Aufschrei! (5 Minuten Stadt)

Idylle Prenzlauer Berg. Schlenderzone Stargarder Straße. Familienspaziergänge. Händchen haltende Pärchen. Kinder auf Laufrädern. Gegenüber an der Eisdiele „Hokey Pokey“ zahlen die Menschen bereitwillig 1,60 Euro für die Kugel. Wohlstands-Happiness, das Leben: ein buntes Aquarell. Auf den Trottoirs: Vintage-Stühle, darauf: Vintage-Menschen, essend, trinkend, redend. Angeregte Gespräche. Vor einem Café, hier: orangefarbenes Gestühl, dreht es sich gerade um die „Aufschrei“-Debatte, deren Initiatorinnen kurz zuvor mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurden. Haben im Internet auf Frauenfeindlichkeit und sexuelle Belästigung hingewiesen. Und die Welt hoffentlich ein bisschen weniger sexistisch gemacht. Gute Sache, logisch, darauf ein Schlückchen Cappucino und ein beruhigter Themenwechsel. Gerade will man wieder anheben, da dringt ins allgemeine Vögelgezwitscher ein seltsames Störgeräusch. Näher kommender Beat. Es macht: Bumm-bumm-kah, bu-bumm-bumm-kah. Wird jetzt ziemlich schnell ziemlich laut. Genervte Blicke den Gehweg herunter. Doch statt der erwarteten tiefer gelegten Sportkarre nur ein sich nähernder Adoleszent im grauen Schlabbershirt, plärrendes Handy in der hohlen Hand. „Du guckst mich an“, kann man nun den schnellen Sprechgesang hören, während der Jüngling, Sneaker, schwarze Turnhose, Pausbacken, dumpf vorbeistampft. „Du guckst mich an“, rappt es also zwischen den Wurstfingern hervor, „ich hab Style und das Geld, heute bin ich all das, was euch Fotzen so gefällt.“ Leicht mit dem Kopf nickend pflügt der dicke Junge zu dieser grandios beschissenen Bordstein-Weisheit durchs Kinderwagen-Ghetto, vorbei an irritierten Blicken, sein Shirt wackelt dazu lustig überm Hüftspeck. Zurück lässt er nach einer Schrecksekunde: belustigte Gesichter. „Wie geil“, sagt jemand ironisch und fängt dann an, über etwas völlig anderes zu reden. (Tsp.)

Zu Gast in Schwabylon

– Beim Weckenbäcker gibt es alles – außer Zuzügler (Tagesspiegel)

Am Türknauf krallen sich zwei Löwen in einer Brezel fest. Neben dem Eingang prangt die Angebotstafel: „Neu! Chai Latte, 2,- EUR“. Prenzlbergiger geht nicht. Und schwäbischer auch nicht.

„Schwäbische Bäckerei“ steht schlicht über der hohen Fensterfront, Prenzlauer Allee Ecke Danziger Straße, Einflugschneise der Zugezogenen, nur ein paar Straßen liegen Helmholtz- und Kollwitzplatz, die pulsierenden Herzen des sagenumwobenen Schwabylon, auseinander. Kein Wunder, dass Wolfgang Thierse es hier kaum noch auszuhalten scheint. Jetzt haben sie schon ihre eigenen Backstuben.

„Hallo.“ Die junge Verkäuferin ist allein. Um sie herum: weiße Wände mit rosa Bordüren, gekachelter Boden, eine große gläserne Auslage mit marmoriertem Umlauf.

Darunter die Backwaren. Auf den Plastikschildchen: Nußschnecke (mit ß), Schweinohr (ohne e), Kameruner, Kirschplunder, Käsekuchen. Schwäbische Bäckerei? Gibt es denn hier auch was Schwäbisches? „Ja“, sagt die Bäckersfrau und zeigt auf ein kleines Brötchen. „Schwabenecke“ steht da. Eine Art Schrippe, sie sieht etwas verschrumpelt aus.

Badisches Brot weiß die Verkäuferin noch anzupreisen, „ist etwas würziger im Geschmack“. Ob sie selbst aus Schwaben kommt? „Nein, aus Lichtenberg.“ Und der Besitzer, ist der Schwabe? „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er mehrere Sprachen spricht.“ Wer weiß, vielleicht ist ja auch Schwäbisch darunter. Darauf erst mal einen Chai Latte, bitte!

Die Filiale versprüht Tchibo-Charme. Kleine runde Tischchen mit roten Plastikdecken, Topfprimeln aus Plastik. Auf den Ablagen rote Servietten, ein Aufkleber mit zwei grinsenden Pfannkuchen: „Echt heiß… Wir haben in Biskin gebadet.“ So stellt man sich gemeinhin eine Bäckerei vor – eine gute, alte Berliner Bäckerei.

Draußen rauscht hektisch die Stadt vorbei, auf dem Rad, im Auto oder in der Tram. Hier drinnen: gähnende Leere. Wo sind die Kunden, die hungrigen Schwaben? „Normaler Andrang“, sagt die Bäckersfrau. Der Chai Latte ist schon halb leer, da kommt endlich einer. „Zehn Schrippen, bitte.“ Wie bitte? