Eine richtige Postbotin

Du willst die Post austragen, haben sie gefragt und gelacht, du, ein Mädchen, ein türkisches Mädchen? Na klar, hat sie gesagt, unsere Ministerin ist doch auch eine Frau, was ist schon dabei. Nazan Özbek lacht: Tansu Çiller, kennen Sie die noch?

1993 war das, die Türkei hatte eine Frau als Ministerpräsidentin, und der Wedding hatte eine türkische Postbotin. 1993, Nazan Özbek weiß das noch genau. Zahlen sind kein Problem. Auf die Briefe fürs Seniorenheim hat sie eben noch schnell die Nummern der Wohnungen gekritzelt, in dünner Bleistiftschrift, das spart ein paar Sekunden.

Ursprünglich, sagt Nazan Özbek, wollte sie Polizistin werden, aber das ging nicht, Schuld war ihr Pass, der damals noch türkisch war. So ging sie zur Post. Ihr Zustellbezirk hat die Nummer 10: Gerichtstraße, Ruheplatzstraße, Antonstraße, zurück auf die Ruheplatzstraße und dann rauf auf die ewig lange Schulstraße, das ist ihre Route. Immer vor sich herschiebend den Security-Zustellwagen, so nennt die Post das. Er sieht aus wie ein großer gelber Rasenmäher, darin sind Platz für drei Plastikkästen voller Briefe, zwei kleine Kästen sind das und ein großer, für die A4-Sachen.

Security, ein Name wie von einer Versicherungsfirma, wie ein todsicheres Versprechen, aber das Versprechen ist nur ein winziges Schloss an der Vorderseite. Vor ein paar Wochen, Nazan Özbek stopfte gerade wieder in einem Hinterhof Kuverts in die Schlitze, da haben sie ihr vorne die Klappe des Wagens aufgerissen und einen der Schlüsselbunde geklaut. Nur die Schlüssel, sagt sie, keine Ahnung, was die damit wollen.

Sie hat dann an die Hausverwaltungen geschrieben, aber bisher ist nichts passiert. Weswegen sie jetzt, in der Antonstraße, mal wieder darauf warten muss, dass ihr jemand aufmacht. Das sind die Minuten, die ihr nachher fehlen werden, Minuten, die für Esra gedacht waren, ihre Tochter. E, S, R, A, die Mutter buchstabiert es sorgsam, sie ist für mich alles. Wie mein Auge.

Zwölf ist Esra im Mai geworden, aber sie geht schon in die siebte Klasse. Manchmal hilft Nazan Özbek ihr abends bei den Hausaufgaben, aber oft ist die Mutter auch einfach nur müde, total kaputt nach fast elf Stunden im Dienst. Vor halb sechs komme ich selten raus, sagt sie. Mehr als zehn Minuten dauert die Mittagspause eigentlich nie.

Heute hat sie um sieben Uhr früh damit begonnen hat, ihren Arbeitstag aus den gelben Boxen zu nehmen und in die Fächer mit den Hausnummern zu stecken. Rot, blau, gelb, jede Straße hat eine andere Farbe, nur die Schulstraße ist weiß, das ist schön, sagt Nazan Özbek, weiß, das ist meine Lieblingsfarbe. Zweieinhalb Stunden steckt sie Briefe, Magazine, Werbeprospekte in die engen Fächer, jeden Morgen, bevor es hinausgeht auf die Straße.

Vor dem Zustellstützpunkt Gerichtstraße, einem fünfstöckigen Backsteinbau, ist es da noch ruhig, der Wedding döst noch ein bisschen, aber drinnen ist längst alles wach, alles laut. Kisten stapeln sich zwischen zwei Meter hohen Trennwänden, die Gänge sind eng, ständig steht man im Weg, dürft ich mal, danke. Nazan Özbek steht in ihrem winzigen Bereich, eine kleine Frau mit dunklem Pferdeschwanz, sie trägt ein weites, postgelbes Hemd und eine dunkelblaue Hose mit großen Seitentaschen für die Einschreiben, Einschreiben werden immer am Körper getragen, alte Postregel. Aber vorher noch einscannen, einmal um die Ecke, schräg über den drei Scannern hängt ein Poster, darauf ist die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zu sehen und auch die türkische. Başarılar dileriz, steht dazwischen, das bedeutet: Wir wünschen euch viel Glück. Sieben türkischstämmige Kollegen hat sie hier, alles Männer. Ein paar Frauen gibt es auch, aber alle im Innendienst. Ich gehe raus, sagt Nazan Özbek, ich bin eine richtige Postbotin!

