– Gewalt-Eskalationen stellen den harten Kern der Fanszene vor eine Zerreißprobe
Berlin (dapd). Es war nur eine vermeintlich kleine Ungenauigkeit. Ein Nürnberger Hooligan sei am Kölner Hauptbahnhof vor einen einfahrenden ICE gestoßen worden und habe dabei einen Arm verloren, berichteten zahlreiche Medien Mitte November. Dass es sich bei dem Schwerverletzten nicht um einen „Hooligan“ handelte, sondern um das Mitglied einer Nürnberger Ultra-Gruppierung, stellte am Montag darauf Nürnbergs Sportvorstand Martin Bader klar, einer der höchsten Vereinsverantwortlichen. „Pauschale Vorverurteilungen helfen niemandem weiter“, erklärte Bader und forderte, bei der Debatte um Gewalt im Fußball zu mehr Sachlichkeit zurückzukehren.
Der Herbst 2011 war, auch über Verwechslungen mit Hooligans hinaus, keine gute Zeit für die deutschen Ultras. Zunächst scheiterte die Initiative zur Legalisierung von Pyrotechnik, dann eskalierte das Verhältnis mit den Ordnungskräften. Ein Böllerwurf beim Drittliga-Derby Osnabrück gegen Münster verletzte mehrere Polizisten, teils schwer. Schließlich randalierten mitgereiste Dresdner beim DFB-Pokalspiel in Dortmund, unterlegt mit Feuern im Block. Unter anderen Umständen lediglich zwei schlimme Einzelfälle, so aber Symptome des Gewaltproblems der Kurven in deutschen Stadien. In Dortmund konnte ein großes TV-Publikum zur Primetime zusehen. Pyrotechnik und Gewalt waren nun eins. Und Ultras waren eben Hooligans.
„Die einzige Überschneidung zwischen Hooligans und Ultras ist, dass einige Ultra-Gruppen Gewalt tolerieren, zum Beispiel zur Verteidigung. Gewalt auszuüben, ist aber keinesfalls Bedingung, um Mitglied zu sein. Für die Hooligans war und ist Gewalt das zentrale Element“, erklärt dagegen Fanforscher Jonas Gabler, der mit „Die Ultras“ eine viel beachtete wissenschaftliche Arbeit zum Thema verfasst hat. Die Vermengung der Begriffe führt er vor allem auf Unwissenheit zurück. „Ultra ist ein relativ junger Begriff. Wer ihn zum ersten Mal hört, ordnet ihn in die extreme Ecke ein, was vom Wortstamm her sogar stimmt“, sagt Gabler.
Dabei gehe es diesen Fans eigentlich primär um anderes: „Ein Ultra ist ein extremer Fan, der sich sehr mit seinem Verein identifiziert. Das übergeordnete Ziel ist ein möglichst guter Support, laut und abwechslungsreich. Der Ultra will seine Gruppe, seinen Verein und seine Stadt repräsentieren“, erklärt Gabler. Verhaltensweisen wie „Revierverteidigung“ und „Autonomiestreben“ würden sich meist anschließen. „In letzter Zeit gab es natürlich auch einige Vorfälle, bei denen Gewalt von Fangruppen ausging.“
Die Szene ist heterogen, was auch die kritische Einschätzung eines Berliner Ultras belegt: „Viele Gruppen beschäftigen sich mit Nebensächlichkeiten. Es geht nur noch um Gewalt, Außendarstellung, Posen, Selbstdarstellung, darum, wer die Härtesten oder Gefährlichsten sind.“ Das ständige Image-Gehabe gehe jedoch am eigentlichen, nach innen gerichteten Ultra-Gedanken weit vorbei.
Die Ultra-Bewegung steht derzeit vor einer Zerreißprobe. Dabei hatte das Jahr 2011 hoffnungsvoll begonnen. Im Januar übergab die Initiative „Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren“ ihre Verhandlungsvorschläge an den damaligen DFB-Sicherheitsbeauftragten Helmut Spahn. Über 100 Ultra-Gruppierungen hatten sich zusammen getan, sich von gefährlichen Böllern und fliegenden Bengalos distanziert. Nach zwei Treffen im Mai und Juli wollte der Verband plötzlich nichts mehr von eventuellen Zugeständnissen wissen, Verhandlungspartner Spahn, der „ergebnisoffene Diskussionen“ angekündigt und auch geführt hatte, war mittlerweile beruflich nach Doha gewechselt.
Das abrupte Ende des Dialogs findet Jonas Gabler „auf jeden Fall verwunderlich“, weil sich der DFB auf Gespräche eingelassen habe und Gesprächsnotizen besagen würden, „dass es schon konkrete Abmachungen gab, die im Nachhinein negiert wurden“.
Die Initiatoren waren verbittert. „Alles, was wir geglaubt hatten, erreicht zu haben, war ja letztendlich das Papier nicht wert, auf dem es stand“, bilanzierte Sprecher Jannis Busse, ein Ultra von Hannover 96. Die gemäßigten Stimmen innerhalb der Bewegung wurden nun übertönt. Ein Teil der Kurven reagierte durch vermehrtes Abbrennen, was wiederum Ordner und Polizei verstärkt auf den Plan rief. Pfefferspray-Einsatz in Hannovers Kurve, Bremer Fans, die einschreitende Ordner in Hoffenheim attackierten – auf beiden Seiten war man nun nicht mehr zimperlich. „Ich finde das sehr bedauerlich und von beiden Seiten sehr unglücklich“, sagt der Anwalt der Kampagne, Benjamin Hirsch. „Bei dem Phänomen der Ultras haben wir es mit einem sehr sensiblen Gebilde zu tun, das teilweise ein sehr großes Problem mit Institutionen hat. Man sieht jetzt, was für Probleme auch in diesem ganzen Umfeld schlummern. Man hat die einmalige Chance gehabt, einige der bedeutendsten Ultraszenen unter einen Hut zu bekommen“, sagt Hirsch.
Jonas Gabler spricht von „einer Art Machtspielchen, das die Polizei annimmt. Die Eskalation spitzt sich zu.“ Und so ist der Ausblick düster. 2011 sollte das Jahr der Ultras werden. Und es wurde es auch, nur auf eine ganz andere Art als gewünscht. 2012, hofft Gabler, könnten beide Seiten dennoch zum Dialog zurückfinden. Auch aufseiten der Ultras gebe es nicht wenige, die trotz der Enttäuschung über die Pyro-Initiative erkennen würden, dass sich nur mit Gesprächen etwas erreichen ließe. Außerdem sei Pyrotechnik nicht das einzige Thema, über das man wieder in den Dialog treten könne. Beim Fankongress im Januar sieht Gabler eine Chance. Erwartet werden auch Vertreter des DFB.