Wilder, weiter, Wedding

Auf der Suche nach einem Stadtteil. (Der Tagesspiegel, Sept. 2013)

I. GRAU IST DIE STADT

Mit der Hässlichkeit geht es schon mal los. Dieser Beton. Dieser Asphalt. Die Müllerstraße: der Schering-Klotz. Das Bürgeramt. Karstadt! Das Finanzamt an der Osloer. Reinickendorfer, Badstraße, ganz egal, alles wenig besser. Graue Nachkriegstürme wachsen aus dem Alltag, an allen Ecken und Enden. Traumhafte Tristesse. Bald vielleicht als Fotostrecke auf Tagesspiegel.de: „Die hässlichsten Gebäude des Weddings“. Absoluter Klickgarant, Leserliebling, bestimmt.

Und dann biegt man um die Ecke, und dann wird es plötzlich Licht. Bitte was? Ein antiker Tempel, der da dem räudigen U-Bahnhof Pankstraße trotzt. Strahlende Schinkelkirche St. Paul. Vier Säulen für ein Halleluja. Heller Stein, hohe Türen. Schlichtheit. Schönheit. Aha? Ist das jetzt hier die Toskana? Man möchte ihn dann gleich noch mal einbestellen, den alten Christo, damit er das wunderschöne Giebelhaus verhüllt und den kantigen Turm gleich mit, ein bisschen Schutz vor all dem Smog, den die Kiez-Checker in ihren dicken dunklen Audis in die Luft ballern, wenn sie aus der zweiten Reihe vor den Gemüseläden ihre Kickstarts hinlegen. Unter vier Auspuffen geht ja eh schon mal gar nichts hier, eisernes Prollgesetz, Paragraf eins. Oder so.

Willkommen im Wedding! Nicht „in Wedding“, wie es sonst in dieser Zeitung so sachlich heißt. Nein, dieser Wedding ist ein „der“, ein Typ, und was für einer! Eure Abziehbildchen könnt ihr wegschmeißen, am Grenzübergang Bernauer oder wo immer ihr rüberkommt. Hinter jedem Klischee steht ein Weddinger, der ihm in den Arsch tritt.

Merken: Wer hierherkommt, braucht einen Grund. Die meisten aber schießen schnell quer durch, die verlängerte Stadtautobahn namens Seestraße, die schlangenartige B96 hoch oder runter, unterm Bayer-Kreuz hindurch zum Hauptbahnhof oder weiter in den schönen Westen. Fies und grau ist es links und rechts der Autofenster der Durchreisenden, die überall hinwollen, nur nicht hierher. Nicht leicht dagegenzuarbeiten, wenn man als jahrelanger Draufgucker beginnt einzudringen in dieses staubtrockene Biotop.

Wächst hier was?

 

II. STOLZ UND VORURTEIL

Wedding und Gesundbrunnen: 81 Jahre lang eigenständiger Bezirk, heute nur noch zweifacher Ortsteil. Gehört jetzt alles zum schicken Mitte, was natürlich an sich schon ein Spitzengag ist. Denn Schrumpfen, nicht Wachstum, ist hier großes Leitmotiv, vor 100 Jahren waren sie noch 350.000, die Weddinger, heute kriegen sie gerade noch 160.000 zusammen. Einst boten sie dem deutschen Fußballmeister Heimat, heute können sie sich, wenn sie wollen, noch viertklassiges Eishockey anschauen, beim Schlittschuh-Club Berlin, in einem Betonsarg von einer Halle, kalt wie das weiße Oval in der Mitte und mit ähnlich viel Kratzern, und manchmal kommen 100 Leute.

