – wo sonst gibt es 40 %?“ Gleicher Muff wie in der „Haltestelle“, eine halbe Ringumdrehung weiter westlich. Beruhigend, dass beiderseits der Mauer die gleichen Kneipen überlebt zu haben scheinen. Von den rot-gelben Zügen, die hier an jeder Wand hängen, will Heiner nichts wissen. „Ach, die S-Bahn, die hat ja so viele Minuspunkte, die letzten Jahre waren ja unter aller Sau, na hallo!“ Heiner guckt grimmig. „Nee, mit der S-Bahn hatten wir noch nie was zu tun!“ Warum genau die Kneipe dann heißt, wie sie heißt, und aussieht, wie sie aussieht, ist an diesem Abend nicht mehr herauszufinden. Heiner tanzt lieber zu Nena. „Irgendwie, irgendwo, irgendwann.“ Draußen liegt dunkel die Stadt, und der Barmann bringt es auf den Punkt: „Hauptsache, der Hahn läuft!“
Der Korn verwischt den Rest des Abends. Hassgeliebter Ring, hassgeliebtes Berlin, wieder und wieder aufs Neue, Runde für Runde, jeden Tag. Dies war ein langer. Zeit, nach Hause zu fahren. (Tagesspiegel)