– 100 Tage vor der EM ist Frankreichs Coach Laurent Blanc darum bemüht, die Erwartungen zu dämpfen
Berlin/Paris (dapd). Der Mann, der das Hemd unter dem legeren Sakko offen trägt, könnte mit seinen etwas zerzausten Haaren und der randlosen Brille auf den ersten Blick ein Universitätsprofessor sein. Als Grundschullehrer könnte er auch durchgehen. Wäre da nicht die riesige Sponsorenwand im Hintergrund. Vor Laurent Blanc, dem Fußballlehrer, sitzen die französischen Journalisten, eine aufmüpfige Klasse.
Blanc spricht mit ruhiger Stimme über den nächsten Gegner seiner Mannschaft, am Mittwoch in Bremen: die deutsche Elf von Joachim Löw. „Wir sind nicht auf ihrem Niveau“, sagt Blanc, „aber wir werden dieses Spiel mit unseren Möglichkeiten spielen und versuchen zu gewinnen, auch wenn Sie darüber schmunzeln mögen.“ So weit ist es mit der Grande Nation also gekommen.
Frankreich gegen Deutschland der krasse Außenseiter? Dabei haben doch die Franzosen das letzte Mal vor 25 Jahren gegen ihre nordöstlichen Nachbarn verloren, 1987, zwei Tore von Rudi Völler. Die Älteren erinnern sich.
Das Understatement des ehemaligen Weltklasse-Liberos Blanc hat Prinzip. Und Gründe. Da wäre zum einen die Stärke des Gegners. Deutschland ist wieder wer, das weiß und sagt auch Blanc. Er nennt die deutsche Elf „eine hübsche Maschine“. Die ist im vergangenen Jahr mal eben über Brasilien und Holland gerollt und dazwischen unter Volldampf zur erfolgreichen EM-Qualifikation. Blanc sagt: „Keiner gibt uns eine Chance, aber… Wir haben nichts zu verlieren.“
Zum anderen sind die moderaten Worte des Welt- und Europameisters Blanc in der Entwicklung der Equipe Tricolore selbst begründet. Neulich hat der 46-Jährige sich noch einmal genötigt gesehen, auf die Fakten hinzuweisen: Seit der WM in Deutschland, was fast sechs Jahre her ist, hat die französische Mannschaft kein Spiel mehr bei einer internationalen Endrunde gewonnen, wie Blanc gegenüber „Le Monde“ in Erinnerung rief. Für die EM im Sommer gebe es daher nur eine Vorgabe: „Unser Ziel ist es, ein Spiel zu gewinnen.“ Das wahre Ziel sei die EM 2016 im eigenen Land.
Das will natürlich keiner hören in Blancs Heimat, auch wenn die Franzosen mit England, Gastgeber Ukraine und den unberechenbaren Schweden keine leichte Gruppe zugelost bekommen haben. Zwar blieben die Franzosen im Länderspieljahr 2011 ungeschlagen (und siegten, ganz nebenbei, ebenfalls gegen Brasilien), und auch die direkte Qualifikation für die EM wurde geschafft. Allerdings schrammte das Team im letzten Spiel gegen Bosnien ziemlich knapp an einer Blamage und dem Umweg der Playoffs vorbei.
Blancs Verhältnis zu den Journalisten ist derweil mit etwas Wohlwollen als angespannt zu bezeichnen. Er selbst sieht sich als Opfer einer Kampagne. „TV, Radio, Presse, alle suchen nach Polemik, um Trubel zu machen“, sagte er. „Das war seit meinem Amtsantritt so.“ Das Problem sei das allzu kurze Erinnerungsvermögen der Beobachter. Er erinnerte noch einmal an Knysna, Ort des WM-Camps in Südafrika, Ort der Schande. Dort rebellierte das Nationalteam gegen Blancs Vorgänger Raymond Domenech und reiste nach drei Spielen ohne Sieg wieder heim.
Auch von Spannungen mit Verbandspräsident Noel Le Graet wird berichtet. Der soll angeblich längst auf der Suche nach Blancs Nachfolger sein, unter anderem geistert der Name Arsene Wenger durch die Gazetten, weil der Elsässer am Langzeitprojekt FC Arsenal den Spaß zu verlieren scheint. Alles dürfte von Blancs Erfolg im Sommer abhängen. Anfang Februar sagte sein Chef Le Graet der Fachzeitung „L’Equipe“: „Ich hoffe, dass Blanc Trainer bleibt, denn das bedeutet, dass wir eine gute EM gespielt haben.“
Nicht zur Stabilisierung seiner Position trugen Blancs krude Aussagen zum Körperbau afrikanischstämmiger Spieler bei, die im Mai vergangenen Jahres aus internen Verbandsprotokollen an die Öffentlichkeit gelangten. Darin befürwortete Blanc, die Quote für Nachwuchsspieler mit Migrationshintergrund zu begrenzen, weil die sich unter Umständen für das Land ihrer Eltern entscheiden könnten und die Ausbildung damit vergeblich für Frankreich sein könne. Sein ehemaliger Mitstreiter Lilian Thuram forderte ihn daraufhin zum Rücktritt auf.
Ein Dreivierteljahr später aber ist Blanc noch da, er ist ganz der alte Kämpfer. Und weist den Druck von sich. „Was riskiert man schon in einem Freundschaftsspiel?“, fragt der Mann mit der zerzausten Frisur und lugt über den Rand seiner Brille in die Runde. Die vor ihm sitzende Klasse bleibt skeptisch.