Die zwei Wahrheiten von Donezk

– Protestgruppe Femen wirft Donezker Polizei Gewaltanwendung vor – Behörden weisen Vorwürfe zurück

Donezk (dapd). Der Polizeichef von Donezk verzog keine Miene. Stoisch nahm Jurij Sednew auf der Pressekonferenz am Samstag die Fragen zum Verhör und zur mutmaßlichen Misshandlung von drei Frauenrechts-Aktivistinnen entgegen. Stoisch gab er seine Antworten. Ja, man habe zwei und später drei Frauen verhört. „Es gab aber zu keiner Zeit Misshandlungen“, sagte Sednew.

Dies hatte zuvor die Organisation Femen erklärt, die im Umfeld der Fußballeuropameisterschaft mit aufsehenerregenden Aktionen für mehr Frauenrechte demonstrieren. Drei Aktivistinnen seien am Freitagabend vor dem EM-Spiel der Ukraine gegen Frankreich in Donezk verschleppt worden. Eine von ihnen sei ins Gesicht geschlagen worden.

Sednew bestätigte auf Nachfrage, dass zwei Frauen verhaftet worden seien, später sei eine dritte auf der Polizeiwache erschienen. „Wir haben sie eingeladen, zu den beiden anderen Mädchen zu stoßen, um ihr zu zeigen, dass wir keinen Druck ausüben“, sagte Sednew. Die mächtigen Schulterklappen seiner blauen Uniform zuckten nur hin und wieder kurz.

Wie lange die Aktivistinnen festgehalten und verhört wurden, wisse er nicht, sagte Sednew lapidar. Nach Darstellung von Femen waren die drei Frauen erst am frühen Samstagmorgen wieder auf freien Fuß gesetzt worden.

Sednew saß einige Stunden später unter dem mächtigen Donezker Stadtwappen, das einen Hammer in einer Faust zeigt, und erzählte die Version der Behörden: Die Polizei sei von einer Frau am Freitagnachmittag in ein McDonald’s-Restaurant in der Innenstadt gerufen worden. Diese habe zuvor eine Unterhaltung zweier weiterer Frauen gehört, die „etwas Schlechtes an der Donbass Arena“ vorgehabt hätten. Die beiden Frauen seien später aufgrund der Beschreibung der Zeugin festgenommen worden.

Als der Polizeichef geendet hatte, meldete sich auch noch der Donezker Bürgermeister Alexander Lukjantschenko zu Wort. Er wolle doch jetzt noch einmal etwas klarstellen: „Die Mädchen in der Donbass-Region sind sowieso viel schöner als diese Mädchen. Ich denke die Lokaljournalisten werden mich unterstützen.“ Ein Raunen ging durch den Saal, einige Anwesende lachten. Die Femen-Aktivistinnen hatten in der Vergangenheit mehrfach mit nacktem Oberkörper für mehr Frauenrechte in der Ukraine protestiert, unter anderem bei der EM-Auslosung im Dezember in der Hauptstadt Kiew.

Nach Darstellung der Verhafteten, die sie auf ihrem Blog livejournal.com veröffentlichten, sei dagegen die Situation auf der Polizeiwache eskaliert, nachdem die Frauen mehrfach nach dem Grund ihrer Verhaftung gefragt, aber keine Antwort erhalten hätten. Ein Polizist soll eine von ihnen ins Gesicht geschlagen haben. Dabei soll folgender Satz gefallen sein: „Janukowitsch ist uns scheißegal. Wir beschützen Rinat.“ Die Aktivistin habe zuvor gefragt, ob die Beamten „Angst um Janukowitsch“ hätten. Multi-Milliardär Rinat Achmetow ist der mächtigste Mann der Stadt und als Eigner des Fußballklubs Schachtjor Donezk auch der Finanzier der Donbass Arena, wo am Freitagabend das EM-Spiel stattfand, in dessen Umfeld offenbar die Protestaktion geplant war.

Seit Beginn der EM-Endrunde werde die Gruppe aus Kiew permanent vom ukrainischen Geheimdienst bewacht, beklagte die Vorsitzende von Femen, Anna Huzol. Außerdem würden Telefone, Handys und die Online-Kommunikation systematisch abgehört.

Die Behörden im östlichsten EM-Austragungsort spielten die Angelegenheit herunter. Es sei alles korrekt zugegangen, sagte Polizeichef Sednew. Bei ihrer Freilassung hätten die Frauen schließlich ein Papier unterschrieben, auf dem sie bestätigten, dass sie nicht misshandelt worden seien.

Blau im Herzen

– Unter Roberto Di Matteo hat Chelsea tatsächlich die Champions League gewonnen – ob er bleibt, ist unklar

München (dapd). Roberto Di Matteo sieht eigentlich immer aus, als würde er lächeln. Das muss wohl an der Form seiner Mundwinkel liegen. Selbst nach Thomas Müllers vermeintlichem Siegtor für den FC Bayern sah Di Matteo nicht verdrossen aus. Vielleicht glaubte er ja immer noch dran. Wie dem auch sei: Viel später in dieser Samstagnacht, im Pressesaal der Münchner Arena, da strahlte der Interimstrainer des FC Chelsea über das ganze Gesicht.

„Es fühlt sich wirklich großartig an, das muss ich sagen“, sagte Di Matteo und schaute in die Runde. Der in der Schweiz aufgewachsene Italiener hat mit dem neuen Champions-League-Sieger FC Chelsea eine ungewöhnliche Reise hinter sich. Als er Anfang März den Job seines entlassenen Chefs Andre Villas-Boas übernahm, waren die Londoner in der Champions League so gut wie draußen – nach einem 1:3 beim SSC Neapel, das auch ein 0:5 oder 0:6 hätte sein können. Weil Ashley Cole aber auf der Linie klärte (für Di Matteo und auch Didier Drogba der Wendepunkt der Saison), gab es immerhin noch eine kleine Chance im Rückspiel. Chelsea gewann in einer dramatischen Begegnung 4:1 nach Verlängerung. Dann kam Barcelona, zwei Abwehrschlachten, die Chelsea irgendwie überstand, dann München. „Der Fußball und das Leben sind manchmal unvorhersehbar und verrückt. Kein Mensch hätte das vor drei Monaten vorhergesagt“, sagte Di Matteo.

