Rache oder Blut

– Ägyptens Ultras und die Revolution (erschienen im 11FREUNDE-Sonderheft ‚Rebellen‘, März 2013)

Der Abend des 1. Februar 2012 muss schön gewesen sein, im malerischen Küstenort Port Said. Ende eines milden Spätwintertags an der Mittelmeerküste, 200 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Kairo. Langsam versinkt die Sonne. Dann wird es schwarz über Äygpten.

Das Meer ist keine 300 Meter entfernt vom Stadion, nur einmal quer über die vierspurige Hauptstraße und durch die geschwungene Anlage eines Urlaubsressorts, dann sieht man schon die Wellen, die geduldig an den Sandstrand schwappen. Um die Stunde, als in den Urlauberhotels für gewöhnlich das Abendessen aufgetragen wird, sterben in der Arena des Al-Masry Sporting Club die ersten Menschen.

Sie sind im Zug und in Bussen aus Kairo angereist, um ein Fußballspiel zu sehen. Sie sind Fans von Al-Ahly, dem größten, beliebtesten, erfolgreichsten Klub des Landes. Nun werden sie zertrampelt, von Ihresgleichen, zerquetscht an den von außen verschlossenen Eisentoren, erschlagen werden sie und erstochen. Über tausend Menschen werden verletzt. 74 kehren reglos nach Kairo zurück, spätnachts, verschnürt in weißen Säcken. Der jüngste von ihnen: Gerade 15 Jahre alt. Zurück bleibt ein Meer aus Schuhen, verstreut in den Gängen des Stadions. Männerschuhe, schwarz, braun, in hellen Farben auch. Die Schuhe der Toten.

Der 1. Februar 2012 hat schnell einen festen Platz unter den schlimmsten Stadionkatastrophen eingenommen, doch das führt in die Irre. Es ging nicht um Fußball an diesem Abend, nicht um die alte Rivalität zwischen Al-Masry und Al-Ahly, zwischen den Grünen und den Roten. Jedenfalls nicht in erster Linie. Es ging, das war den meisten sofort klar, um viel mehr. Es ging und geht auch um die Macht am Nil.

„Was sich in Port Said abgespielt hat, war politisch“, sagt James Dorsey. „Fußball in Ägypten ist per definitionem politisch. Eine Polizeimacht, die nicht an Sicherheit interessiert ist, ist per definitionem politisch.“ Dorsey ist Universitätsprofessor in Singapur und publiziert einen viel beachteten Blog über die „turbulente Welt des Nahost-Fußballs“. Auch er weiß nicht die Antwort auf die Frage, wer verantwortlich ist für den blutigen Februartag. „Die kennt wohl keiner“, sagt er. Seine Deutung: „Es ist wohl ein völlig außer Kontrolle geratener Versuch gewesen, die Ultras einen Kopf kleiner zu machen. Es wurde ein Bumerang.“

Die flackernden Fernsehaufnahmen der Katastrophe zeigen deutlich, wie passiv sich die wenigen Sicherheitskräfte verhalten, die sich im Stadioninneren befinden. Vor der Al-Masry-Kurve eine dünne Polizeikette, doch in ihr klafft ein Loch, durch das Hunderte Gewaltbereiter, Bewaffneter ungehindert strömen. Dunkler Schwarm der Jäger. Die Profis von Al-Ahly, rote Trikots, schwarze Hosen, hetzen wie getriebenes Vieh um das Torgestänge, flüchten sich in Todesangst in den Kabinengang. Hier wird Kapitän Mohammed Aboutreika später einen sterbenden Fan in den Armen halten und fragen: „Ist ein Menschenleben so wenig wert?“

Für die „Ultras Ahlawy“, wie sich der harte Kern der Ahly-Fans nennt, ist die Antwort klar. „Diese Leute sind furchtlos“, sagt Dorsey. „Wenn es sie ihr Leben kostet, dann kostet es sie eben ihr Leben. Es macht ihnen nichts aus, und die Polizei respektiert sie dafür.“ So geht die krude ägyptische Logik, vor und nach dem Sturz Hosni Mubaraks.

„Sie wollten uns bestrafen und exekutieren für unsere Beteiligung an der Revolution gegen die Unterdrückung.“ So formulieren es die „Ultras Ahlawy“ kurz nach der Tragödie in einem Statement. Sie geloben einen „neuen Krieg, um unsere Revolution zu verteidigen.“

Um das zu verstehen, was in Port Said geschehen ist, muss man zurück gehen, und zwar genau ein Jahr. Am 1. Februar 2011 schaut die Welt nach Kairo. CNN, BBC, Al-Jazeera berichten schon den ganzen Tag live vom Tahrirplatz im Herzen der Hauptstadt, auf dem sich seit Tagen Tausende Ägypter versammelt und verschanzt haben, mit dem Ziel, das Regime des Hosni Mubarak zu stürzen. Der wirft einen seiner letzten Trümpfe in den Ring: die Kavallerie. Männer auf Pferden und Kamelen sprengen in die Menschenmenge und knüppeln wie wild auf die Demonstranten ein. Die Menschen weichen zurück, panisch fliehen sie vor den trampelnden Hufen und den tanzenden Knüppeln. Unwirkliche, archaische Gewalt. Nach einigen Schrecksekunden aber geht das Fußvolk zum Gegenangriff über, einige der Reiter werden herunter aufs Pflaster gerissen und ihrerseits schwer verprügelt. Die „Kamelschlacht“, wie sie bald heißt, ein Schlüsselakt der Revolution. An vorderster Front mit dabei: Die Ultras von Al-Ahly, gestählt in jahrelangem Stadion- und Straßenkampf mit der Polizei. „Schwingende Knüppel und Tränengas sind für uns nichts Neues“, sagte ihr Sprecher hernach 11FREUNDE. „Es war ganz selbstverständlich, dass wir ganz vorne mit dabei waren, als die Menschen auf der Straße kämpften.“

Neben dem Nachwuchs der Muslimbrüderschaft sind die Ultras Ahlawy und ihre einstigen Rivalen von Zamalek die wichtigsten Gruppen beim Sturz Mubaraks. „Es gibt nur eins, was größer war als der Hass zwischen Al-Ahly und Zamalek“, sagt der Experte James Dorsey: „Der Hass auf das Regime.“ In den ersten Tagen erobern diese jungen Männer Tahrir, preschen vor, werfen Steine und retournieren Tränengas-Patronen, springen wieder zurück, dann wieder vor. Zermürbende Choreografie, immer wieder, bis die Bresche da ist. Vorbereitet sind sie ohnehin bestens, sie haben Zwillen, genügend Steine. Und Sodawasser zum Augenauswaschen. Verwundete transportieren sie auf Motorrädern ab. „Die Ultras haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Barriere der Angst zu durchbrechen“, sagt Dorsey. „Sie waren die Verteidigungslinie der Bewegung.“

Zwei Jahre später weht ihre Flagge noch immer auf dem Tahrirplatz, ebenso wie die von Zamalek. Ihr Kampf ist lange nicht vorbei.

Die „Ultras Ahlawy“ sind eine mächtige Organisation, und sie sind gut vernetzt. Ihre Facebook-Seite, „UA07“, Initialen plus Gründungsjahr, wird regelmäßig mit Nachrichten gefüttert, sie hat über 700.000 Likes. Das Profilbild im Januar 2013: eine schwarze Fläche. Darüber eine Faust mit brennender Fackel, die arabischen Worte „Al-qusas au al-dam“, das heißt: Rache oder Blut. Auf Englisch darunter, etwas weniger martialisch: „Justice or Revenge“. Der 26. Januar ist das Datum, auf das sie hinfiebern, dann werden die ersten Urteile erwartet gegen die Jäger von Port Said. Wie hart werden sie bestraft? Drei Tage vorher erklärt Staatspräsident Mohammed Mursi die toten Ahly-Fans zu „Märtyrern der Revolution“ und erfüllt damit eine der Forderungen der Ultras.

„Wir wollen keine Märtyrer sein“, hatten sie noch unmittelbar nach dem Sturz Mubaraks gesagt. Mit Port Said aber ändert sich alles. Schon in der Nacht nach der Katastrophe haben sie sich Rache geschworen, als die Überlebenden im fahlen Licht des Ramses-Bahnhofs von Zehntausenden empfangen wurden, die sich auf die Bahnsteige und auf Zugdächer quetschten. Nun singen die Ultras bei ihren Märschen durch die Straßen von Kairo: „Ich höre die Rufe der Märtyrermütter: ‚Wer gibt mir die Rechte meines Sohns?’“

Es geht den Ultras auch um Reformen, vor allem des Sicherheitsapparats. Es waren die Polizisten, die in Mubaraks System den einfachen Leuten in den Armenvierteln Kairos das Leben zur Hölle machen konnten. Sie waren das Gesicht, die Exekutive des Gewaltherrschers, und sie sind immer noch da in den Augen der Ultras, die die Zerschlagung der alten Machteliten fordern. Nicht nur vor Gericht, auch auf der Straße. Ende September 2012 stürmen sie die Redaktionsräume des TV-Senders „Modern Sport“ in der Kairoer Medienstadt. Ende November liefern sie sich blutige Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften, auf der prestigeträchtigen Mohammed-Mahmoud-Straße nahe von Tahrir. Muslimbruder Mursi ist ihr neues Ziel. Neues Gewand, altes Herrschaftsdenken? „Nieder mit Mohammed Mursi Mubarak“, rufen die Demonstranten. Die Ultras kämpfen sogar gegen den eigenen Verein, der als größter Klub Ägyptens ganz selbstverständlich verbandelt ist mit den alten Strukturen. Sie erreichen, dass Klubpräsident Hassan Hamdys Reisepass eingezogen, sein Konto eingefroren wird. In typischer altägyptischer Ämterteilung war er auch Chef der Werbeabteilung der staatlichen Zeitung „Al Ahram“. Sie erreichen, dass kein Fußball gespielt wird, solange der Prozess über die Verantwortlichen nicht zu Ende gebracht ist.

Nur ein Spiel wird ausgetragen auf nationalem Level seit Port Said, am 9. September schlägt Al-Ahly das Team von ENPPI 2:1 im Supercup. Kapitän und Rekordspieler Mohammed Aboutreika ist der einzige Profi, der sich dem Boykott der Ultras anschließt. Aboutreika, in dessen Armen ein Ahly-Fan in Port Said gestorben sein soll, ist eine Ausnahme unter den Spielern, die Mehrheit positioniert sich nicht. „Die Ultras haben sich immer als einzige loyale Anhänger des Klubs verstanden“, sagt Dorsey. „Die Spieler waren Söldner. Die Funktionäre waren Regierungslakaien.“

Die Ultras Ahlawy erheben einen großen Anspruch bei der Ausdeutung der Revolutionsziele. Analog zu dem riesigen Banner vom Kairoer Derby, kurz nach ihrer Gründung im September 2007: „We are Egypt“, stand darauf. Sie sind ein Faktor, nach wie vor, auch und gerade auf der Straße. „Can’t stop Ultras“, erklären sie ihren Plakaten.