Und die Müllerstraße, der einstige Ku’damm des Nordens? Hier fahren die Rolltreppen der schicken Kaufhäuser von einst mittlerweile direkt ins Spielcasino. Arbeiterbezirk, Arbeitslosenbezirk, Armenbezirk? Ansichtssache. Die Zahl der Menschen mit festem Job (knapp 43 000 Ende 2012) ist fast dreimal so hoch wie die der Arbeitslosen (gut 15 000 im Juni 2013), teilt das Landesamt für Statistik mit. Ein Arbeitsloser pro tausend Quadratmeter Wedding. Ist das viel?

Verwirrende Infos wie diese nimmt man mit auf die Straßen, hinein in den Wild Wild Wedding. Mit der Videokamera sind wir zunächst unterwegs, kleines Filmchen machen zum Reinkommen. Unterwegs, um dumme Fragen stellen: Warum Wedding? Was ist der Wedding? Und dann erzählen einem die Leute, dass sie wahnsinnig froh sind, dass es überhaupt noch Sachen wie das Gesundbrunnen-Center gibt. Wenn’s dit nicht gäbe, wär’ hier jar nüscht. So reden sie, immer noch.

Man erwartet, dass die Deutschen über die sogenannten Ausländer schimpfen, und das tun sie dann auch ein bisschen. Man erwartet, dass die sogenannten Ausländer über die Deutschen schimpfen. Tun sie nicht. Stattdessen schimpfen sie über die lasche Polizei, den Dreck und die Kriminalität.

Vor dem Bürgeramt an der Osloer klagt ein bärtiger Mann darüber, wie die Behörden ihn verarschen und wie das überhaupt hier aussieht, wie ein Gefängnis, wie Nicaragua, jedenfalls aber nicht wie Deutschland.

Am Bio-Markt auf dem Leopoldplatz schwärmt eine reizende Französin vom „Mülti-Külti“. Und dann sind da noch die beiden Jungs mit ihren Basecaps, Müller-, Ecke Triftstraße, die halb cool, halb drohend an uns vorbeiwippen und – ohne stehen zu bleiben oder auch nur einen Tick langsamer zu werden – unseren Interviewversuch gleich mit der einfachsten, weil frechsten Gegenfrage kontern: „Video? Gibt’s da Geld für?“

Ja, Jungs, ihr habt es bitter nötig, das Geld, das es nicht geben wird. Aber wer nicht in dieser Stadt? Erst im August haben sie, hier an der Müllerstraße, auf eine 84-jährige Musikladen-Besitzerin eingestochen – für ein paar Flöten aus der Auslage.

Also, was jetzt? Kein Geld? Dann verpisst euch.

Der Inhalt des eigenen Portemonnaies, seit jeher der kleinste gemeinsame Nenner der Weddinger. Bettelarm nicht wenige, auch das so erfolgreiche Prime Time Theater, wo sie die herrlich durchgeknallte Bühnen-Soap „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“ aufführen, seit 2004, gerade läuft Folge 86 („Döner-Donut-Dauerdienst“), und nirgendwo sonst nehmen sich Kartoffeln und Kanaken so auf die Schippe – Humor als effektivste Integrationsarbeit. Fördermittel aber gibt es keine mehr. Noch ein Grund, auf die „Prenzlwichser“ und das neureiche Gesocks von nebenan zu schimpfen. Stolz und Vorurteil, hier wie da.

Deutschlands berühmtestes Arbeitsamt steht übrigens auch im Wedding, Müllerstraße 16, Stammgast in der ARD-Tagesschau. Lange das Standardbild beim Thema Arbeitsmarkt, hinter Jan Hofer, Dagmar Berghoff und Co., wirklich wahr. Millionen Westdeutsche sahen es Monat für Monat: das eckige rote A auf rundem weißem Grund, die Treppe, die grauen Kacheln, den roten Türrahmen. Das Arbeitsamt, es ist natürlich längst ein Jobcenter, und letztes Jahr, an Hitlers Geburtstag, haben sie es mit Farbbeuteln und Steinen beworfen, um viertel vor zwei nachts.