Das Herz dieses Mannes ist blau. Sechs Jahre, von 1996 bis 2002, spielte er an der Stamford Bridge, gewann zweimal den FA-Cup und 1998 den Europapokal der Pokalsieger. Auch danach hörte Di Matteo nie auf, sich als Teil des Ganzen zu fühlen. „Vor vier Jahren haben wir eine sehr schmerzhafte Erfahrung gemacht“, erzählt er über das verlorene Champions-League-Finale von Moskau. Nur war er da gar nicht dabei, sondern saß zu Hause vor dem Fernseher, als Fan.

Vielleicht brauchte es einen wie ihn, um die alte Garde wiederzubeleben. Lampard, Terry und Drogba, denen man viel vorwerfen kann, aber nicht, dass sie sich nicht für das blaue Trikot zerreißen. Unter Di Matteo blühten sie noch einmal auf, spät und unverhofft, vielleicht weil der junge Coach sie anders als sein Vorgänger einfach machen ließ und spielen ließ, wann und wie sie wollten. „Das Herz und die Leidenschaft, die diese Spieler gerade in diesem Wettbewerb an den Tag gelegt haben, waren immens“, lobte Di Matteo artig – ebenso wie er Villas-Boas lobte, der „das Fundament gebaut“ habe. Aber natürlich war nach dessen Abgang alles anders.

Zum Beispiel die Taktik. Di Matteo ließ wieder einen Stil zu, der nicht schön war, aber den auf Ballbesitz orientierten Teams wie Barca und auch Bayern den letzten Nerv raubte. Teils zu zehnt im eigenen Strafraum, bei so gut wie jedem Schuss der Münchner mit einem Fuß oder anderem Körperteil dazwischen. Kritik an seiner Mauertaktik wischte er auch nach dem Endspiel in München vom Tisch: „Man muss immer versuchen, das Beste aus dem zu machen, was man hat.“ Das immerhin hat Roberto Di Matteo eindrucksvoll geschafft.

Wie es nun aber weitergeht mit dem lächelnden Coach, ist trotz des Titelgewinns völlig unklar. Er selbst will sich partout nicht äußern: „Was auch immer der Verein entscheidet, werde ich respektieren.“ Di Matteo weiß, dass es nur einen gibt, der darüber befinden kann: Roman Abramowitsch, Klubeigner, Geldgeber, Mr. Chelsea. Und was der nun vorhat, wird abzuwarten sein. Jetzt, da der Heilige Gral geborgen ist, am Ende einer der seltsamsten Reisen, die der Fußball seit langem gesehen hat.

Drei Schritte ins Glück

– In seinem wohl letzten Spiel verhilft Didier Drogba seiner Chelsea-Generation doch noch zum größten Titel

München (dapd). Drei Schritte nahm Didier Drogba Anlauf zum Glück, penibel genau abgezählt, wie immer. Drei entschlossene Schritte nach hinten, zwei minimale Tippelschritte zur Seite. Dann wurde Drogba ganz ruhig, ganz langsam hob er den Blick, während Manuel Neuer vor diesem entscheidenden Elfmeter auf der Linie auf und ab hüpfte, als sei er ein betrunkener Clown. Mit einem Ruck unterband Drogba diese Ablenkungen, lief an und schoss den Ball über das linke Standbein hinweg unhaltbar ins Netz – wie einen Trainingsschuss.

Didier Drogba, Stürmer des FC Chelsea seit acht Jahren, hatte in diesem Moment seine Mission erfüllt. In seinem möglicherweise letzten Spiel hatte er dem Klub aus London den ersten, so heiß ersehnten und lange verfolgten Champions-League-Sieg beschert. Und so einfach in Richtung China – wie spekuliert wird – wollen die Klubverantwortlichen den Stürmer, dessen Vertrag Ende dieses Monats ausläuft, nicht ziehen lassen. Chelseas Vorstandsvorsitzender Bruce Buck kündigte an, Vertragsgespräche mit Drogba „lieber früher als später“ aufzunehmen. Noch in der kommenden Woche, erklärte Buck weiter, werde man sich mit dem Berater von Drogba zusammensetzen.

Der Triumph im Elfmeterschießen gegen den FC Bayern hat eine Milliarde Euro von Klubeigner Roman Abramowitsch gekostet – und die ganze Willenskraft von Didier Drogba. „Ich bin seit acht Jahren hier. Wir waren immer so dicht dran und doch so weit davon entfernt“, sagte Drogba weit nach Mitternacht vor den verbliebenen Journalisten. „Jetzt haben wir diesen Pokal. Er geht an die Stamford Bridge.“

Mit 34 Jahren hat Didier Drogba es doch noch geschafft – und mit ihm die alten Gefährten Frank Lampard und John Terry. „Frank, JT oder Carlo Cudicini – sie haben uns gezeigt, wie man ein Chelsea-Spieler wird“, sagte Drogba rückblickend. Dreimal hatte Drogbas Generation seit seiner Ankunft in London 2004 im Halbfinale gestanden, München war ihr zweites Finale. 2008 waren sie an einem Elfmeter des diesmal zum Zuschauen verdammten Terry gescheitert, diesmal scheiterten die Bayern.