Sie hat sich auch mal für den Innendienst beworben, hatte extra einen EDV-Kurs gemacht, 1997 war das, ein Jahr lang, immer sonntags, Abschluss mit sehr gut, aber dann sagte der Chef, dass er doch niemanden brauche für drinnen.

Ihre Turnschuhe kauft sie immer eine Größe größer als normal, die Füße, sie werden dick mit der Zeit. Schwarz sind die Schuhe, nur das Nike-Zeichen auf den Fersen, das ist gelb wie die Post.

Um 9:24 Uhr lässt Nazan Özbek den Zustellwagen in den Lastenaufzug rumpeln. Oben auf dem Briefstapel eine H&M-Tüte mit einer silbernen Thermoskanne, in der nur Wasser ist, und ein Päckchen Tempos. Sie war krank gewesen, ein paar Tage, und als sie zurückkam, waren die meisten der roten Gummibänder weg, mit denen sie die Briefe zusammenschnürt, und auch die Aufkleber mit den Hausnummern hatte jemand von den Schlüsseln gerissen. Ich arbeite ganz schön sauber, sagt Nazan Özbek.

Um 9:53 Uhr hat sie die Laufhäuser an der Gerichtstraße schon hinter sich und parkt den gelben Wagen vor der Ruheplatzstraße 24. Laufhaus, so nennen sie bei der Post einen Aufgang, bei dem die Schlitze noch in den Wohnungstüren sind und nicht unten im Erdgeschoss. Dann müssen die Zusteller all die Treppen hoch, in den muffigen Altbauten. Allzu viele Laufhäuser liegen nicht auf Nazan Özbeks Route. Dafür ist sie länger als andere Strecken.

Rund 145 Aufgänge liegen vor dem Feierabend, jeden Tag, 1.719 Haushalte, Nazan Özbek hat extra noch mal nachgezählt, darunter drei Heime, an manchen Tagen sind das 7.000 Zustellungen. Und wenn die Leute in ihrem Bereich zu wenig Post bekommen, dann kriegt sie am Ende des Jahres ein paar Hausnummern dazu, acht waren es beim letzten Mal. Wieder ein paar Meter mehr für die Füße in ihren winzigen Nike-Schühchen. Schnell laufen sie zwischen den Stopps, man kann kaum Schritt halten.

Ich bin alleinerziehende Mutter, sagt Nazan Özbek, das ist die Antwort.

Mit zwölf ist Nazan Özbek nach Berlin gekommen, vor 30 Jahren also, aus Izmir, kennen Sie Izmir, fragt sie, es ist wunderschön dort. Aus der Türkei kam auch ihr Mann. Drei Wochen hatten sie, um sich kennenzulernen, ein Jahr nach der Hochzeit zog er zu ihr nach Deutschland. Die Geschichte von Nazan Özbeks Ehe ist kurz, sie erzählt sie zwischen drei Aufgängen, aber sie will nicht, dass sie in der Zeitung steht. Wegen Esra. Wie eine Blume, sagt die Mutter, so erziehen wir Esra. Kinderärztin will sie werden, die Tochter der Postbotin. Studier mal, hat ihre Mutter ihr gesagt, dann hat wenigstens eine von uns beiden studiert.

Ihre Eltern, Esras Großeltern, die haben früher bei Siemens gearbeitet, beide, ihr Vater als Dreher, die Mutter am Band, mit einem Lötkolben in der Hand und einer großen Lupe vor dem Auge, so winzig waren die Teile. Meine Mutter hat mir später sehr geholfen, sagt Nazan Özbek, ich musste ja immer arbeiten.

Im Hof der Volkshochschule stehen sie und rauchen, Deutschkurse ab 9 Uhr. Nazan Özbek hat nie einen Kurs gemacht, sie hat die Sprache in der Schule gelernt, wie alle Türken damals, quasi nebenbei. So wie sie sich das Kochen beigebracht hat, einfach zugeschaut hat sie der Mutter. Ich habe immer alles alleine gemacht, sagt Nazan Özbek, meine Eltern konnten doch so wenig Deutsch und hatten so viel zu tun.

