– Walter Eschweiler (77) war einer der ersten Stars unter den Bundesliga-Schiedsrichtern. Ein Gespräch über die Gründerjahre der Liga, den Hass der Massen und den traurigen Stan Libuda (11FREUNDE #138)
Herr Eschweiler, was ist die wichtigste Eigenschaft eines Bundesliga-Schiedsrichters?
Gelassenheit. Ein Schiedsrichter muss auch in größter Hektik absolute Ruhe ausstrahlen. Das ist das Wichtigste. Und Menschlichkeit.
Menschlichkeit?
Man darf sich als Schiedsrichter nicht so tierisch ernst nehmen. Der Schiedsrichter ist dazu da, den Regeln Geltung zu verschaffen, in vernünftiger, menschlicher Form.
Wie macht man das?
Das geht schon los, wenn man sich das erste Mal im Kabinengang sieht und begrüßt. Seinerzeit gab es beim DFB die strikte Marschroute: Bei Anpfiff müssen die Trikots in der Hose und die Stutzen nach oben gezogen sein. Na, und dann kam ein Mann wie Paul Breitner…
… der langhaarige Rebell, der 68er…
Ich habe zum ihm gesagt: »Paul, tun Sie mir den Gefallen, stecken Sie es bitte rein, nur zum Anpfiff. Aber danach darf wieder alles sein wie vorher.« Das hat geklappt. Eine Sache der Einstellung.
Der Ton macht die Musik, ist es so einfach?
Meiner Meinung nach ja. Ich hatte natürlich noch den Vorteil als Rheinländer, die Situation mit einem netten, freundlichen Wort entkrampfen zu können.
Ein bisschen Selbstironie hilft?
Richtig. Die Zuschauer sind wirklich nicht gekommen, um den Schiedsrichter zu sehen. Sie wollen das Spiel sehen.
Sie pfiffen noch ganz in Schwarz. Haben die bunten Leibchen den Schiedsrichtern Autorität genommen?
Die Kleidung alleine macht es nicht. Es geht um das Auftreten.
Hilft ausreichende Körpergröße?
Das ja. Wenn Sie klein sind, haben sie es auf jeden Fall schwerer. Das ist ungerecht, aber so ist es.
Wie kamen Sie im Proletensport Fußball an als distinguierter Konsul vom Auswärtigen Amt?
Natürlich nicht nur positiv, das ist ja klar. Der Uwe Seeler sagte mal: »Diese Politiker aus Bonn, die sind nicht nur überbezahlt, die sehen auch ganz schön schlecht.« Als er aus drei Metern danebenschoss, sagte ich: »Ich kenne sogar Lizenzspieler, die ziemlich schlecht sehen.« Er lachte und gab mir die Hand.
Dennoch wurde aus Ihnen die »Diva vom Rhein«. Wie kam das?
Nach einem Spiel von Bayern München kamen die Reporter auf den Platz und es ging sofort in rüder Tonart los, warum dies und warum jenes. Ich sagte: Meine Herren, ich bin jetzt sehr verschwitzt. Warten Sie einen Moment, ich verkleide mich als Gentleman, dann können Sie mich alles fragen.
Das haben die ihnen übel genommen?
Der tiefere Sinn war, dass ich wusste, dass sie bald Redaktionsschluss hatten. Sie waren hartnäckig und folgten mir bis vor die Kabinentür. Ich schloss ab und sagte: Schieben Sie Ihre Fragen unten durch!
Können Sie sich an Ihr allererstes Bundesliga-Spiel erinnern?
Nein.
Wir helfen Ihnen. 20. August 1966, Dortmund gegen Düsseldorf, Stadion Rote Erde.
Oh, schön!
Das Tor für den BVB erzielte Siegfried Held auf Vorlage von Stan Libuda. War der so leicht aus dem Konzept zu bringen, wie alle sagen?
Ja, den musste man immer ein bisschen aufrichten, im Vorbeilaufen, dass das keiner merkt.
Das haben Sie übernommen?
Ja, sicher. Ich sagte ihm, dass es doch weitergeht, dass er sich nicht grämen soll. Ach, der Stan, der schaute immer so traurig.
Hat Libuda Ihnen Leid getan?
Schon, ja. Und wir wissen, was später mit ihm geschehen ist. Wissen Sie, die Spieler werden von allen möglichen und unmöglichen Leuten getreten, vom Trainer, vom Manager. Und wenn dann noch der Schiedsrichter kommt… nein!
Sie sind in über 150 Bundesliga-Spielen mit fünf Platzverweisen ausgekommen. Nach heutigen Maßstäben ein Witz.
Das würde heute auch noch gehen. Man sollte nicht zu früh mit den Karten beginnen. Sie bringen sich doch selbst in Zugzwang. Mein Bestreben war immer, mit vollständigen Mannschaften wieder vom Feld zu gehen.