„Moskau war eine sehr schwierige Erfahrung, aber heute haben wir es geschafft, sie zu verändern“, sagte Drogba. Wie schon in den Halbfinalspielen gegen den FC Barcelona war der einzige Stürmer in Chelseas Riegelsystem schier omnipräsent. Er musste es sein bei der bayrischen Dominanz. So klärte er zahlreiche der zahlreichen Bayern-Ecken am Fünfmeterraum, warf sich mit unzähmbarer Willenskraft in jedes noch so aussichtslose Luftduell. Selbst Thomas Müllers spätes Führungstor in der 83. Minute konnte Drogbas Mission nicht erschüttern. Fünf Minuten später wuchtete er acht Jahre enttäuschte Hoffnung in die Eckstoßflanke von Juan Mata – die erste und einzige des Spiels.

„Ich wollte, dass Chelsea lacht“, sagte Drogba hinterher schlicht, doch beinahe hätte er die Spieler und Fans in Blau zum Weinen gebracht. Weil aber Arjen Robben die Hauptrolle des Abends nach Drogbas übereifrigem Foul an Franck Ribery nicht übernehmen konnte, weil Petr Cech dessen Elfmeter hielt – daher liefen die Dinge weiterhin in die Richtung des Mannes mit der Nummer 11.

In den immer kürzer werdenden Pausen zwischen den Spielabschnitten lief der, statt sich massieren zu lassen, auf und ab, kaum behelligt von seinen Teamkollegen, sprach sich selbst sichtbar Mut zu, sah immer wieder ehrfurchtsvoll hinauf, am Dach der Arena vorbei in die Unendlichkeit.

Dann kam das Elfmeterschießen, in dem Olic und Schweinsteiger zu ihrem Unglück dafür sorgten, dass Drogba den Schlusspunkt setzen konnte. „Oh, mein Gott“, schien er noch zu sagen, bevor ihn seine Mitspieler umrissen und unter sich begruben.

„Ich war zuversichtlich, bevor ich ihn schoss“, sagte Drogba. „Aber ich hatte auch im Kopf, was beim Afrika-Cup passiert war.“ Drogba kennt die andere Seite, er hat zweimal dort gestanden, im Dunkel: Im Februar vergab er den Titel gegen Außenseiter Sambia vom Punkt, 2006 verschoss er seinen Elfmeter im Endspiel gegen Ägypten.

Nicht lange nach seinem wohl letzten erfolgreichen Torschuss für Chelsea schritt Didier Drogba also zu den Bayern in den Mittelkreis, er umarmte Schweinsteiger und Ribery, sprach ihnen etwas Trost zu. Am längsten hielt er Arjen Robben im Arm, den Untröstlichen, der bitterlich an seiner Schulter weinte.

Irgendwann, da war es Liebe

– Hertha vor der Relegation: Ein Treffen mit Ex-Stürmer Karl-Heinz Granitza an der Wiege des Vereins

Berlin (dapd). Wer versuchen will, den Fußballverein Hertha BSC zu verstehen, der muss dahin gehen, wo er herkommt. Dahin, wo es wehtut. Berlin, Ortsteil Wedding. Gesundbrunnen, Ecke Behmstraße. Hier, wo die Spielkasinos blinken und die Kampfhunde knurren, wo ein gigantisches Einkaufszentrum jede Aussicht nimmt, da ist dieser Klub ursprünglich zu Hause. Wedding, Paradies der Proletarier. Zweihundert Meter von hier stand bis zum Abriss 1974 Herthas Stadion, die „Plumpe“. Hertha spielt nun im Olympiastadion im feinen Charlottenburg.

Von damals übriggeblieben ist die ehemalige Vereinsgaststätte, der „Bierbrunnen an der Plumpe“. Eine dieser Kneipen, vor denen einem schon der abgestandene Kippengeruch entgegenkommt, bei dem man sich immer fragt, ob es eher muffiger Rauch oder rauchiger Muff ist. Es ist eine dieser Kneipen, in denen mittags um zwei schon mächtig was los ist. Ein Mann mit rotem Gesicht und eine aschfahle Frau spielen Billard, die runde Theke ist schon recht ordentlich besetzt. Man trinkt hier sein Bier aus Tulpengläsern.

Karl-Heinz Granitza sitzt an einem Tisch in der Ecke. Über ihm: Herthas letzte Meistermannschaft von 1931. Neben dem Team ein Betreuer mit riesiger Schiebermütze, Lederkoffer in der Hand. Granitza trinkt wie alle aus der Tulpe. „Fassbrause“, sagt er gleich als Erstes. Fassbrause! Ein Ur-Berliner Getränk. Granitza, der in den goldenen Siebzigern für Hertha 34 Bundesliga-Tore geschossen hat, könnte man für einen dieser Ur-Berliner halten. Er ist zwar im Ruhrgebiet aufgewachsen, aber Hertha ist seine Heimat. Und der 60-Jährige besitzt die wichtigste Eigenschaft des Berliners: Er kann ganz vorzüglich motzen.

„Was waren wir früher für eine unglaubliche Heimmannschaft“, sagt er. „Und heute?“ Granitza gibt sich die Antwort selbst. „Heute ist es den Spielern doch größtenteils scheißegal, ob sie zu Hause oder auswärts spielen. Die werden erst nach der Karriere merken, wie stolz sie hätten sein sollen, in diesem Stadion zu spielen.“

Das macht ihn jetzt echt wütend. Am Donnerstag kommt Fortuna Düsseldorf zum Relegations-Hinspiel, und daheim hat Hertha erst vier Spiele gewonnen diese Saison. „Vier Spiele!“, ruft Granitza. Die Leute am Tresen würden schon gucken, wenn nicht Andrea Berg so laut aus der Jukebox schlagern würde. Granitza schiebt seine Brille die Nasenwurzel hoch, er ringt um Worte und schaut aus dem Fenster.