Und dann kommt der 26. Januar. Es wird ein weiterer blutiger Tag im nach-revolutionären Ägypten. 21 Todesurteile spricht das Gericht im Fall Port Said aus – das Fernsehen transportiert die Bilder live ins ganze Land. In Port Said und weiteren Städten brechen schwere Unruhen aus, es gibt Hunderte Verletzte, mindestens 30 Tote. Mursi verhängt den Ausnahmezustand. Die Ahly-Ultras feiern derweil mit Feuerwerk und Gesängen. Rache oder Blut. „Heute hat die Gerechtigkeit begonnen, aber sie ist noch nicht vollständig“, schreiben sie auf ihrer Seite. „Ruhm allen Märtyrern!“

Das große Missverständnis

– DFB und Fans entfremden sich immer mehr – neue Eskalationen drohen

Berlin (dapd). Vor einem Jahr hatten sie noch an einem Tisch gesessen, am Dienstag sprachen sie auf zwei streng getrennten Podien. Schon rein optisch wurde die Diskrepanz deutlich: Im Berliner Hotel Intercontinental saßen die Vertreter von Fußballverbänden und Politik in ihren dunklen Anzügen, kurz zuvor hatten im Hotel Palace eine Ecke weiter die kunterbunt gekleideten Fanvertreter zu einer etwas chaotischen Gegenveranstaltung geladen. Im Sommer 2011 haben sich die beiden Seiten noch scheinbar konstruktiv ausgetauscht. Im Sommer 2012 reden sie aneinander vorbei.

DFB-Präsident Wolfgang Niersbach sagte nun „Gewalt und Pyrotechnik“ auf den Rängen der deutschen Arenen den Kampf an und formulierte eine „Null-Toleranz-Politik“, die künftig beherzigt werden soll. Fanverteter, die hinterher von einem „Schlag ins Gesicht“ sprachen, hatten schon vorher kritisiert, dass sie nicht eingeladen worden waren zum Sicherheitsgipfel von DFB, Innenpolitik und den drei Profiligen. „Wir sind diejenigen, die am nächsten dran sind an der Kurve, wir erreichen diese Leute“, hieß es von der Organisation ProFans.

DFB und DFL aber setzen nach zahlreichen Vorfällen in und um die Stadien in den letzten Monaten nicht mehr auf den Dialog. Das Wort kam nur in einem Nebensatz von Ligaboss Reinhard Rauball vor, in der offiziellen Pressemitteilung versteckt es sich im allerletzten Statement. Stattdessen wird die Leine straff angezogen. Stadionverbote sollen bald wieder für fünf statt wie seit 2007 nur für drei Jahre ausgesprochen werden, „bei ganz schweren Fällen sind sogar zehn Jahre geplant“, sagte Rauball. Welche Vergehen gemeint sind, müsse noch „festgelegt werden“.

Doch werden verschärfte Sanktionen die Gewaltproblematik beheben können? Wird das strikte Verbot von Pyrotechnik, das von offizieller Seite bekräftigt wurde, die Feuer in den Kurven löschen?

Nein, findet Harald Olschok vom Bundesverband der Sicherheitswirtschaft (BDSW): Davon auszugehen, dass die Anhebung der Stadionverbotsdauer eine große Wirkung habe, sei „naiv“, sagt Olschok der dapd. „Um es populistisch zu sagen: Durch die Einführung der Todesstrafe verhindere ich keine Morde.“ Nein, findet auch Rene Lau von der AG Fananwälte. „Mit Stadionverboten bekommt man keine Befriedung hin. Das meiste passiert ohnehin außerhalb der Stadien“, sagt er der dapd. Die Fanprojekte der Klubs erhielten „keinen Cent mehr“ als bislang, stattdessen sei das eingetreten, was von Fanseite befürchtet worden sei: „Repressalien und verschärfte Bestimmungen“, sagt Lau. „Es herrscht Resignation bei den Fans, teils auch Wut.“

Diese Stimmung war schon vor der Bekanntgabe der Sicherheitsmaßnahmen greifbar gewesen. Mit auf dem Podium saß in Jannis Busse einer, der vor einem Jahr noch mit den DFB-Sicherheitsbeauftragten über Pilotprojekte zur Legalisierung von Pyrotechnik verhandelt hatte. Zu Saisonbeginn kündigte der DFB die Gespräche plötzlich auf, nach der mit wildem Bengalo-Einsatz begleiteten Randale beim Pokalspiel Dortmund-Dresden im Oktober formulierte der Verband schließlich ein klares „Nein“ zur Pyrotechnik.

„Man hat uns abgefertigt“, sagt Busse. Folge: Es brannte umso mehr auf den Rängen. Fananwalt Lau hofft, dass es nun nicht zu vermehrter Gewalt kommt. „Aber die Fans werden ihrem Ärger Luft machen, mit Transparenten und Choreografien.“

Die Zukunftsprognose zeichnet sich dunkel. Am Freitag beginnt mit dem Spiel der Traditionsklubs Arminia Bielefeld und Alemannia Aachen bereits die Drittliga-Saison. Die Stimmung auf den Stehplätzen dürfte nicht ruhiger werden. Zusätzlich zu notorisch gewaltbereiten Gruppen kommt eine wachsende Zahl verbitterter Ultras, die sich von den Verbänden vor den Kopf gestoßen fühlen.

Der DFB hat allein in den vergangenen zwei Monaten 20-mal Klubs für Bengalo-Einsatz, Platzstürme und Gewalt bestraft. Die Rekordmarke von über einer Million Euro an Strafgeldern aus dem vergangenen Jahr wird 2012 erneut übertroffen werden. Die von vielerlei Seite angemahnte „Versachlichung“ der Problematik, etwa der Differenzierung der Platzstürme in Düsseldorf und Karlsruhe, in ihrer Motivation völlig unterschiedlich, findet derweil nicht statt. Man spricht eben nicht mehr miteinander.