Überhaupt: Von 20 Nachrichten, die zum Wedding über den Ticker laufen, findet man mitunter nur eine, die nichts mit Kriminalität zu tun hat. Es ist dann aber nicht klar, ob das mehr über den Wedding sagt oder mehr über das Bild, das die Medien von ihm zeichnen.

In dieser einen Meldung geht es übrigens um den Mauerpark, der längst schon zur Ikone des chronisch hippen Nachbarn Prenzlauer Berg geworden ist. Und der sich nun, 24 Jahre nach der Wende, endlich, endlich zum Wedding hin geöffnet hat. 24 Jahre. Allein das erzählt viel von den Grenzen, die noch durch diese Stadt verlaufen.

Im Norden des Mauerparks, auch das ist ein Teil von Gesundbrunnen, man mag es kaum glauben, wollen sie bald teure Wohnungen bauen, jetzt ist da noch ein Schrottplatz. Nur mit dem Protest sind sie westlich des Tunnels wieder ein bisschen spät dran gewesen; drüben, in Prenzlauer Berg, haben sie viel früher gegen die Bebauung und die Zuwegung mobilisiert. Man kommt sich ohnehin nur sehr langsam näher, in kleinen Grüppchen zunächst, wie bei den Radtouren von „Nächste Ausfahrt Wedding“, gestartet vor einigen Jahren von zwei neugierigen Prenzlauerbergern.

Aber langsam, langsam kommen sie rüber. Noch sind die Inseln, die die Kreativen im Wedding kultivieren, nur lose verbunden. Eine liegt sorgsam versteckt hinter einem Studentenwohnheim, unter mächtigen Eichen. „Hausbrauerei Eschenbräu“, steht auf der kleinen Leuchttafel, in Comic Sans, der Standardschrift für Gemeindeblättchen. Klar, man kommt nicht für die Verpackung her, sondern für den Inhalt. Fürs Bier. Und das, was ein gewisser Martin Eschenbrenner 2001 als studentischen Zeitvertreib begann und was heute ein 14-Personen-Unternehmen ist, schmeckt wie die Weddinger selbst: ungefiltert und eigen und bisweilen großartig.

Es tut sich wieder was im einstigen Brauereistadtteil Wedding, acht Stück waren hier mal angesiedelt, zur großen Zeit um 1900, von ihnen ist ansonsten übrig eine bröckelnde Brandwand an der Prinzenallee: Was trinken wir? Schultheiss Bier.

Aber legendär gesoffen wird natürlich nach wie vor, hinter vergilbten Gardinen und toten Pflanzen. Typen wie Bukowski, Lowry, Tom Waits hätte es hier gefallen, den großen Pichlern und Denkern, Bukowski allen voran. Hier würde er sitzen, im „Magendoktor“, im „Klammeraffen“, in der „Trümmerlotte“ oder einer der tausend anderen Kaschemmen, am äußersten Rand des Tresens, würde den billigsten Fusel saufen wie Wasser und irgendwann vom Schemel taumeln in die Nacht und sich an der nächstbesten Ecke mit dem nächstbesten Schläger anlegen – geprügelt vom Leben und ihm jede Nacht aufs Neue die Stirn bietend. Wenn es einen deutschen Bukowski gibt, in diesem Berlin des Jahres 2013, dann sitzt er jetzt irgendwo im Wedding und trinkt still vor sich hin. Wir werden erst in 30 Jahren von ihm lesen.

Die guten Trinkerstuben gab es schon immer, als der Himmel noch erleuchtet war von den Schloten der Eisengießereien, als die AEG hier produzierte und die BMAG, als Osram und Rotaprint Tausenden Arbeit gaben, harte Arbeit – und die macht immer am durstigsten.

 

III. EIN STADTTEIL ALS LABOR

Und heute? Taugt der Wedding oder das, was von ihm übrig ist, als Objektiv auf das große, unverständliche Ding Berlin? Für das, was hier schiefgelaufen ist und noch schiefläuft?