Auf der anderen Seite der Kreuzung, vor dem italienischen Restaurant, grüßt sie im Vorbeigehen schnell noch einen Mann im Galatasaray-Trainingsanzug, auf Türkisch, ein kurzes Lächeln. Danke, die Po-hoost, ruft Nazan Özbek ansonsten in die steilen Aufgänge, wenn jemand endlich den Summer gedrückt hat. Und dann schnell weiter. Manchmal gibt’s nette Kunden, sagt sie, die drücken, wenn sie mich sehen.

Sie macht immer die gleiche Strecke. Das hilft. Wenn du anfängst, als Springer, dann kennst du die Routen nicht, du bist der Lückenbüßer, wenn ein Zusteller krank ist oder frei hat, sie setzen dich ein, wo du gerade gebraucht wirst. Insgesamt sieben Jahre war sie Springer, von 1992 bis 1997 und dann noch mal nach Esras Geburt, von 2003 bis 2006. Da ging sozusagen alles nochmal von vorne los.

Um 10:58 Uhr hat Nazan Özbek die Post fürs Bezirksamt zugestellt, dessen Eingang unter dem riesigen Baugerüst und den Staubplanen kaum zu erkennen ist, und biegt links in die Schulstraße ein. Ich kenne den ganzen Wedding, sagt sie, besser als Reinickendorf, wo ich wohne, Sprengelkiez, Brunnenviertel, Osloer, ich war hier schon überall unterwegs. Nicht überall war es so ruhig wie hier. An der Sprengelstraße damals, die Messer, die Jugendlichen, die haben sich gestritten, da hatte ich immer Angst, sagt Nazan Özbek, aber passiert ist nie was, zum Glück.

Und einmal stand vor einem Haus schon die Feuerwehr, aus dem ersten Stock kam dunkler Rauch, aber die Post, die haben die Leute an dem Tag trotzdem bekommen.

Ich bin Fisch, sagt Nazan Özbek, mit einem Bein schon im nächsten gefliesten Hauseingang, Fisch wie Albert Einstein. Fisch ist das einzige Sternzeichen, bei dem Männer und Frauen gleich sind. Geburtstag, sagt sie, habe ich am gleichen Tag wie mein Vater, Superzufall, oder? Zuverlässig, treu, großzügig, sagt Nazan Özbek, so sind die Fische. Sie wirft den letzten Brief in den Kasten. Auch sensibel, sagt sie leise.

Dann rollt der gelbe Rasenmäher schon wieder übers Pflaster, immer die lange, laute Schulstraße hinunter. Wenn man jeden Tag draußen arbeitet, sagt Nazan Özbek, wird man auch fröhlich. Merken Sie, ich lache immer!

(erschienen im September 2013 auf Tagesspiegel.de)

Hiddink beschwört zum Abschied eine jugendliche Zukunft

– Der scheidende türkische Nationaltrainer schwärmt von den jungen Deutsch-Türken – Kein „Houdini-Trick“

Zagreb (dapd). Alle warten auf das, was nun kommen wird. Auf das, was kommen muss. „Schalten Sie ihre Mobiltelefone aus!“, hat der Pressesprecher des türkischen Verbandes soeben der dicht gedrängten Versammlung befohlen, und auch Guus Hiddink leistet Folge. Verstohlen steckt der Cheftrainer sein abgeschaltetes Handy in die Innentasche seines Sakkos. Das Dienstgerät ist aus, das Spiel ist es schon länger, die Türkei in den EM-Playoffs klar an Kroatien gescheitert. Hiddink wird nun tun, was alle erwarten: Seinen Rücktritt bekannt geben.

Allein, diesen Gefallen tut der Niederländer den Medienvertretern nicht, an diesem Dienstagabend in Zagreb, exakt eine Woche nach seinem 65. Geburtstag. Erst auf Nachfrage sagt er überhaupt etwas zu seiner Zukunft: „Die Möglichkeit ist groß, dass dies mein letztes Spiel mit der Türkei war“, sagt Hiddink. Später spricht er allgemein von einer „Auszeit“, die er sich nehmen wolle, „um selbst in meinem Alter darüber nachzudenken, wie meine Zukunft aussieht“. Mit feiner Ironie lässt der Niederländer im Moment des Scheiterns die türkische Presse ins Leere laufen. Erst am kommenden Tag wird sie die Nachricht bekommen, nach der es sie dürstet.