Das Ultra-Jahr

– Gewalt-Eskalationen stellen den harten Kern der Fanszene vor eine Zerreißprobe

Berlin (dapd). Es war nur eine vermeintlich kleine Ungenauigkeit. Ein Nürnberger Hooligan sei am Kölner Hauptbahnhof vor einen einfahrenden ICE gestoßen worden und habe dabei einen Arm verloren, berichteten zahlreiche Medien Mitte November. Dass es sich bei dem Schwerverletzten nicht um einen „Hooligan“ handelte, sondern um das Mitglied einer Nürnberger Ultra-Gruppierung, stellte am Montag darauf Nürnbergs Sportvorstand Martin Bader klar, einer der höchsten Vereinsverantwortlichen. „Pauschale Vorverurteilungen helfen niemandem weiter“, erklärte Bader und forderte, bei der Debatte um Gewalt im Fußball zu mehr Sachlichkeit zurückzukehren.

Der Herbst 2011 war, auch über Verwechslungen mit Hooligans hinaus, keine gute Zeit für die deutschen Ultras. Zunächst scheiterte die Initiative zur Legalisierung von Pyrotechnik, dann eskalierte das Verhältnis mit den Ordnungskräften. Ein Böllerwurf beim Drittliga-Derby Osnabrück gegen Münster verletzte mehrere Polizisten, teils schwer. Schließlich randalierten mitgereiste Dresdner beim DFB-Pokalspiel in Dortmund, unterlegt mit Feuern im Block. Unter anderen Umständen lediglich zwei schlimme Einzelfälle, so aber Symptome des Gewaltproblems der Kurven in deutschen Stadien. In Dortmund konnte ein großes TV-Publikum zur Primetime zusehen. Pyrotechnik und Gewalt waren nun eins. Und Ultras waren eben Hooligans.

„Die einzige Überschneidung zwischen Hooligans und Ultras ist, dass einige Ultra-Gruppen Gewalt tolerieren, zum Beispiel zur Verteidigung. Gewalt auszuüben, ist aber keinesfalls Bedingung, um Mitglied zu sein. Für die Hooligans war und ist Gewalt das zentrale Element“, erklärt dagegen Fanforscher Jonas Gabler, der mit „Die Ultras“ eine viel beachtete wissenschaftliche Arbeit zum Thema verfasst hat. Die Vermengung der Begriffe führt er vor allem auf Unwissenheit zurück. „Ultra ist ein relativ junger Begriff. Wer ihn zum ersten Mal hört, ordnet ihn in die extreme Ecke ein, was vom Wortstamm her sogar stimmt“, sagt Gabler.

Dabei gehe es diesen Fans eigentlich primär um anderes: „Ein Ultra ist ein extremer Fan, der sich sehr mit seinem Verein identifiziert. Das übergeordnete Ziel ist ein möglichst guter Support, laut und abwechslungsreich. Der Ultra will seine Gruppe, seinen Verein und seine Stadt repräsentieren“, erklärt Gabler. Verhaltensweisen wie „Revierverteidigung“ und „Autonomiestreben“ würden sich meist anschließen. „In letzter Zeit gab es natürlich auch einige Vorfälle, bei denen Gewalt von Fangruppen ausging.“

Die Szene ist heterogen, was auch die kritische Einschätzung eines Berliner Ultras belegt: „Viele Gruppen beschäftigen sich mit Nebensächlichkeiten. Es geht nur noch um Gewalt, Außendarstellung, Posen, Selbstdarstellung, darum, wer die Härtesten oder Gefährlichsten sind.“ Das ständige Image-Gehabe gehe jedoch am eigentlichen, nach innen gerichteten Ultra-Gedanken weit vorbei.

Die Ultra-Bewegung steht derzeit vor einer Zerreißprobe. Dabei hatte das Jahr 2011 hoffnungsvoll begonnen. Im Januar übergab die Initiative „Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren“ ihre Verhandlungsvorschläge an den damaligen DFB-Sicherheitsbeauftragten Helmut Spahn. Über 100 Ultra-Gruppierungen hatten sich zusammen getan, sich von gefährlichen Böllern und fliegenden Bengalos distanziert. Nach zwei Treffen im Mai und Juli wollte der Verband plötzlich nichts mehr von eventuellen Zugeständnissen wissen, Verhandlungspartner Spahn, der „ergebnisoffene Diskussionen“ angekündigt und auch geführt hatte, war mittlerweile beruflich nach Doha gewechselt.

Das abrupte Ende des Dialogs findet Jonas Gabler „auf jeden Fall verwunderlich“, weil sich der DFB auf Gespräche eingelassen habe und Gesprächsnotizen besagen würden, „dass es schon konkrete Abmachungen gab, die im Nachhinein negiert wurden“.