Zumindest kann man hier noch heute gut sehen, was aus Vierteln werden kann, wenn man sie in Versuchslabore umwandelt. Verkündet durch Bürgermeister Willy Brandt im März 1963, ab den 70ern dann durchgeführt: die Kahlschlagsanierung. Wie hässlich schon das Wort klingt. Ihr fielen unzählige Altbauten zum Opfer, das Brunnenviertel haben sie damals gleich ganz plattgemacht. Hier, im von der Mauer eingebauten „Tiefen Wedding“, dem allerletzten Zipfel West-Berlins, entstand, in Sichtweite der DDR, ein gigantischer Wohnquader neben dem anderen. Und kaum einer sagte was, auch damals schon, während in Kreuzberg die rührigen Bewohner Vergleichbares zu verhindern wussten.

Wer allerdings die alten Mietskasernen verherrlichen will, sollte sich erst anschauen, wie die Arbeiterfamilien so gehaust haben in diesen Löchern, im Mitte-Museum an der Pankstraße kann man das sehr gut tun, nur ein paar Meter vom Schinkeltempel und den Konterfeis der drei Brüder Boateng, gewachsen auf Beton, sponsored by Nike.

Nein, es waren auch früher schon keine schönen Zeiten, wenn du Arbeiter warst im Wedding, an den ersten Maitagen 1929 haben sie gleich Dutzende von ihnen abgemetzelt. „Roter Wedding“, das war fortan blutige Doppeldeutigkeit, von Erich Weinert in ein kommunistisches Kampflied gemünzt, von Ernst Busch später adaptiert. In dessen Version das bis heute nachhallende Versprechen: „Der Wedding kommt wieder!“

Der Rote Wedding, er marschiert nun schon länger nicht mehr, und doch gibt es plötzlich ein paar, die die alte Ansage einzulösen scheinen.

Behutsam treten sie auf, die Weddingworker, sie kennen sich alle untereinander, aber sie wollen nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Die Verschönerung wird nach den Erfahrungen anderswo in der Stadt immer öfter als schöner Vorbote gnadenloser Aufwertung gefürchtet, also tastet sie sich auf leisen Sohlen vor. Als dunkles Ungetüm am Horizont: die Gentrifizierung, das böse Wort, das keiner freiwillig in den Mund nehmen will. Ein zweites Kreuzkölln, ein zweites Prenzlberg gar, das wollen sie hier auf gar keinen Fall heranzüchten.

Und doch gibt es da schon diese Inseln im Meer, das Wedding heißt: Eine liegt auf dem Dach eines riesigen Kaufhauses und heißt Himmelbeet, eine andere gleich ganz im alten Fleischtheken-Ambiente: der Supermarkt an der Brunnenstraße. Büroplätze für Selbstständige, ein Café und Begegnungsraum für Kreative. Selbst die Telekom hat hier, mitten im schmuddeligen Brunnenviertel, schon Platz für Seminare gebucht. Über fast eine ganze Ladenzeile erstreckt er sich schon, doch jetzt soll erst einmal Schluss sein mit der Ausbreitung, sagen die Betreiber. Keine falschen Zeichen setzen, an die Bewohner, die Umgebung. Sollen erst mal auch andere kommen können.

Ausgeschenkt wird das trübe, kalte Bier des Martin Eschenbrenner übrigens auch hier, nur ein paar Meter weiter, im „Volta“, einem kleinen, feinen Konzeptrestaurant mitten in der rotbraunen Kachelhölle Brunnenstraße. Gastropub nennen sie das. Dort sitzt man sommers auf einem Holzpodest, auch so eine kleine Insel der Glückseligen, und daran vorbei laufen die Alteingesessenen mit ihren Lidl-Tüten und schauen mittlerweile nur noch ein bisschen verdutzt. Und ein paar Straßen weiter flattert ein handgemaltes Banner vom Balkon: „Gegen Luxuswohnungen, für Grünflächen“, und daneben das Ganze noch mal auf Türkisch.