„Irgendwann, da war es Liebe“, schallt es durch den Raum, „vielleicht sogar ein bisschen mehr“. Das Billard-Pärchen schunkelt ein bisschen. „Meine heimliche Liebe war immer Hertha BSC“, sagt Granitza leise. „Wenn die mich nicht damals hätten verkaufen müssen, ich wäre nie weggegangen.“ 1979 wechselt der Stürmer in die USA, für 1,2 Millionen Dollar, wie er sagt. Bei Chicago Sting wird er zum Soccer-Helden, den Hall-of-Fame-Ring trägt er stolz an der rechten Hand. Erst 1990 kehrt er zurück nach Berlin, zu seiner Liebe Hertha. Aber ein Leben mit dieser Liebe war noch nie ein einfaches.

Granitza sagt: „Michael Preetz hat so viele Fehler gemacht, dass es beängstigend ist, dass wir noch die Relegation erreicht haben.“ Er schüttelt den Kopf. „31 Punkte! Was ein Glück, dass der Kölsche Klüngel noch schlimmer war als wir.“ Jetzt ist er bei seinem Thema: Herthas Führungsschwäche. Präsident Werner Gegenbauer und Manager Michael Preetz. „Alleinherrscher“ nennt er die beiden, Gegenbauer auch noch einen „Diktator“: „Es kann doch nicht so weitergehen, die beiden Sonnenkönige können doch nicht ewig so weiter wurschteln. Die müssen so ein Feuer kriegen auf der Jahreshauptversammlung.“

Der 29. Mai soll der Tag seines alten Teamkameraden Michael Sziedat werden. Der war lange Herthas Rekordspieler in der ersten Liga, bis ihn vor zwei Jahren der Ungar Pal Dardai überholte. Sziedat kandidiert am 29. für den Hertha-Vorstand. „Es wäre eine Farce“, sagt Granitza, „wenn die Fans diesen Ur-Berliner nicht mit 99,9 oder 100 Prozent in den Vorstand wählen würden.“

Granitza hofft dann auch auf einen Job im Hertha-Umfeld. Welchen genau, sagt er nicht. Das Problem ist nur: Fußballfans haben ein wahnsinnig kurzes Gedächtnis. Rettet sich Hertha also noch, wird es Ende Mai wohl nicht mal ein Strohfeuer geben.

„Glaub mir, ich sterbe nicht noch mal“, schallt es durch die Kneipe. „Du, ich brauch dich nicht.“ Andrea Berg klingt jetzt wie ein drohender Hertha-Fan. Der zweite Abstieg in zwei Jahren… und dann?

Nein, sagt Granitza, und schüttelt energisch den Kopf. „Ich glaube wieder dran.“ Der 3:1-Sieg gegen Hoffenheim am letzten Spieltag, „das war das schönste Erlebnis der ganzen Saison“, sagt er. „Es wird ein fantastisches Gefühl sein, am Donnerstag ins Stadion zu gehen.“

Eigentlich aber hat Karl-Heinz Granitza die Hoffnung nie aufgegeben. In seinem kleinen Blog, in dem er regelmäßig über Hertha schreibt, hat er in den Vorschauen noch nie auf Niederlage getippt. Hinterher schrieb er dann Sätze wie „Hertha quält seine Fans“. Und nun, nach einem Jahr Quälerei, hat der Fußballgott als Zugabe verfügt: Zweimal 90 Minuten, vielleicht mehr. Gespielt wird, bis einer weint.

„Ich glaube, die Spieler haben den Schuss gehört“, sagt Granitza. Die Musik ist verstummt, seine Worte hallen im Schankraum wider, es ist jetzt mucksmäuschenstill im Bierbrunnen. Die Leute gucken. Granitza schaut sich um, dann verabschiedet er sich. Als er weg ist, sagt einer am Tresen: „Naja, der Granitza. Vor Weihnachten hat von denen keiner wat jesagt. Und jetzt kommse aus allen Ecken.“

Vorhang für den Intendanten

– Mit Pep Guardiola geht der Mann, der Barca zum Weltereignis machte

Berlin (dapd). Es ist, man darf das schon jetzt sagen, das Ende einer Zeitrechnung. Denn der FC Barcelona ohne Josep Guardiola wird weniger sein als ein Fußballverein ohne seinen Trainer. Guardiola, Kind der Barca-Akademie „La Masia“, Spieler unter Vereinsheld Johan Cruyff, hat als Coach, als Mentor dieses Teams, den stolzen Klub aus Katalonien in neue Sphären geführt.

Barca, wie alle dort sagen, wurde unter Guardiola womöglich zum ersten Mal überhaupt dem edlen Vereinsspruch vollends gerecht. Unter Leitung dieses Mannes wurden die Katalanen fürwahr „mehr als ein Klub“, sie wurden: ein Weltereignis.

Am Ende der Saison fällt also der Vorhang für den Intendanten dieser grandiosen Aufführung, die der Fußballwelt so viel Freude, Barcas Gegnern gleichzeitig so viel Verzweiflung gebracht hat. Sie dürften die einzigen sein, die sich über Guardiolas Entscheidung freuen. „Wir werden dem besten Trainer in der Geschichte dieses Klubs ewig dankbar sein“, sagte Barcelonas Präsident Sandro Rosell am Freitag. Es übernimmt der Assistent und engste Vertraute Tito Vilanova. Er wird Guardiolas Weg weiter beschreiten.

13 von möglichen 16 Titeln hat der 41-Jährige bis zum Ende des Kalenderjahres 2011 mit seiner Elf gewonnen. Eine unglaubliche Zahl. Die meisten Vereine schaffen das in hundert Jahren nicht. Aber auch eine mörderische Last, die Guardiola da auf sich geladen hat. Denn jede missglückte Titelverteidigung kommt da naturgemäß einer Krise gleich. In den vergangenen zwei Wochen gab es demnach gleich eine doppelte. Gegen den FC Chelsea vergab Barca die Chance auf den erneuten Champions-League-Gewinn. Dazwischen, im Clasico zu Hause gegen Real Madrid, pulverisierte sich das letzte Korn Hoffnung auf die Wiederholung der spanischen Meisterschaft.