Am Dienstagabend jedoch nutzt Hiddink noch die ungeteilte Aufmerksamkeit, um seine eigene Botschaft zu platzieren. Dieses Rückspiel in Zagreb, bei dem sein Team nach dem 0:3 von Istanbul unterm Strich chancenlos geblieben ist, begreift er nicht als Ende, sondern als Anfang. „Ich denke, wir können stolz auf dieses junge Team sein, und Sie sollten es auch sein“, sagt der Coach und blickt mit wachen Augen in die Runde. Acht Neue hatte Hiddink gegenüber dem Hinspiel in die Startelf genommen, teils um die vielen Gelbgesperrten zu ersetzen, teils wohl auch, um ein klares Zeichen für die Jugend zu setzen. „Wenn Sie heute von Versagen sprechen, weiß ich nicht, ob Sie einen realistischen Blick auf den Fußball haben“, bügelt er einen türkischen Journalisten ab. Kurze Pause. „Ich bezweifele es.“

Hiddink schwärmt von den Deutsch-Türken

Besonders lobt Hiddink die Deutsch-Türken. Er bedaure, dass Nuri Sahin und Mehmet Ekici nicht hätten dabei sein können. „Ömer Toprak machte sein erstes Spiel. Gökhan Töre ist erst 19 Jahre alt. Sie haben sich sehr gut verkauft“, sagt Hiddink. Der 22-jährige Leverkusener Verteidiger hatte bei seinem ersten Einsatz für das Heimatland seiner Eltern gleich in der Startelf gestanden, HSV-Dribbler Töre war bereits nach 36 Minuten ins Spiel gekommen. „Als ich dieses Projekt angefangen habe, hatten wir einige Ziele. Hauptsächlich ging es darum, das Team jünger zu machen“, sagte Hiddink. „Wenn das mit der Qualifikation für die EM einhergegangen wäre, umso besser. Aber das war keine unmittelbare Forderung. Deshalb habe ich mir nichts vorzuwerfen.“

Nach fast 30 Jahren im Trainergeschäft ist ihm natürlich bewusst, dass solche Zielsetzungen für die Öffentlichkeit wenig taugen, und besonders wenig in der traditionell fußball-hysterischen Türkei. Seinen vielleicht letzten öffentlichen Auftritt als Nationalcoach nutzt der Holländer auch deshalb dazu, für Nachhaltigkeit zu werben. Er kritisiert die Arbeit der türkischen Vereine, lobt „Frankreich, besonders Deutschland und Holland“, wo die Vereine gezwungen seien, jungen Spielern eine Chance zu geben. „In der Türkei basiert derzeit alles auf einzelnen Erfolgen: Haben wir es geschafft oder nicht?“

Kein „Houdini“ in Zagreb

Das sei nicht der Weg, mahnt Hiddink und wird dann noch fast philosophisch: „Die Ausbildung der Jungen ist der Schlüssel. Wir dürfen uns nicht beherrschen lassen von den Emotionen des Tages.“

Vier Tage hatte Hiddink nach dem 0:3-Debakel von Istanbul Zeit, sich auf diesen Auftritt vorzubereiten. Ebenso wie seine junge Elf hatte er nichts zu verlieren. Seine Ideale hat er noch einmal vehement verteidigt. Sein Amt konnte er nicht retten. Dazu hätte es schon des von ihm nach dem Hinspiel beschworenen „Houdini-Tricks“ bedurft. An den aber hat vielleicht nur manch Abergläubischer auf den Rängen geglaubt, in dem Moment, als Selcuk Sahin kurz nach der Halbzeit seine feuerroten Handschuhe genau auf der Begrenzung des Mittelkreises liegen ließ. Eine Art Voodoo-Ritual, das die Kroaten doch noch entscheidend lähmen würde? Am Ende nur eine Vergesslichkeit beim Schuhe schnüren.