Im Stattbad Wedding schließlich, vielleicht der angesagtesten Location dieses Nouvelle Wedding, betonen sie, dass sie sich vor allem als Kunst- und Kreativhaus sehen statt als Party-Location mit elektromagnetischer Anziehung für die ganze Stadt. Damit lässt sich zwar das meiste Geld einspielen, das aber wiederum stecken sie am liebsten in die Kunst, gerade war eine Skateboard-Ausstellung zu Gast. So läuft das hier. Es will keiner sein, was er nicht ist. Das Gegenteil also von dem, was südlich der Bernauer Straße, im überdrehten Mitte, den Lifestyle definiert. Willkommen bei den Anti-Hipstern vom Wedding. Und ein paar Meter die Gerichtstraße runter hocken die Hells Angels vor ihrem Laden.

Breitbeinig kann im Übrigen auch der Wedding sein. Hier gilt bisweilen nicht Rechts vor Links, sondern: Maul vor Stumm. Blök vor Glotz. Schrei vor Flenn. Faust vor Fleh.

 

IV. POLITIK UND IDYLLE

Also: Tut sich was?

Jetzt hat sogar Steinbrück hier eine Wohnung bezogen, mitten in der Sprengelstraße. Bei Edeka ist er gesichtet worden, in weißem Hemd und offenem Sakko, willkommen, Möchtegernkanzler, ruft die Gemeinde, wir fühlen uns gleich viel sicherer. Ha, ha.

Dabei geht hier, wo vor dem Krieg die Kommunisten stets große Mehrheiten einfuhren, eh kaum noch einer wählen, am schlimmsten steht es um die Wahlbeteiligung in den Gegenden mit den meisten Migranten, am Nettelbeckplatz, im östlichen Brunnenviertel, rings um die Soldiner Straße, hier geht nicht mal mehr jeder Zweite zur Urne, manchmal nur jeder Dritte. Es ist wohl das konsequente Desinteresse derer, für die sich ihr Leben anfühlt, als habe sich noch nie ein Politiker dafür interessiert, seit sie hier sind.

Und doch, gerade hier, gibt es die Orte, an denen man glauben mag, dass zwischen Multi und Kulti tatsächlich ein Bindestrich ist. Das Carik Kuruyemis & Café ist so einer. Von außen sieht es aus wie ein einfacher türkischer Delikatessenladen, doch wenn du dich an den Körben und Auslagen mit all den Pinienkernen, Nüssen und süßen Baklava vorbeizwängst, in den Hinterraum, dann bist du plötzlich mittendrin. Das hier ist der Ort, wo ein junges Mädchen hereinkommt und strahlend zu ihren Freundinnen sagt: „Das ist voll wie in der Türkei hier.“ Hier ist auch der Ort, an dem ältere deutsche Pärchen sitzen, in Lederjacke und Rüschenbluse, als müssten sie gleich noch zum Preisskat, und aus ihrem dampfenden Kumpir löffeln und braun gegrillte Köfte kauen.

Und ja, es gibt ihn, den idyllischen Wedding, man kann ihn mit dem Fahrrad befahren, immer die Panke entlang, an altem Backstein vorbei bis hinauf zum seltsam entrückten Bahnhof Wollankstraße und weiter in den Pankower Bürgerpark. Es gibt ihn, den Rosengarten im Humboldthain, den Volkspark Rehberge, den Plötzensee, das erhabene Virchow-Klinikum mit seinem wunderbar ruhigen Innenhof.

„Wunderkammer Wedding“ – den schönsten Begriff hat unter Umständen Pedda Borowski gefunden, Maler, Illustrator und Design-Dozent an der IB-Hochschule. Er benannte sein Seminar nach den vollgestopften Raritätenausstellungen der Spätrenaissance, eben: Wunderkammer. Borowski hat seine Studenten einfach losgeschickt, in die Straßenschluchten und die Kneipen und die Parks. Sie sollten, wie damals die Besucher der Museums-Vorläufer, vor allem eines: staunen. Und lernen. Und sich verändern.