Guardiolas Spielphilosophie, die auf maximalem Ballbesitz gründet, auf technischer Höchstfertigkeit, auf der Eliminierung des Zufalls, wurde vom letzten, nie zu zerstörenden Rest ebenjenes Zufalls zuletzt durchkreuzt. Latte und Pfosten verbündeten sich mit Chelsea und gegen das schöne Spiel.

In Vergessenheit gerät: Barcelona spielt erneut eine herausragende Saison, steht im spanischen Pokalfinale, wird in der Liga ziemlich sicher 100 oder mehr Tore schießen.

Hochmut ist als Ursache für die Misserfolge bei einem wie Guardiola kategorisch auszuschließen. Überheblichkeit bekämpft er im Keim. Deswegen passten Diven wie Zlatan Ibrahimovic auch nie in sein Konzept, in seinen Verein. Nach dem 4:0 gegen Klinsmanns Bayern vor drei Jahren mahnte er vor dem Rückspiel: „Ich war in Kaiserslautern.“ Dort hatte er als Spieler im Herbst 1991 unter Trainer Cruyff fast den Preis für die Unterschätzung des Gegners bezahlt. Nur durch Bakeros Last-Minute-Kopfball kam Barca glücklich weiter und gewann am Ende den Landesmeister-Cup, den ersten überhaupt. Als Trainer wiederholte er diesen Triumph noch zweimal.

Größte Angst hatte er immer vor der Demütigung eines Rauswurfs, wie er sein Idol Cruyff im Mai 1996 ereilte. Daher die ständigen Einjahresverträge. Die Kündigung, sie hätte Pep Guardiola in nächster Zeit ganz sicher nicht gedroht. Er kam ihr dennoch zuvor.

Mit Herz und Seele ins Endspiel

– Manchesters Klubs City und United spielen den Titel aus – das wichtigste Derby seit langem

Berlin/Manchester (dapd). Um zu begreifen, was dieses Spiel bedeutet, genügt eine Zahl: 1968. In diesem Jahr nämlich ging es bei einem Manchester-Derby letztmals für beide Klubs um die Meisterschaft. Damals gewann Manchester City 3:1 bei United und holte am Ende den Titel in England. Torschützenkönig wurde dafür United-Profi George Best. Der legendäre Best, Held des Rasens und der Trinkhallen, ist lange tot. Und Manchester City träumt seit 44 Jahren von der nächsten Meisterschaft.

„Es ist das bedeutsamste Derby seit Jahrzehnten“, sagt Uwe Rösler. „Die Spannung kann nicht übertroffen werden, in der Stadt und in England.“ Rösler, ehemaliger Bundesliga-Profi, der von 1994 bis 1998 als Stürmer bei City Kultstatus erworben hat, siedelt dieses Aufeinandertreffen selbst höher an als den spanischen Clasico. „Hier kämpfen zwei Mannschaften aus der gleichen Stadt drei Spiele vor Schluss um die Meisterschaft“, sagt er der dapd. „Das gibt es wohl sonst nirgends auf der Welt. Mehr geht nicht.“

Tatsächlich kommt die Begegnung, die am Montag (21.00 Uhr) im Etihad Stadium von City stattfindet, einem Endspiel um die englische Meisterschaft gleich. Nur zwei Spieltage verbleiben danach. Mit einem Sieg kann City den alten Rivalen aufgrund der besseren Tordifferenz überholen. Die lange gehegte Sehnsucht nach dem Titel wäre dann ganz kurz vor der Erfüllung.

Die Fieberkurve, die zu Röslers Zeiten Ende der Neunzigerjahre, als City erst in die zweite, dann in die dritte Liga abstieg und United die beste Mannschaft Europas war, so eklatant auseinandergeklafft war, nähert sich seit 2008 wieder rasant an. Damals übernahm die Abu Dhabi United Group City für 250 Millionen Euro – und holte für jede Menge Geld jede Menge schillernde Stars wie Sergio Aguero, Carlos Tevez und Mario Balotelli. Der FA-Cup-Sieg im vergangenen Jahr war erster Lohn für die horrenden Ausgaben.

In dieser Saison schien zunächst City der Meisterschaft sicher entgegenzusteuern, 6:1 gewann das Team von Roberto Mancini im Oktober das Hinspiel im Old Trafford. Das Geld der Scheichs schoss viele Tore. Dann kam United wieder groß auf, schien schon so gut wie durch – und verschenkte in den letzten drei Spielen plötzlich fünf Punkte. „Nach unserer Niederlage gegen Arsenal war ich schon davon ausgegangen, dass alles vorbei ist“, sagte City-Verteidiger Pablo Zabaleta, der vor seinem 150. Einsatz für seinen Klub steht.

„Wir haben City die Initiative übergeben, keine Frage“, erklärte Alex Ferguson vor seinem 45. Manchester-Derby als Coach von United. Die Partie sei nun ein „Entscheidungsspiel um den Titel“. Sein Kollege Roberto Mancini, der Balotelli wohl fürs Derby begnadigen wird, wiegelte dagegen ab. Für die Fans sei es vielleicht das Match des Jahres. „Aber für uns ist es nur ein weiteres Spiel. Und danach kommen noch zwei weitere, harte Partien.“

Konter Ferguson: „Roberto will den Druck von seinen Spielern nehmen. Das wird uns nicht beeinflussen.“ Auf Unentschieden wolle man jedenfalls nicht spielen. Schon alleine um die Schmach des Hinspiels wiedergutzumachen, der schlimmsten Niederlage von Fergusons 26-jähriger Amtszeit. Derby-Niederlagen taten dem ehrgeizigen Schotten immer schon besonders weh. In seiner Frühzeit als United-Coach kam er 1989 mit 1:5 bei City unter die Räder. Zuhause marschierte er direkt ins Bett. Seiner Frau, so erzählte er, konnte er vor Schock und Schmerz kaum erklären, was passiert war.