Slaven Bilic schließt Türkei-Kapitel ab

– Kroatiens Coach und Ivica Olic sind die großen Gewinner der Playoffs

Zagreb (dapd). Am Ende der eiskalten Nacht von Zagreb wurde es dann doch noch feurig. An allen vier Seiten des Stadions Maksimir sprühten die Funken des Feuerwerks, mittendrin sprangen sie im Kreis, die „Vatreni“, wie die kroatischen Fußball-Auswahlspieler genannt werden, was übersetzt passenderweise etwa „die vor Leidenschaft Brennenden“ heißt. Nach dem beherzten Auftritt von Istanbul, der in einen 3:0-Sieg gemündet war, verlief das torlose Rückspiel in der kroatischen Hauptstadt am Dienstagabend bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auch spielerisch eher unterkühlt.

Trainer Slaven Bilic machte das nichts aus, im luftigen Anzug ohne Mantel bewältigte er die 90 Minuten, eifrig in der Coachingzone hin- und herlaufend. Auch die Lauffreude seiner Spieler stimmte erneut, jedenfalls nach zittriger Anfangsphase, weshalb sich die Kroaten völlig verdient für die EM 2012 qualifizierten. „Man hat der Mannschaft am Anfang schon angemerkt, dass wir Respekt vor einem frühen Gegentor hatten, was den Türken noch einmal Leben eingehaucht hätte“, erläuterte Bilic, „deshalb waren alle, die Spieler, ich und der Betreuerstab, sehr angespannt.“

Nach dem Spiel tat Bilic beim Tanz in den EM-Sommer eifrig mit. Der kroatische Trainer darf auch persönlich als Sieger der Neuauflage des Viertelfinales von Wien 2008 (4:2 nach Elfmeterschießen für die Türkei) gelten. „Es ist noch nicht vorbei, der Fußball ist unberechenbar“, hatte der 43-jährige ehemalige Bundesliga-Profi gleich nach dem deutlichen Hinspielsieg gemahnt. Zu früh jubeln, diesen Fehler wollte Bilic keinesfalls wiederholen. Damals, in Wien, war er nach Ivan Klasnics vermeintlichem Siegtor in der 119. Minute prompt auf die Jubeltraube seiner Spieler gesprungen. Doch dann kam Sentürks Ausgleich und das Ausscheiden im Elfmeterschießen. Und Bilic war in der Heimat plötzlich der, der die Mannschaft in ihrem gefährlich frühen Jubel unterstützt hatte.

Von Rache will Bilic nichts wissen

„Diesmal waren wir bis zum Ende konzentriert und haben nicht zugelassen, dass uns die Türkei rausschmeißt wie 2008 in Österreich“, sagte Darijo Srna. Bilic selbst wollte nach dem unfallfrei verlaufenen Rückspiel in Zagreb nichts wissen von einer besonderen Motivation. „2008 ist eine gute Geschichte für die Medien, aber wir wollten uns nur qualifizieren“, sagte der Coach, und etwas Ungeduld schwang in seiner Stimme mit. Schon wieder das leidige Thema! Das Wort „Rache“ habe im Sport keinen Platz, sagte Bilic.

„Heute ist Slaven ein König und wir sind eine Super-Mannschaft, so ist der Fußball“, fasste Bayern-Stürmer Ivica Olic augenzwinkernd die Gesetzmäßigkeiten zusammen und verwies auch auf den bevorstehenden Rauswurf von Bilics vormals hochgelobtem Gegenüber Guus Hiddink.

Großer Gewinner Olic

Neben Bilic ist Olic der große Gewinner dieser Playoffs. Vor mehr als einem Jahr hatte der Langzeitverletzte zuletzt in einer Startformation gestanden, am 9. Oktober 2010 gegen Israel. Und dann wieder in Istanbul, wo er in der zweiten Minute die Führung schoss. Er habe sich in drei Trainingseinheiten mit dem kroatischen Team richtig reingehängt, sagte Olic, und seinen Coach damit beeindruckt. „Dann hat er mir gesagt: ‚Ich muss dich bringen, es ist egal, dass du solange nicht gespielt hast.‘ Natürlich war das auch viel Vertrauen von ihm.“

Der Dauerkämpfer sorgte mit Sturmpartner Mario Mandzukic vom VfL Wolfsburg dafür, dass das türkische Spiel bereits im Aufbau ins Stocken geriet und fuhr im Hin- wie Rückspiel unermüdlich Konter. In der Winterpause wird er Bayern München wohl verlassen, um im EM-Jahr genügend Einsätze zu bekommen.

