(Tsp) Einst verabscheute Philadelphia sein Baseballteam, das eines der schlechtesten der USA war. Nun werden die Phillies von der ganzen Stadt als Helden verehrt. Sie könnten zum dritten Mal in Folge die World Series erreichen.
Ob ein Sportmoment ewig in Erinnerung bleibt, darüber entscheiden manchmal wenige Zentimeter. Als der Fänger Carlos Ruiz am vergangenen Mittwoch den vor ihm auf den Boden tropfenden Ball mit der rechten Hand aufnahm und ihn über den spurtenden Schlagmann der Cincinnati Reds zur ersten Base warf, hielt ganz Philadelphia den Atem an. Die Zeit schien sich zu dehnen wie der Kaugummi eines Outfielders. Dann klatschte der Ball in den Fanghandschuh von First Baseman Ryan Howard, das Spiel war vorbei. Phillies-Pitcher Roy Halladay hatte Baseball-Geschichte geschrieben – mit dem erst zweiten „No-hitter“ der Play-off-Historie. In neun Innings hatte kein Reds-Spieler durch einen eigenen Treffer die erste Base erreicht.
Nach dem glatten 3:0-Sieg gegen die Reds warten nun ab Sonnabend im Halbfinale die San Francisco Giants, Gegner im Endspiel könnten wie im Vorjahr die New York Yankees sein.
Geschichte geschrieben haben die Philadelphia Phillies in den 126 Jahren ihres Bestehens selten genug. Bis vor zwei Jahren waren sie mit nur einem World-Series-Titel (1980) eines der erfolglosesten Teams im ganzen Land – und das hässliche Aushängeschild einer Stadt, in der sich die Profiteams im Football, Eishockey, Basketball und Baseball Jahr für Jahr mit Enttäuschungen unterboten. Philadelphia, diese bröckelnde Metropole zwischen Anspruch und Wirklichkeit war jahrzehntelang das Synonym für traditionsreich aber bedeutungslos – und Leinwandboxer Rocky Balboa ihr bekanntester Sportler. Wenn es im echten Leben wieder einmal schiefgegangen war, tobte das Fanvolk – wie nach dem Fehlwurf von Pitcher Mitch Williams in der „World Series“ 1993. „Die Leute haben ihn und seine Familie jahrelang schikaniert. Am Strand haben sie ihn ständig mit Sachen beworfen“, erinnert sich Phillies-Fan Karalyn. „In Südamerika bringen sie Fußballspieler um. In Philadelphia wirst du nur ein Jahrzehnt lang gehasst.“
Philadelphia und die Phillies – eine über Jahrzehnte gewachsene Hassliebe, bei der das Pendel in den letzten Jahren merklich Richtung Liebe schwingt. Denn mit dem World-Series-Triumph gegen die Tampa Bay Rays 2008 und dem erneuten Einzug ins Finale im Vorjahr, das sie allerdings gegen die Yankees verloren, ist das Team plötzlich eines der erfolgreichsten. „Die beiden World-Series-Teilnahmen haben alte Wunden geheilt“, sagt Karalyn. Sie ist 27 und in Philadelphia aufgewachsen. Schon als Säugling hat sie ihr Vater mitgenommen ins Stadion; das Maskottchen, der Phillie Phanatic, ein bizarrer grüner Nasenbär mit Gewichtsproblemen, war ihre erste große Liebe. Williams’ Versagen erlebte sie als 10-Jährige im mittlerweile abgerissenen Veterans-Stadium. „Das war Old-School-Baseball“, sagt sie lachend, „ein Team voller übergewichtiger, unförmiger Alkoholiker.“
Ein Team, das irgendwie zum Philadelphia der beginnenden neunziger Jahre passte, einer Stadt, die nach dem Zusammenbrechen der zwei großen Industriezweige, der Textilfabriken und der Brauereien, langsam vor die Hunde ging. 17 Jahre später hat sich die Innenstadt mit neuen Wolkenkratzern und schicken historischen Reihenhäusern herausgeputzt, die Phillies sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. „Die Phillies haben Philadelphia gerettet. Die Moral der Stadt ist gut“, sagt Karalyn. Die Menschen teilen den Kalender in zwei Jahreszeiten ein: mit und ohne Baseball. Von April bis Oktober scheint die Sonne über Philadelphia: „Der letzte Winter war lang und kalt. Jeder freute sich darauf, dass die Phillies wiederkommen, es war ein Zeichen, dass der Schnee bald vorbei ist.“
Die Phillies 2010, das ist kein Haufen dicker Vokuhila-Träger wie einst, sondern ein fokussierter Titelanwärter. In Halladay, Roy Oswalt und Cole Hamels hat die Mannschaft drei der besten Pitcher der Liga. „Wir wollen wieder die World Series gewinnen“, gab Hamels zu Protokoll.
„Alle Philadelphier haben derzeit einen Countdown im Kopf“, beschreibt Karalyn die Stimmung in der Stadt. „Momentan stehen wir bei acht.“ Das bedeutet: Noch acht Siege bis zum dritten World-Series-Gewinn der Klubgeschichte. Derzeit regiert einzig die Hoffnung in der Hauptstadt der Pessimisten.