Michael Owens Treffer zum 4:3 in der Nachspielzeit 2009, Wayne Rooneys Fallrückzieher im vergangenen Jahr – auch diesmal wird das Manchester-Derby wieder seine Geschichten erzählen. Alles hat sich schließlich nicht geändert mit der Ankunft der reichen Herren aus der Wüste. „Manchester City ist Manchester City. Es ist ein Verein der arbeitenden Bevölkerung“, sagt Uwe Rösler. Der Verein sei zwar nun zum Global Player aufgestiegen. „Aber ‚heart and soul‘, die Stadt, die Fans, das ist alles geblieben.“

Der Mann, der Barcelona erfand

– Johan Cruyff zum 65. Geburtstag

Berlin (dapd). Wenn ein Fußballspieler in einem -ismus verewigt wird, dann muss er mehr sein als ein Fußballspieler. In Katalonien haben sie lange schon den „cruyffismo“ ausgerufen, an seiner Spitze der Namensgeber Johan Cruyff, König. Keinem Staat steht er vor, sondern vielmehr einer revolutionären Philosophie für das schöne Spiel, einer Geisteshaltung, die den FC Barcelona seit Cruyffs Ankunft vor knapp vier Jahrzehnten in aller Welt bekannt gemacht hat. Ihr Begründer wird am Mittwoch 65 Jahre alt.

„Mach den Ball zu deinem Freund. Die Leute sollen mit einem Lächeln nach Hause gehen.“ In diesen cruyffschen Grundsätzen steckt der Kern seines Systems.

Johan Cruyff, eigentlich: Johan Cruijff, wächst mit Ajax Amsterdam auf. Sein Bruder arbeitet auf dem Vereinsgelände, mit 17 debütiert Johan in der Profi-Auswahl. Als Mittzwanziger hat er bereits alles erreicht, was mit einem Vereinsteam möglich ist. Er hat Ajax dreimal zum Europapokal der Landesmeister geführt. Ganz oben ist er nun, der blasse Junge aus dem Betondorf, so heißt die Siedlung, in der er aufgewachsen ist. Beton! Aber an ihm, diesem schmächtigen Knaben, der erst in der B-Jugend überhaupt eine Ecke bis vors Tor schlagen kann, ist nichts Beton. Er windet sich durch die Gegner wie ein Schlangenmensch, mit beiden Füßen stellt er Unglaubliches an. Cruyff regiert das Spiel wie kein zweiter Europäer, 2000 wird er zum „Jahrhundertfußballer“ gekürt, vor Beckenbauer, dem Weltmeister.

Auf dem Gipfel seines Erfolges, 1973, verlässt Cruyff seine Heimat. Er wechselt zum FC Barcelona. Es locken: Sein Mentor Rinus Michels, der große Ruhm und das ganz große Geld. Für Barca der Glücksgriff der Vereinsgeschichte. Erzrivale Real Madrid hat im gleichen Sommer Günter Netzer verpflichtet. Cruyff wird ihn in den Schatten stellen.

Die Katalanen macht sich König Johan Untertan, er, der königliche Spielmacher, im Februar 1974. Mit 5:0 schlägt Cruyff mit Barca den Erzrivalen Real Madrid in dessen eigenem Stadion. Er macht seinen Trainer Michels, der den „totalen Fußball“ entwickelt hat, stolz: Der Mann mit der 9 ist der totale Fußballer an diesem Abend, wie an vielen Abenden. Er macht einfach alles: dribbeln, passen, rennen, grätschen. Er erkämpft sich die Bälle, treibt sie übers Feld. Und erzielt das 2:0 nach unmöglichem Dribbling.

Eine Demütigung, und ein Sieg des holländisch-katalanischen Freigeistes über die Franco-Diktatur, deren Aushängeschild Real ist. Der Franquismus stirbt 1977 mit dem Diktator, der Cruyffismus überlebt.

1992 schafft Cruyff als Trainer des FC Barcelona dann das, was ihm als Spieler in Katalonien versagt geblieben war: Er gewinnt den Landesmeister-Cup, den ersten für den Klub. Als Trainer krempelt er den Klub nach seinem Gusto um. In der Jugendschmiede „La Masia“ wird fortan alles der Technikschulung untergeordnet. Alle Teams spielen das Cruyffsche 4-3-3, das Ajax-System mit zwei dribbelstarken Außenstürmern. Technik, die Kraft besiegt. Fußball als Herrschaft über Ball und Gegner.

„Ohne Cruyff würde ich nicht auf diesem Stuhl sitzen“, sagt Pep Guardiola 2009 dem „Spiegel“. Ohne Cruyff ist der FC Barcelona des 21. Jahrhunderts schlicht nicht vorstellbar.

Nur Weltmeister wird Cruyff nie. 1974 spielt er mit den Holländern alle in Grund und Boden. Doch im Finale unterliegen sie den effizienten Deutschen. „Wir waren großartig. Wir vergaßen nur zu gewinnen“, sagte Cruyffs Mitstreiter Johnny Rep. 1978, als Holland erneut WM-Zweiter wird, ist Cruyff bereits zurückgetreten. Die Gründe liegen im Dunklen. Streitbar ist er bis heute geblieben, erst in diesem Frühjahr liefert er sich eine wochenlange Schlammschlacht im Aufsichtsrat von Ajax, weil er die Neueinstellung von Louis van Gaal verhindern will.

Das Kettenrauchen schließlich, die 80 filterlosen Camel täglich, die ihm kein Trainer je austreiben konnte, gibt er erst Anfang der Neunziger nach einem Herzinfarkt auf. Aber was wäre Johan Cruyff für ein unvollkommenes Genie gewesen, ohne diese Widersprüche?