Bilic kann sich mit seiner Mannschaft nun in Ruhe auf die EM vorbereiten. Sein Stern steigt wieder. Es wird bereits spekuliert, dass er nach dem Euro-Turnier im Sommer zu einem Premier-League-Klub nach England wechselt. Der nächste logische Karriereschritt, auch finanziell. Nach der Niederlage in Griechenland Anfang Oktober, mit der die Kroaten die direkte Qualifikation verspielten, schien er als Nationaltrainer bereits erledigt.

Unbekannt ist derzeit noch, ob sein Trainer als Gitarrist mit seiner Rockband Rawbau erneut einen Turniersong einspielt. So wie 2008, als das eingängige Stück „Vatreno ludilo“ („Feuriger Wahnsinn“) zur inoffiziellen kroatischen EM-Hymne wurde. „Bilic ist ein guter Mann“, sagt der Kioskverkäufer in Zagreb, „aber der Song, naja, der war okay.“ Kritik am Trainer muss man dieser Tage in Kroatiens Hauptstadt diplomatisch formulieren.

„Viele mit meinen Anlagen gab es nicht“

– Yildiray Bastürk entschied sich, für die Türkei zu spielen – auch weil der DFB sich nicht für ihn interessierte

Berlin (dapd). Yildiray Bastürk, 1978 im westfälischen Herne geboren, absolvierte insgesamt 49 Länderspiele für die Türkei und wurde mit dem Heimatland seiner Eltern WM-Dritter 2002. Im Gespräch mit dapd-Korrespondent Johannes Ehrmann erklärt der 249-malige Bundesligaspieler, warum er nie für Deutschland auflief und spricht über die Unterschiede zwischen der Situation vor zehn Jahren und heute.

dapd: Der türkische Europa-Scout Erdal Keser betont immer wieder, dass die Entscheidung für eine Nationalmannschaft eine Herzensangelegenheit sein sollte. War es das für Sie damals?

Bastürk: Zu meiner Zeit war alles ja noch ein bisschen anders als heute, Spieler mit Migrationshintergrund gab es ja praktisch gar keine. Außerdem habe ich sehr früh, nämlich bei der U16, angefangen, für die Türkei zu spielen. Dann noch den Verband zu wechseln, war damals schwieriger als heute.

dapd: Hat sich der DFB nicht für Sie interessiert?

Bastürk: Erst anderthalb Jahre später, als ich 18 war. Ich spielte in der Westfalen-Auswahl und wurde rings um ein Länderspiel in Duisburg gefragt, ob ich Lust hätte, für Deutschland zu spielen.

dapd: Aber Sie hatten keine?

Bastürk: Ich hatte einfach schon einige Turniere mit den türkischen Spielern zusammen gespielt und viel Spaß mit der türkischen Mannschaft gehabt, von daher war die Sache schon erledigt für mich.

dapd: Wie war denn der erste Kontakt zum türkischen Verband zustande gekommen?

Bastürk: Das ging von mir aus. Ich habe meinen Jugendleiter bei Wattenscheid 09 gefragt, ob es die Möglichkeit gibt, den Kontakt zum türkischen Verband herzustellen. Zufällig war nur eine Woche später ein Sichtungslehrgang für 14- bis 17-Jährige in München. Der Jugendleiter fuhr mich und einen Mitspieler hin. Ich habe zwei Spiele gemacht, am Ende wurden vier oder fünf von sechzig Teilnehmern ausgewählt. Ich war dabei.

dapd: Kaum zu glauben, dass Ihre Nationalmannschaftskarriere auf eine persönliche Initiative zurückging.

Bastürk: Damals waren die Türkei aber auch Deutschland noch bei weitem nicht auf dem Stand wie heute, was die Sichtung betrifft.

dapd: Welchen Einfluss haben Ihre Eltern genommen?