 

V. NUN KOMM DOCH ENDLICH!

Er kommt, der Wedding, raunen sie seit Jahren, oder kommt er noch nicht, jetzt kommt er aber, nein wirklich, jetzt muss er doch kommen!

Ja, Leute, wohin denn, bitte schön? Und überhaupt, was für eine schwachsinnige Forderung! Er war doch immer da und ließ mit sich machen. Ließ sich hin- und herwälzen, immer mal wieder umoperieren, auch mal mit dem stumpfen Skalpell. Aber sich bewegen, daran denkt doch der faule, fette Vogel Wedding nicht. Wohin denn auch? Er ist doch schon mittendrin. Wenn schon Aufbruch, dann eher so wie in der alten Liedzeile des seligen Jim Croce, völlig anderes Land, völlig andere Zeit: „If you’re going my way, I’ll go with you.“ Recht hast du, alter Freund.

Und dann wetzt man, ganz geschafft vom Schauen und Reden und Wundern, die Hochstraße hinauf, den S-Bahn-Graben zur Rechten, hastig tretend den vermeintlich schöneren Ecken dieser Stadt entgegen, und dann tut sich links auf einmal der Blick auf vor dunkelrotem Weddinghimmel, und mit dünnen Bauhaus-Lettern steht an schlichter Fassade: Hotel Citylight. Und man denkt sich nur: L.A., 50er Jahre, und sonst nirgendwo.

Man muss das alles nicht verstehen. Manche sagen: Man kann das alles nicht verstehen.

Wedding, was ist das?

Tja, keine Ahnung. Aber wir werden mal losziehen und sehen, was sich herausfinden lässt.

Goldringe am Boden

„Fünf Minuten Stadt“ (Tagesspiegel)

Der Weg zum Bargeld macht Frieren, bitterer Wintermorgen. Der Wind jagt die leere Torstraße in Mitte hinauf. Tür auf zum Vorraum der Bank. Hier drinnen: volles Haus, Nachtlager der Obdachlosen. Ein Mann mit St.-Pauli-Kutte sitzt auf den Steinstufen, neben ihm schläft ein anderer mit auf die Brust gesunkenem Kopf, hinter den beiden noch zwei volle Schlafsäcke. Am Automaten: eine Frau mit Perlen im Haar. Der Mann mit der Kutte, schleppende Sprache der Betrunkenen, will von ihr wissen, wo sie herkommt. Sie zögert, schweigt. Sagt dann: „Karibik! Trinidad and Tobago.“ Er nickt, wie in Zeitlupe. Die Frau dreht sich zum Automaten, dann abrupt wieder zurück.

„But why?“, fragt sie, etwas lauter als zuvor, in seine Richtung. „Warum?“ Er versteht die Frage nicht. „Why you doing this?!“ Sie klingt nun ehrlich entsetzt, schaut sich um, deutet mit der Hand zu den Schlafsäcken. Er schaut sie mit leeren Augen an. „Why you sleeping-on-this-floor?!“ Sie geht schreiend in die Knie, hämmert bei jeder Silbe ihre Fingerknöchel auf den Steinboden. Goldringe klackern. Sie lässt ihn nicht antworten, er versucht es auch kaum. „Warum kein Geld von Jobcenter?! Du! He?!“, schreit sie, gestikuliert mit der einen Hand und hämmert mit der anderen wild auf den Automaten ein, der rattert und ein paar Scheine ausspuckt. Sie hält sich den Zeigefinger quer unter die Nase. „Oh my God. You people make me sick.“ Dann stößt sie die Tür auf, weinend, und die eisige Kälte der Stadt pfeift herein.