Klug und leidenschaftlich zum Sieg

– Real Madrid gewinnt einen fairen Clasico auf hohem Niveau gegen Barca – Khedira und Özil mit Glanz

Berlin/Barcelona (dapd). Eine Viertelstunde war vergangen nach dem Schlusspfiff, da hatte sich der Camp Nou bereits fast vollständig geleert. Auf den oberen Rängen tauchte das Motto des FC Barcelona auf, in bunten Plastikschalen gesetzt. „Més que un club“, mehr als ein bloßer Sportverein wollen die Katalanen sein. Am Samstag aber wurde das Überteam Europas von Real Madrid bei deren 2:1-Sieg zu genau dem degradiert: einer fehlbaren Mannschaft mit menschlichem Antlitz.

Das 0:1 im Halbfinal-Hinspiel der Champions League am vergangenen Mittwoch bei der Betriebssportgemeinschaft Betonverarbeitung aus Chelsea war noch einer schreienden Ungerechtigkeit gleichgekommen. Nach dem Liga-Clasico stand dagegen die Erkenntnis, dass die Mannschaft von Jose Mourinho, am Mittwoch Champions-League-Gegner des FC Bayern München, sich ihren Erfolg weder ermauert noch ergaunert hatte. Sie hatte stattdessen mit mutiger Spielweise in der Anfangsphase das erste Tor erzwungen (Sami Khediras zweiter Saisontreffer), dann klug und leidenschaftlich gegen den Ball gearbeitet – und nach dem Ausgleich umgehend mit einem wunderschönen Spielzug über Mesut Özil und Cristiano Ronaldo nachgelegt.

„Ich habe ein historisches Tor erzielt, aber was zählt, ist der Sieg“, sagte Khedira. Er hatte an einem taktisch hochklassigen, einem spannenden, großen Clasico mitgewirkt. Weder begleiteten dieses bereits sechste Aufeinandertreffen der beiden Erzrivalen in dieser Saison hässliche Fouls noch Schubsereien am Seitenrand oder dunkle Andeutungen nach Spielschluss. Zwei außergewöhnliche Mannschaften spielten die Angelegenheit fair auf dem Rasen aus.

„Wir haben ein gutes Spiel gegen eine starke Mannschaft gemacht“, bilanzierte Barcas Trainer Pep Guardiola, der mit dem mutigen Austausch von Xavi gegen den Torschützen Alexis Sanchez zwischenzeitlich den goldrichtigen Impuls gesetzt zu haben schien. Hinterher wollte der Trainer seiner Mannschaft keinen Vorwurf machen: „Wir können nicht erwarten, immer auf höchstem Niveau zu sein, aber es ist schade, dass wir es im entscheidenden Moment nicht waren.“ Die Meisterschaft gab er bei sieben Punkten Rückstand und vier noch ausstehenden Spielen offiziell verloren.

Fehlte seinen Spielern nach dem unbelohnten Sturmlauf gegen die Mauer von London am Mittwoch unter Umständen auch die nötige Kraft und Frische, das bereits 58. Saisonspiel erfolgreich zu gestalten? Zwei Niederlagen hintereinander, eine für die eigenen Ansprüche solch dramatische Nachlässigkeit leistete man sich zuletzt zu Beginn der ersten Saison unter Guardiola, Ende August 2008, allerdings in weit weniger bedeutenden Partien.

Zeit für die Massage gebeutelter Seelen bleibt nicht. Bereits am Dienstag kommt Chelsea ins Camp Nou. Guardiola gab sich kämpferisch: „Ich habe das Gefühl, dass meine Spieler wieder aufstehen werden. Sie wissen, wie wichtig es ist.“ Erneut einen Tag mehr zur Auffrischung hat Real, das erst am Mittwoch den FC Bayern empfängt. Sami Khedira freut sich schon darauf: „Das wird ein weiteres Finale.“

Effizienz im Londoner Regen

– Didier Drogba und der FC Chelsea hebeln das System Barcelona aus

Berlin/London (dapd). Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Die vielen strahlenden Gesichter, herzlichen Umarmungen und in die Luft gereckten Jubelfäuste am späten Mittwoch an der Londoner Stamford Bridge waren nur allzu verständlich. Denn: Der FC Chelsea hat den FC Barcelona in der Champions League geschlagen. Das hat, auch wenn es nur das Halbfinal-Hinspiel war, für sich genommen fast historischen Wert. Der FC Barcelona verliert nämlich wirklich nicht allzu häufig. Es war dies im 57. Pflichtspiel der Saison die erst dritte Niederlage für die Mannschaft von Pep Guardiola, die eine schier beängstigende Aura der Effizienz umschwebt.

13 von 16 möglichen Titeln haben sich die katalanischen Nimmersatts zuletzt einverleibt. Doch weil an diesem wunderbar verregneten Fußballabend der FC Chelsea eine ganz andere Art von Effizienz zur Schau stellte und in Person von Didier Drogba aus der einzig wahren Chance einen 1:0-Sieg formte, ist nun die Titelverteidigung in Europa für Barca zumindest ein bisschen in Gefahr.

Torwart Petr Cech konnte die Zutaten der kleinen Sensation fix benennen: „mentale Stärke, etwas Glück – und auch ein paar Paraden des Torhüters.“ Wobei er die wichtigste Ingredienz völlig unterschlug: Einen Stürmer vom Format Drogba. Der bullige Angreifer füllte im 9-0-1-System von Roberto Di Matteo die Rolle des Alleinunterhalters im Angriff in Perfektion aus, ruderte zu Dutzenden Kopfbällen hoch in den Regenschleier, wetzte allen langen Bällen hinterher, und hatte er den Ball einmal am Fuß, war er meist nur mit dem Mittel zu stoppen, das Guardiola seinen Spieler eigentlich verboten hat: Dem Foul. Bei allen Gelegenheiten verschleppte Drogba zudem das mörderische Barca-Tempo, wie ein in die Jahre gekommener Boxer, der immer wieder klammert.

„Drogba war vorne ganz alleine, wir haben alle großartig gearbeitet“, sagte John Terry. „Wir wussten, dass wir unsere Chance bekommen würden, und Didier war zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, sagte Di Matteo. In der Nachspielzeit der ersten Hälfte schob der Mann von der Elfenbeinküste den einzigen nennenswerten Gegenstoß der Londoner eiskalt ein.

Barcelona auf der anderen Seite scheiterte trotz guter bis sehr guter Möglichkeiten am Grundkonzept des Fußballs, dem Toreschießen. Wie schon im Hinspiel beim AC Mailand wollte der ersehnte Auswärtstreffer nicht fallen, auch nicht in der dritten Minute der Nachspielzeit, als Pedros Flachschuss nur den Pfosten küsste. Betrachter mit Sinn für geschichtliche Quervergleiche argumentierten alsbald, dies sei die ausgleichende Gerechtigkeit für den späten und äußerst glücklichen Ausgleichstreffer durch Andres Iniesta an gleicher Stelle vor drei Jahren gewesen. Wegen dieses Treffers war der FC Chelsea damals im Halbfinale gescheitert.

Diesmal musste Guardiola dem FC Chelsea gratulieren, zum Teilerfolg. „Wir hatten mehr Ballbesitz, aber das bedeutet nichts, damit gewinnst du keine Spiele. Sie waren uns heute in der Luft überlegen und waren physisch stärker.“ Manchmal reichen für einen Sieg also: 28 Prozent Ballbesitz, ein Torschuss und 100 Prozent britischer Kampfgeist.

Die Arithmetik fürs Rückspiel im Camp Nou fiel den Beteiligten nicht ganz so leicht. „Fifty-fifty“, wog Cech die Chancen ab, korrigierte diese Prognose nach wenigen Sekunden aber auf „60:40 für Barcelona, weil sie zu Hause spielen“. Dort haben die Mannen von Guardiola in den vergangenen beiden Champions-League-Spielen immerhin zehn Tore zustande gebracht. Chelsea braucht also kommenden Dienstag gleich das nächste mittelgroße Fußballwunder für die Endspielteilnahme.

Mehr David gegen Goliath geht nicht

– APOEL Nikosia empfängt Real Madrid im Champions-League-Viertelfinale

Berlin/Nikosia (dapd). Der Tüchtige wird manchmal nicht mit Glück belohnt. Alle, nur bitte nicht Barcelona oder Real, hatte Gustavo Manduca noch gesagt an diesem freudetrunkenen Achtelfinal-Abend vor drei Wochen, „die will doch keiner.“ Aber jetzt muss APOEL Nikosia da eben durch. Real Madrid kommt nach Zypern, am Dienstag (20.45 Uhr) steigt im GSP-Stadion in der Hauptstadt der Mittelmeerinsel das Viertelfinal-Hinspiel in der Champions League.

Das ist, unterm Strich, ja dann doch eine ziemlich feine Sache.

„Das ist der Gipfel der Klubgeschichte“, präzisiert der Vereinssprecher, der auf den klangvollen Namen Panikos Hatziliasis hört. Der Name seines Arbeitgebers war bis vor dieser Saison eher weniger klangvoll, ja, es war sogar ein klassischer No-Name.

Und jetzt Real. Mehr David gegen Goliath geht ja schon gar nicht mehr zu diesem Zeitpunkt, da Europas Spitze auf acht Teams zusammengeschmolzen ist. APOEL gegen Real, das ist: 15 Millionen gegen 500 Millionen Euro Marktwert. Oder auch: UEFA-Ranglistenplatz 62 (vor der Saison 125) gegen fünf. Und weil’s so schön ist: Nikosias Goalgetter Manduca wird vom Internetportal transfermarkt.de auf 1,1 Millionen Euro taxiert. Sein Pendant Cristiano Ronaldo holte Real einst für 94 Millionen.

Natürlich ist auch das Stadion von echtem Davidformat. Nicht mal 23.000 Menschen passen rein, in diesen Hexenkessel ohne Deckel. Aber, hätten sie seit Bekanntgabe der Auslosung fix das Bernabeu-Stadion mit all seinen 80.000 Schalensitzen dekonstruiert und auf Zypern wieder aufgebaut, sie hätten es auch vollgemacht.

Auch so wird wieder einiges los sein. Zyprer haben heißes Blut. Ein paar Mittelgroße haben das schon zu spüren bekommen, Zenit St. Petersburg (1:2), der FC Porto (auch 1:2) und zuletzt im Achtelfinale Olympique Lyon (3:4 nach Elfmeterschießen). „Wir sind ein kleiner Klub in Europa, aber wir haben ein großes Herz“, sagt der serbische Trainer Ivan Jovanovic. Seine Spieler wollen nun den ersten ganz dicken Brocken versetzen – ein paar Zentimeter, das würde ja schon reichen. Vielleicht ein Unentschieden, so wie es ZSKA Moskau unlängst geschafft hat. Die Russen haben in der Nachspielzeit noch das 1:1 erzielt gegen die zugegebenermaßen da schon etwas verträumten Königskinder aus Spanien.

Und was am Montag aus Madrid hervordrang, klang durchaus nach ein bisschen mehr als den üblichen Anstandsgesten. „Wir können da kein lockeres Spielchen hinlegen. Wir haben großen Respekt vor APOEL, weil sie eine gute Gruppenphase hingelegt haben“, sagte Sami Khedira. Auch der sonst so selbstbewusste Real-Coach Jose Mourinho geht davon aus, „dass uns diese Mannschaft vor eine harte Aufgabe stellen wird“.

Dabei hatten sich die Madrider am vergangenen Wochenende nach zuvor zwei Unentschieden mit einem standesgemäßen 5:1 gegen San Sebastian warmgeschossen. 95 Tore hat dieser fulminante Angriff alleine in der Liga erzielt, 35 davon Ronaldo. Noch Fragen? Lieber nicht. APOEL begnügte sich dagegen mit einem 0:0 im Stadtduell gegen Omonia. Kräfte sparen vor dem ungleichen Zweikampf.