Fünfmal Rot, da müssten Sie sich an jeden einzelnen erinnern können.
Ich erinnere mich an Rolf Rüssmann, das war im Spiel Fortuna Düsseldorf gegen Schalke. Der rief: Schiedsrichter, du dumme Sau! Für »dumm« hat er glaube ich vier Wochen, für »Sau« acht Wochen bekommen.
Zwölf Wochen für eine Beleidigung?
Aber ja, der hat reichlich bekommen, das wurde dann aber noch abgemildert. Und der andere, das war der Günter Neues, im Spiel Hamburg gegen Kaiserslautern…
… April 1979, richtig.
Da meinte der Toppmöller noch zu mir, der hätte mich nicht gemeint. Ich sagte: »Läuft denn hier sonst noch ein Schwarzer herum?«
Dann wäre da noch Klaus Winkler vom HSV, und Günter Sebert…
Ach ja, richtig! Stuttgart gegen Waldhof Mannheim. Das war Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Manfred Ritschel von Kickers Offenbach schmissen Sie schon in der 6. Minute runter.
Im Derby gegen Eintracht Frankfurt. Er war schon in der 2. Minute verwarnt und zog dann Jürgen Grabowski die Beine weg. Das war so schlimm, dass Nationaltrainer Helmut Schön nach unten kam, weil er dachte, die Beine sind gebrochen. Gott sei Dank war es nicht so.
Bei so was kannten Sie kein Pardon?
Ich habe mich direkt von ihm verabschiedet.
Die 60er und 70er Jahre war die Zeit der ganz harten Jungs.
In Kaiserslautern haben sie nach allem getreten, was sich bewegt hat. Rehhagel, Klimaschewski und wie sie alle hießen musste man schon beim Einlaufen das Passende sagen.
Als Drohung?
Ach was, als freundlicher Hinweis. Ich habe ja nicht das Recht, die Spieler anzuschreien.
Wer waren weitere Spezialisten?
Bei Werder Bremen wussten Sie: Drei Meter vor dem Strafraum standen Höttges und Piontek. Wer da durch kam, war amputiert. Aber die waren clever, die haben mit Ball gegrätscht. Das war schwer zu sehen. Beckenbauer hat immer einen ganz großen Bogen um die gemacht, der wusste Bescheid.
Für Walter Frosch führte der DFB extra die Gelbsperre ein.
Nun gut, der Walter wollte mangelndes Spielverständnis und fehlende Technik ausgleichen. Oft visierte er schon in den ersten Minuten die Knochen an, dann habe ich ihm gleich gesagt: »Junge, lass das! Ich sehe es.«
Vorbeugende Maßnahmen.
Ganz wichtig. Ich erinnere mich an ein Spiel, da war Uwe Seeler gerade wieder gesund nach langer Verletzung. Und da hatten sie einen jungen Hitzkopf auf ihn angesetzt, den Namen weiß ich leider nicht mehr. Dem sagte ich: »Junger Mann, ich kenne Ihre Weisung. Lassen Sie es sein. Es gibt nur Ärger.« Der kam nach dem Spiel und hat sich bei mir bedankt. Das freut natürlich.
Welche Regeländerung der letzten 50 Jahre war die wichtigste?
Die Rückpassregel. Das war ja furchtbar, diese Zeitschinderei. Und als Schiedsrichter konnten Sie nichts machen.
Ihr Kollege Bernd Heynemann sagt, ein Schiedsrichter brauche vor allem ein schlechtes Gehör.
Da hat er nicht ganz unrecht. Auf dem Fußballplatz wird so einiges gesagt. Man muss sich nicht immer angesprochen fühlen.
Der Schiedsrichter hat oft das ganze Stadion gegen sich.
Ist doch egal. Ich dachte mir nur immer, wie viele nette Leute doch wieder da sind.
Aber wenn die Fans mal wieder die »schwarze Sau« hängen sehen wollten, muss Sie das doch beeindruckt haben.
Kein Problem. Erstens bin ich kein Fabeltier, zum anderen höre ich das gar nicht. Es hat doch keinen Zweck. In dem Moment, in dem Sie da zuhören, sind Sie von der konsequenten Linie weg. Die Gefahr, Fehler zu machen, ist dann riesengroß.
Ist Ihnen nie ein Spiel entglitten?
Nein, Gott sei Dank nicht.
Wie haben Sie sich auf die Spiele vorbereitet?
Erstens mal habe ich unter der Woche immer meine Kondition gepflegt.
Wie denn?
Ganz einfach: Laufen! Mindestens 20 Runden auf der Bahn. Die ersten 300 Meter laufen, dann 50 Meter spurten und die letzten 50 gehen, damit sich der vorolympische Astralkörper erholt.
Andere Kollegen wie Wolf-Dieter Ahlenfelder nahmen das mit der Fitness nicht so genau. Haben Sie auch mal vor dem Anpfiff einen genommen?
Nie. Ich rauche und trinke nicht. Deshalb kann ich zu jeder Dopingkontrolle gehen.
Geschichten wie die von Ahlenfelder, der eine Halbzeit nach 30 Minuten abpfiff, sind selten geworden. Thomas Metzen sorgte 2008 noch mal für Aufsehen, als er gleichzeitig zwei Gelbe Karten zeigte.
Das ist ja Zirkus, das geht nicht. Wir hatten damals ein ähnliches Beispiel. Horst Herden aus Hamburg hatte mal die Karten in den Strümpfen. Der wurde sofort bestraft vom DFB.
In Ihrem letzten Bundesliga-Spiel pfiffen Sie 1984 den Hamburger SV. Auf der Bank: Ernst Happel.
Der war nicht der allergrößte Freund der Schiedsrichter.
Wie hat sich das geäußert?
Indem er sehr, sehr böse guckte und grantelte. Aber da er Dialekt sprach, hätten Sie einen Dolmetscher gebraucht. Ich hab ihn zwar schon verstanden, weil ich in der Wiener Botschaft in der Ausbildung war, aber da kamen dann wieder die berühmten drei Affen zum Zuge.
Ist Jürgen Klopp in dieser Hinsicht der Happel von heute?
Ach, das ist an für sich ein ganz lieber, netter Mensch. Er lebt das Spiel. Und sein bester Freund ist eben der vierte Mann. Da wünsche ich mir manchmal etwas Gelassenheit, auf beiden Seiten. Mancher Offizielle springt ja herum wie ein Scharfrichter.
Die Coaching Zone ist heute penibel markiert. Läuft der Fußball Gefahr, an zu vielen Regelungen zu ersticken?
Sie mussten das leider machen, wegen der verschiedenen Temperamente. Sonst geht es wie mir mit Tschik Cajkovski. Der stand bei einem Spiel in Stuttgart plötzlich vor mir, mitten auf dem Platz. Ich sagte dem Kugelblitz, dass ich ihn lobend im Spielbericht erwähnen würde. Bei der nächsten Begegnung knurrte er: »Du bist Hund. Du können lesen und schreiben.«
Hat Ihnen nie mal einer einen flotten Spruch übel genommen?
Nein, ich habe die ja nie angegiftet. Das lief immer höflich und anständig ab, auch im vollen Lauf. Das geht. Ist eine innere Einstellung. Ich bin ja nicht deren Vorgesetzter.
Spricht Otto Rehhagel eigentlich wieder mit Ihnen?
Selbstverständlich. Der hat wegen mir mal drei Monate Berufsverbot bekommen. Er war in Offenbach derart aufgehetzt und rief: »Der Schiri ist bestochen.« Ganz laut, das hat die ganze Tribüne mitbekommen. Das kann man nicht mehr überhören.
Rehhagel warf Ihnen vor, Sie hätten gelogen.
Ach was, eine reine Schutzbehauptung. Hat doch jeder gehört. Ein halbes Jahr später trafen wir uns zufällig und haben uns ausgesprochen.
Rehhagel nennt sich gerne »Kind der Bundesliga«. Sie auch?
Ich sehe mich als Schiedsrichter für den Fußball, nicht mehr und nicht weniger.
Sie pfiffen noch für 72 D-Mark. Heute bekommen Bundesliga-Schiedsrichter 4200 Euro pro Einsatz. Wäre ein zweiter Fall Hoyzer zu vermeiden, wenn Schiedsrichter noch mehr Geld bekommen würden?
Das glaube ich nicht. Da ist ein junger Mann ohne große Basis in Amateurklassen nach oben geschossen worden, sprich: Jugendwahn. Man hat ja inzwischen eingesehen, dass das nichts bringt. Sie müssen eine gewisse Zeit unterklassig pfeifen, um sich das Rüstzeug zu holen.
Wäre solch ein Fall in Ihrer Generation denkbar gewesen?
Das ist eine hypothetische Frage. Aber ich denke, unter den FIFA-Schiedsrichtern nicht.
Sie sind Jahrgang 1935, haben Krieg und Zerstörung als Kind miterlebt.
Ich habe auch Schulspeisungen erlebt, weil es zu Hause nichts zu beißen gab. Das prägt.
Wie?
Man ist dankbar für jeden Tag, den man erleben darf. Ist es nicht eine wunderbare Sache, wenn Sie mit einer Pfeife große Spiele leiten dürfen, in vollen Stadien, überall auf der Welt?
Was wünschen Sie Ihren Nachfolgern für die nächsten 50 Jahre?
Ich wünsche ihnen, dass sie immer das nötige Glück haben, denn das braucht man. Dass sie optimal vorbereitet sind und dass sie wissen, dass sie eine dienende Funktion haben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und, bitte: Sie sollen sich nicht so tierisch ernst nehmen.