Bastürk: Die haben sich eigentlich völlig rausgehalten, weil sie auch gar nichts von Fußball verstehen. Mein Bruder hatte Einfluss, aber es war meine eigene Entscheidung.

dapd: Das erste Länderspiel bestritten Sie als 19-Jähriger 1998 gegen Albanien, dann aber hatten Sie drei Jahre keinen Einsatz mehr für die A-Auswahl.

Bastürk: Ja, das stimmt. In der Türkei dachte man sich wohl, komm, den laden wir ein, dann haben wir ihn auf der sicheren Seite. Mustafa Denizli hat mich damals berufen, ich habe aber, glaube ich, nur zwei oder drei Minuten gespielt. Danach wurde ich dann zwei, drei Jahre lang in der türkischen U21 eingesetzt.

dapd: Hätten Sie sich auch eine Karriere im DFB-Trikot zugetraut?

Bastürk: Auf jeden Fall. Sehen Sie, ich habe ja mit 22 schon mit Bayer Leverkusen in der Champions League gespielt, mit 23 habe ich an der WM teilgenommen. Ich denke schon, dass ich auch in Deutschland meine Chance gehabt hätte, so viele Spieler mit meinen Anlagen gab es ja damals nicht.

dapd: Vor zehn Jahren herrschte in Deutschland im Gegensatz zu heute ein großer Mangel an kreativen Mittelfeldspielern.

Bastürk: Jürgen Klinsmann sagte später einmal, dass ein Mann wie ich der deutschen Mannschaft gut getan hätte. Aber die Zeiten waren eben andere, wie ich schon sagte. Spieler mit Migrationshintergrund gab es kaum im deutschen Team. Das fing ja gerade erst an, mit Gerald Asamoah zum Beispiel.

dapd: Rückblickend haben Sie vieles richtig gemacht mit Ihrer Entscheidung. 2002 wurden Sie sensationell WM-Dritter mit der Türkei. Ihre schönste Erinnerung der Karriere?

Bastürk: Das Jahr 2002 allgemein, die Saison mit Leverkusen und dann die WM mit der Türkei. Schon als wir uns nach fast 50 Jahren das erste Mal wieder qualifiziert hatten, war die Euphorie sehr groß. Die WM war ein großartiges Turnier mit einer großartigen Mannschaft: Hakan Sükür, Ilhan Mansiz, Bülent Korkmaz. Wenn Sie heute durch die Türkei fahren und die Leute nach der besten türkischen Mannschaft fragen, werden sehr viele das Team von 2002 nennen. Vergleichbar war die Begeisterung nur noch 2008 während der EM.

dapd: Da schied die Türkei erst im Halbfinale aus – gegen Deutschland. Sie waren nicht dabei, weil Fatih Terim Sie vor dem Turnier aus dem Kader strich.

Bastürk: Das war eine negative Erfahrung, die mich sehr lange begleitet hat und mich manchmal immer noch belastet. Das war der tiefste Punkt meiner Karriere, eine große Enttäuschung. Ich konnte die Entscheidung wie viele andere nicht nachvollziehen. Aber so ist der Fußball, man kann nicht nur Höhen haben.

dapd: Nuri Sahin, die Altintops, jetzt Ömer Toprak – nach Ihnen haben sich zahlreiche Deutsch-Türken für die türkische Auswahl entschieden. Manche sagen, das sei unfair gegenüber dem deutschen Verband und den Klubs, die sie für viel Geld ausgebildet haben.

Bastürk: Ich kann das verstehen, wenn man so viel in einen Spieler investiert hat. Aber auch die andere Seite ist für mich nachvollziehbar. Ich weiß nicht, ob Ömer Toprak eine Perspektive in der deutschen Nationalmannschaft gehabt hätte oder nicht. Das kann ich nicht beurteilen. Jeder Spieler ist selbst verantwortlich für seine Entscheidung. Wie gesagt, ich verstehe beide Seiten.

Zwischen den Kulturen

– Erdal Keser sichtet deutsch-türkische Nachwuchsspieler für den türkischen Verband

Berlin (dapd). Der Mann aus Hagen hat klare Vorstellungen. „Wir suchen derzeit vor allem Abwehrspieler und defensive Mittelfeldspieler“, sagt Erdal Keser. „Spielmacher haben wir in der Türkei mehr als genug.“ Keser, 50 Jahre alt, in Deutschland aufgewachsen, ehemaliger Bundesligaspieler für Borussia Dortmund, leitet das Europa-Büro des türkischen Fußballverbands in Köln. Keser ist die Schnittstelle zwischen den Kulturen. Wer in Europa jung ist, ambitioniert Fußball spielt und türkische Wurzeln hat, der wird früher oder später mit ihm Bekanntschaft machen. Eher früher.