Die Initiatoren waren verbittert. „Alles, was wir geglaubt hatten, erreicht zu haben, war ja letztendlich das Papier nicht wert, auf dem es stand“, bilanzierte Sprecher Jannis Busse, ein Ultra von Hannover 96. Die gemäßigten Stimmen innerhalb der Bewegung wurden nun übertönt. Ein Teil der Kurven reagierte durch vermehrtes Abbrennen, was wiederum Ordner und Polizei verstärkt auf den Plan rief. Pfefferspray-Einsatz in Hannovers Kurve, Bremer Fans, die einschreitende Ordner in Hoffenheim attackierten – auf beiden Seiten war man nun nicht mehr zimperlich. „Ich finde das sehr bedauerlich und von beiden Seiten sehr unglücklich“, sagt der Anwalt der Kampagne, Benjamin Hirsch. „Bei dem Phänomen der Ultras haben wir es mit einem sehr sensiblen Gebilde zu tun, das teilweise ein sehr großes Problem mit Institutionen hat. Man sieht jetzt, was für Probleme auch in diesem ganzen Umfeld schlummern. Man hat die einmalige Chance gehabt, einige der bedeutendsten Ultraszenen unter einen Hut zu bekommen“, sagt Hirsch.

Jonas Gabler spricht von „einer Art Machtspielchen, das die Polizei annimmt. Die Eskalation spitzt sich zu.“ Und so ist der Ausblick düster. 2011 sollte das Jahr der Ultras werden. Und es wurde es auch, nur auf eine ganz andere Art als gewünscht. 2012, hofft Gabler, könnten beide Seiten dennoch zum Dialog zurückfinden. Auch aufseiten der Ultras gebe es nicht wenige, die trotz der Enttäuschung über die Pyro-Initiative erkennen würden, dass sich nur mit Gesprächen etwas erreichen ließe. Außerdem sei Pyrotechnik nicht das einzige Thema, über das man wieder in den Dialog treten könne. Beim Fankongress im Januar sieht Gabler eine Chance. Erwartet werden auch Vertreter des DFB.

Der Tiroler Weg

– Hierzulande stocken die Verhandlungen um Pyrotechnik – bei Wacker Innsbruck dürfen die Fans schön länger legal zündeln

Berlin (dapd). Die Problembeziehung steht vor dem Aus: Im Juli noch saßen Fanvertreter und Deutscher Fußball-Bund an einem Tisch und verhandelten über eine „Roadmap“ in Sachen Pyrotechnik. Nun werfen die Fans dem DFB Wortbruch vor. Der wiederum hat erklärt, „zu keinem Zeitpunkt Zusagen“ für eine mögliche Legalisierung gemacht zu haben und monierte „21 registrierte Verstöße“ während des „Waffenstillstands“ zu Saisonbeginn. Vermehrte Vorfälle in den letzten Wochen mit teils Schwerverletzten haben die Initiative weiter zurückgeworfen. Es scheint ausgeschlossen, dass die angestrebten Pilotprojekte das OK des Verbands erhalten werden.

Das Nachbarland Österreich hat eine ähnliche Geschichte bereits hinter sich, mit Annäherung, enttäuschten Erwartungen und erneuter Entfremdung. Doch findet sich hier auch ein Gegenbeispiel für die These, dass kontrolliertes Abbrennen in einem vollen Block nicht möglich sei: Beim Bundesligisten Wacker Innsbruck dürfen die Fans bereits in Absprache mit den lokalen Behörden Pyrotechnik benutzen.

Clemens Schotola ist Journalist beim österreichischen Fußballmagazin „ballesterer“ und Szenekenner bei Wacker Innsbruck. Der 32-Jährige bestätigt, dass bei Wacker schon seit rund fünf Jahren eine lokale Ausnahmegenehmigung Anwendung findet. „Am Tivoli darf auf der Nordtribüne Pyrotechnik gezündet werden, unter bestimmten Voraussetzungen“, sagt er.

Die Bengalischen Feuer müssen ein CE-Kennzeichen haben, wie im österreichischen Pyrogesetz festgelegt. Außerdem dürfen die Innsbrucker Fans ihre Fackeln nur im möglichst zuschauerfreien Raum mit genügend Sicherheitsabstand anwenden, konkret unten am Zaun. „Das ist ohnehin da, wo man sie als Ultra zünden will“, sagt Schotola. Die Behörden sind im Vorfeld genau informiert über die Anzahl der Fackeln und nehmen diese ab, im Gegenzug dürfen die Fans auch während des Spiels zünden. Feuerwehr und Security stehen mit Sandkübeln für den Notfall bereit.

Seit Einführung dieser lokalen Praxis habe es nur einen Verstoß bei Wacker gegeben, sagt der Szenekenner. In der Saison 2004/05 warf ein Fan eine Fackel unkontrolliert in den Innenraum. „Er wurde von der Fanszene rausgefischt und rausgeworfen“, sagt Schotola und nennt das die „Selbstreinigungskräfte der Kurve“. Sie hat auch Eintracht Frankfurts Klubchef Heribert Bruchhagen in dieser Woche angemahnt, nachdem Fans beim Spiel in Dresden wilde Zündelei beklatscht hatten. Dass unabhängig von Verboten bei mehreren Tausend Besuchern immer eine gewisse Gefahr besteht, betonen auch die deutschen Ultras. „Passieren kann immer etwas“, sagt etwa Jannis Busse von der deutschen Initiative. Der DFB betont seinerseits, dass die Sicherheit der Besucher höchste Priorität habe.

Der Wille zur Zusammenarbeit sei entscheidend, sagt Wacker-Fan Schotola: „Der Verein muss wollen, die lokalen Behörden müssen wollen. Und die Fans müssen wollen.“ Auch in Österreich hatte sich eine landesweite Fan-Initiative formiert, nachdem im Januar 2010 ein verschärftes Pyrotechnikgesetz in Kraft getreten war. Nach anfangs erfolgversprechenden Verhandlungen mit Liga und Verband seien die Fans an die Behörden verwiesen worden. „Im Endeffekt ist es an den Auflagen gescheitert“, sagt Schotola. Dazu habe ein Drei-Meter-Sicherheitsabstand gehört, den die Ultras als „unrealistisch“ zurückwiesen. „Heute wird vor allem auswärts wieder viel wild gezündet“, sagt Schotola. Was per se eine größere Gefährdung der Umstehenden mit sich bringe als kontrolliertes Abbrennen, da der Zündler die Fackel möglichst schnell wieder loswerden wolle, um unerkannt zu bleiben.

Ähnlich wie nun in Deutschland hat sich die Lage auch in Österreich nach dem Scheitern der Verhandlungen wieder verschärft. Beim Wiener Derby im Mai bewarfen Rapid-Fans, die das Spielfeld gestürmt hatten, den Austria-Block mit Bengalos, mindestens zwei Fans wurden verletzt. Unter dem Vorfall litt erwartungsgemäß der Ruf des harten Fankerns generell, so auch der Ultras. „Wenn du eine sichtbare Gruppe bist, wirst du immer Ziel von Pauschalisierungen“, sagt Schotola. Er selbst wurde angeklagt, weil zwei Wacker-Fans beim Spiel bei Austria Wien im August 2010 Knallkörper geworfen hatten und Schotola als einziger Ansprechpartner und Verantwortlicher bei den Behörden registriert war. Erst in zweiter Instanz wurde er freigesprochen.

In Deutschland hat die Zahl der gefährlichen Vorfälle in den letzten Wochen wieder zugenommen. Besonders der Knallkörperwurf beim Derby Osnabrück-Münster sorgte für Wirbel, 24 Personen wurden verletzt, einige von ihnen schwer. Mitgereiste Rostocker produzierten beim Spiel in Frankfurt ebenfalls reichlich Negativ-Schlagzeilen durch Raketenabschüsse. Ein Zuschauerausschluss für zwei Auswärtsspiele war in beiden Fällen die Folge, veranlasst durch den DFB.

In Österreich liegen die Gespräche zwischen Offiziellen und Fans – genau wie hierzulande – auf Eis. Außerhalb von Innsbruck ist die Lage oft ähnlich wie vor Formierung der Initiative. Eine Fortsetzung der Problembeziehung unter schlechten Vorzeichen droht auch in Deutschland.

Rauchzeichen in der Kurve

– Ultras und DFB verhandeln um Legalisierung von Pyrotechnik – derzeit gibt es einen Waffenstillstand

Berlin (dapd). Die Grafiker der Kampagne haben für das Logo jenes Farbschema ausgewählt, in das sich die Ultra-Bewegung gezwängt sieht: schwarz und weiß. Drei junge Männer, Kappe, Kapuze, Fanschal, halten drei Fackeln in die Höhe, deren Flammen sich zu einem gemeinsamen, großen Feuer umschlingen. Darunter das Motto: „Pyrotechnik legalisieren, Emotionen respektieren.“

Vereinstreue, Choreografien, Dauersupport auf der guten Seite, Gewaltbereitschaft, Kritikunfähigkeit und eben auch gefährliche Zündelei auf der anderen. Das sind die Attribute, die in der Bewertung dieser bis ins Extreme treuen Fans meist gegeneinander gestellt werden. Die Zwischentöne sind kompliziert.

Die deutschen Ultras haben sich für den komplizierten Weg entschieden. 56 der notorisch rivalisierenden Fangruppen sind gemeinsam losmarschiert im Herbst 2010. Auf der „Fandemo“ in Berlin im Oktober hatten sie sich schon ein bisschen beschnuppert, danach formierte sich das Bündnis, das sich vorgenommen hat, die Verwendung von Bengalischen Feuern aus der kriminellen Ecke zu holen.

Erster Bundesligaspieler hat sich solidarisiert

Über 100 Fanvereinigungen haben sich bereits solidarisiert, auch sechs Fußballklubs unterstützen die Aktion, darunter Zweitligist Dynamo Dresden. In der vergangenen Woche bekannte sich Mathias Abel vom 1. FC Kaiserslautern als erster Profi zur Initiative. „Pyrotechnik beflügelt die Mannschaft und die einzelnen Spieler. Kontrolliert kann es eine sinnvolle Sache sein“, sagte Abel.

Die Ultras haben es bis an den Verhandlungstisch mit dem DFB geschafft, schon das darf als Erfolg gelten. Denn der Verband vertrat in den letzten Jahren eine Politik der geringen Toleranz gegenüber Zündlern, denen im schlimmsten Fall Stadionverbote und Zivilklagen drohten. „Dass wir so schnell mit dem DFB zusammensitzen würden, hätten wir ehrlich gesagt nicht erwartet“, sagt Jannis Busse, ein Sprecher der Initiative von den Ultras Hannover, der dapd Nachrichtenagentur.

Zwei Treffen fanden nach dapd-Informationen bereits statt, beide in der DFB-Zentrale in Frankfurt am Main, das erste kurz vor dem Ende der vergangenen Saison, das zweite Anfang Juli. Zunächst ging es um gegenseitiges Beschnuppern, dann um einen konkreten Fahrplan.

Heraus kam zunächst ein Waffenstillstand. An den ersten drei Spieltagen verzichten die Ultras auf Pyro-Aktionen – als Zeichen des guten Willens. „Noch ist nichts erreicht, im Gegenzug haben wir dem DFB natürlich noch nicht die Freigabe von Pyrotechnik abgerungen“, sagt Jannis Busse. Doch die Ultras hoffen, dass der Verband, wenn die Kurven tatsächlich rauch- und böllerfrei bleiben, grünes Licht für den nächsten Schritt gibt. Der könnte so aussehen, dass Verein, Ordnungsamt und Fans eine „lokale Genehmigungspraxis“ erarbeiten. Es geht darum, wann und wo Pyrotechnik erlaubt wird, zum Beispiel in bestimmten Bereichen der Kurve vor dem Spiel.