Natürlich habe er auch schon bei den WM-Stars der deutschen U17 angeklopft, sagt Keser. Die haben im Juli sogar die Ballkünstler aus Brasilien ausgezaubert, sind in Mexiko auf begeisternde Art Dritter geworden. Die Protagonisten hießen unter anderem: Samed Yesil, Robin Yalcin, Okan Aydin, Levent Aycicek oder Emre Can. Insgesamt acht Kinder türkischer Eltern kombinierten sich durch die Abwehrreihen, erzielten Traumtor auf Traumtor. Eine goldene Generation.

„Lagebesprechung“ mit den Familien

Keser ist natürlich schon viel früher auf sie aufmerksam geworden als die deutsche Öffentlichkeit – und auch auf sie zugegangen. Ein Jahr vor dem Turnier etwa war das, sagt er. „Ich nehme dann den Kontakt zu dem Spieler selber auf oder zur Familie, wir treffen uns zu einer Art erster Lagebesprechung“, erklärt Keser mit ruhiger Stimme und leichtem Ruhrgebiets-Einschlag. In diesem Fall sei es dabei geblieben: „Sie haben gesagt, dass sie zurzeit glücklich sind. Ich habe ihnen dann noch viel Glück gewünscht, das war’s.“

Doch ganz so harmlos verläuft die Hatz nach den Talenten nicht immer. Im Sommer gerieten Keser und DFB-Sportdirektor Matthias Sammer öffentlich aneinander, nachdem Keser angekündigt hatte, dass einige der U17-Spieler schon für die Türkei zugesagt hätten. Namen nannte er keine. Kapitän Can und Yesil bekannten sich nach dem Turnier dazu, ihren Weg beim DFB gehen zu wollen.

Für die Spieler ist es auch eine strategische Entscheidung. Der Weg in die türkische Auswahl ist tendenziell der leichtere. Und verpokert hat man sich schnell. Serdar Tasci etwa spielt in Joachim Löws Planungen keine Rolle mehr, kann aber, selbst wenn er wollte, nicht mehr zum türkischen Verband wechseln, weil er bereits im deutschen Trikot Pflichtspiel-Einsätze absolviert hat.

Die hohe Konkurrenz auf der deutschen Innenverteidigerposition mag auch in den Überlegungen von Ömer Toprak eine Rolle gespielt haben, der sich als bislang letzter Deutsch-Türke für das Heimatland seiner Eltern entschieden hat und am Freitag sein Debüt geben könnte. Nuri Sahin, die Altintop-Brüder, Mehmet Ekici, Gökhan Töre, Tunay Torun, Hakan Balta – die Reihe der in Deutschland ausgebildeten Nationalspieler, die mit Stern und Halbmond auf der Brust auflaufen, ist lang und wird länger.

Die Eltern bevorzugen meist die Türkei

Dass die Mehrzahl der 25 ihm unterstellten Europa-Scouts in Deutschland nach Talenten sucht, verhehlt Keser nicht, schließlich leben hier 2,5 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. „Benelux, Österreich, Schweiz“, dies seien die Länder, die danach folgten, sagt Keser.

Die Eltern, die meist noch starke Bindungen in ihre alte Heimat haben, würden die türkische Lösung in der Regel bevorzugen. Doch das sei oft nicht entscheidend. „Wissen Sie, das sind ja alles mündige Jugendliche mittlerweile“, sagt Keser. „Da sagen die Eltern schon ab 14, 15, dass ich das mit ihrem Sohn selber abmachen soll.“

Größere Eingewöhnungsschwierigkeiten hätten die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen türkischen Nationalspieler nicht, sagt Keser: „Wenn sie kein Türkisch sprechen, was wir auch schon hatten, dann wird eben Englisch oder Deutsch gesprochen.“

Und wenn Keser weiterhin erfolgreich arbeitet, könnte Deutsch schon bald die inoffizielle Amtssprache der türkischen Nationalelf werden.