„Paar Sturköppe, die von nichts abrücken“

Es wäre eine kleine Revolution in der Fankurve. „Nach jahrelangem Nicht-Verhältnis und Missverständnissen zwischen DFB und Ultras ist das jetzt ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt Busse.

Der Ende August scheidende DFB-Sicherheitsbeauftragte Helmut Spahn war auf dapd-Anfrage in dieser Woche nicht zu erreichen. Auf Fanseite bekam man den Eindruck, dass der DFB von der geschickten Verhandlungsführung bei den beiden Treffen überrascht war. „Sie dachten wohl, da kommen ein paar Sturköppe, die von nichts abrücken wollen“, sagt ein Gesprächsteilnehmer.

Doch es gibt Entgegenkommen von den Fans: „Schluss mit Böllern, Kanonenschlägen und sonstigen Knallkörpern“, sagen sie. Vor den Gesprächen hatte Spahn unmissverständlich klargemacht, dass die Sicherheit der Zuschauer „oberste Priorität“ hat. Denn der weite Begriff der Pyrotechnik umfasst nicht nur schön und bunt qualmenden Rauch. Einige verstehen darunter auch das Detonieren von hochgefährlichen „Polenböllern“, im Ausland gefertigter Feuerwerkskörper mit höchster Sprengkraft.

Dass sich die „Initiative Pyrotechnik“ von diesen Krachern distanziert, ändert nichts an der latenten Gefahr. „Ganz unabhängig von einer Legalisierung kann immer etwas passieren“, sagt Jannis Busse. Erst am 34. Spieltag der vergangenen Saison schmiss ein Fan in der Kaiserslauterer Westkurve einen Böller in die Menge, es gab mehrere Verletzte.

Eine Fankurve sei kein Puppentheater, sagt einer der Unterstützer der Kampagne. Nicht jeder lasse sich von den Ultras was sagen. Alle Beteiligten wissen: Passieren kann immer was. Denn neben guten Vorsätzen gibt es auch bösen Willen.

Rauchzeichen in der Kurve

– Der Einsatz von Pyrotechnik in den Fankurven wird hart bestraft. Nun wollen 55 deutsche Ultra-Gruppierungen eine legale Lösung erstreiten – der DFB setzt sich erstmals mit ihnen an einen Tisch.

Berlin (Tsp) – Als die Glocken läuteten, fing es an zu rauchen. Und als ein paar Sekunden später die ersten Riffs des Hardrock-Klassikers „Hell’s Bells“ aus den Boxen fetzten, zog bereits dicker weißer Qualm über den Gästeblock am Hamburger Millerntor. Der weiß gefrorene Rasen erschien in einer surrealen Tönung aus Feuer, Rauch und Flutlicht.

„Wir wollten zeigen, dass es nicht gleich Schwerverletzte geben muss, wenn Bengalos abgebrannt werden“, sagt Christian von der Lauterer Ultragruppierung „Pfalz Inferno“. Die Aktion der FCK-Fans zum Spiel ihrer Mannschaft beim FC St. Pauli war nur eine von vielen der letzten Wochen – auch an diesem Wochenende in Berlin waren bei Hallenturnieren wieder Transparente pro Pyrotechnik zu sehen.

Die deutschen Ultras, jene Fans also, die sich als harter Kern der Fankurven und Zentrum des Supports sehen, machen mobil. 55 Ultragruppen aus dem ganzen Land haben die Kampagne „Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren“ ins Leben gerufen. Sie wollen künftig auf den Rängen ganz legal Bengalos und Rauchtöpfe zünden dürfen. Dafür distanzieren sie sich in ihrem offiziellen Statement von „Böllern, Kanonenschlägen und sonstigen Knallkörpern“ wie Leuchtspurmunition und stellen klar: „Pyrotechnik gehört in die Hand, auf keinen Fall in die Luft und nach Möglichkeit nicht auf den Boden.“

Über 60 Fangruppen haben sich seit Beginn solidarisiert, Drittligist Dynamo Dresden unterstützt die Bemühungen der Fans als erster Profiverein. Der Schulterschluss der Fans quer durch die Vereinsszenen hat bereits das erste Ziel erreicht und eine Diskussion um Pyrotechnik in den Stadien losgetreten. Nun hat also auch der deutsche Fußball eine Rauchdebatte. Das vielleicht Erstaunlichste: Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat Gesprächsbereitschaft signalisiert. Helmut Spahn, seit Ende 2006 DFB-Sicherheitsbeauftragter und Hauptabteilungsleiter Prävention und Sicherheit, will sich in den kommenden Wochen mit den Fans an einen Tisch setzen. „Es sieht alles danach aus, dass wir uns bald treffen“, sagte Spahn. In der Vergangenheit hatte sich der Dialog zwischen Offiziellen und Fußballfans meist auf das Aussprechen von Sanktionen beschränkt. Noch Mitte September war der Chemnitzer FC am Verbandsveto gescheitert, obwohl eine geplante Pyro-Show beim Spiel gegen den VfB Lübeck von den örtlichen Behörden bereits genehmigt worden war. Der Antrag sei zu kurzfristig eingetroffen, teilte der DFB mit.

Doch nun ist Bewegung in die Sache gekommen. Die rivalisierenden Ultragruppen sind sich bei der Fandemo am 9. Oktober in Berlin näher gekommen. „Das war der erste große Schritt in Richtung Zusammenarbeit“, sagt Fossa von den „Harlekins Berlin“. Die Ultragruppe von Hertha BSC gehört zu den Erstunterzeichnern der Pyro-Erklärung – ebenso wie die „Hammerhearts“ und das „Wuhlesyndikat“ des Stadtrivalen 1. FC Union. Auf der Website der „Harlekins“ prangt ein Foto der Kaiserslauterer Westkurve mit zig brennenden Bengalos. „Für uns ein absolutes Sinnbild für die Entwicklung der Pyrotechnik in Deutschland“, sagt Fossa. „In den Neunzigern wurde auch bei praktisch jedem Hertha-Spiel gezündet.“ Bengalos und Rauchtöpfe sind für ihn „ein klassisches Stilmittel“ der Kurve.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite sind zahlreiche Vorfälle aus den letzten Jahren zu nennen, bei denen Pyrotechnik außer Kontrolle geraten ist. Bilder, die Zuschauer und Verbände empört haben, wie die vom EM-Qualifikationsspiel aus Genua, als Vermummte aus dem serbischen Block qualmende Fackeln aufs Spielfeld warfen, Bilder von gestandenen Spielern, die weinten wie kleine Kinder. Die Ultras stemmen sich auch gegen ihren eigenen Ruf, der durch die gefährlichen Zündeleien gelitten hat. Auch in Deutschland. Ende Februar 2010 beispielsweise erlitten mehrere Menschen beim Bundesligaspiel des VfL Bochum gegen den 1. FC Nürnberg schwere Verbrennungen, als im Gästeblock mit Magnesiumpulver hantiert wurde. „Das hat mit einer geilen Pyro-Show nichts zu tun, sondern ist nur extrem gefährlich“, sagt Christian vom „Pfalz Inferno“.

Doch unter den Ultras herrscht noch lange kein Konsens. Einige wichtige Gruppen beteiligen sich nicht an der Initiative; aus Frankfurt am Main etwa, wo die Szene enormen Zulauf hat, kommt keine Solidarität. „Viele Gruppen beschäftigen sich mit Nebensächlichkeiten“, kritisiert Fossa von den „Harlekins“. „Es geht nur noch um Gewalt, Außendarstellung, Posen, Selbstdarstellung, darum, wer die Härtesten oder Gefährlichsten sind.“ Das gehe am ursprünglichen Ultragedanken „weit vorbei“, demzufolge der Blick sich nur auf die eigene Kurve richten solle. Dass selbst am gemeinsamen Aktionswochenende aus einigen Kurven Kanonenschläge flogen, wirft die Frage auf: Lässt sich kontrolliertes Abbrennen überhaupt praktisch umsetzen? Und wie lässt sich verhindern, dass der mühsam erkämpfte Verhandlungserfolg – wenn er zustande kommt – mit Böllerwürfen oder Leuchtraketen wieder aufs Spiel gesetzt wird? „Eine Fankurve ist kein Puppentheater, über dem man sitzt und alle nach den Fäden tanzen lässt“, gibt Fossa zu, „nicht jeder lässt sich von der Ultragruppe was sagen.“ Es werde auch darum gehen, die Kurve zu sensibilisieren und hinter der Initiative zu versammeln. „Da wird sich die Kraft und die Stärke der aktuellen Bewegung zeigen.“ Bei Hertha bemühe sich beispielsweise der „Förderkreis Ostkurve“ um eine bessere Kommunikation zwischen den Fangruppen.

„Es wäre schade, wenn einzelne Chaoten unsere Arbeit zunichte machen“, sagt auch Christian vom „Pfalz Inferno“, der „Aufklärungsarbeit bei den anderen Fans“ fordert. Wenn Fossa von Pyrotechnik redet, fällt oft das Wort „Leidenschaft“. Auch darum werde es gehen. Denn eine allzu sterile Lösung kann man sich auf Ultraseite nicht recht vorstellen. „Leidenschaft ist definitiv nur im Block möglich“, erklärt das Mitglied der „Harlekins“. „Sich stur vor die Kurve zu stellen, ein Bengalo hochzuhalten und es dann in einen Eimer zu packen, hat wenig mit Leidenschaft zu tun.“

Beispielhaft ist die Entwicklung in Chemnitz, wo der Dialog zwischen Fans und Behörden bereits genehmigte Pyro-Aktionen möglich gemacht hat. „Die Erfahrungen sind durchweg positiv“, sagt Kay Herrmann, Leiter des Chemnitzer Fanprojekts. Schon dass die Ultras mit der Polizei zusammenarbeiteten, sieht er als gute Entwicklung. Planen die Fans des Viertligisten für ein Spiel eine Bengalo-Aktion, erstellen Fans, Verein, Polizei, Ordnungsamt, Fanprojekt und Fanbeauftragte ein Konzept. Weil die Stadien in der Bundesliga um ein Vielfaches größer sind, sieht Kay Herrmann die Lösung in einer „lokalen Genehmigungspraxis“, bei der die örtlichen Behörden entscheiden, was wo zugelassen wird.

In Österreich gibt es bereits eine landesweite Lösung. Seit dieser Saison dürfen dort in designierten Bereichen in den Kurven bengalische Feuer abgebrannt werden – das Resultat einer Faninitiative. „Das ist fast die Optimallösung, die man hier in Deutschland erreichen könnte“, sagt Fossa, der hofft, dass es von Seiten des DFB „nicht bei Lippenbekenntnissen bleibt“. Sicherheitschef Helmut Spahn gibt der Sicherheit der Zuschauer „oberste Priorität“, kündigte aber an, „ohne Vorbehalte und ergebnisoffen“ in die Diskussion gehen zu wollen. Sonst wäre es am Ende auch allzu viel Rauch um nichts gewesen.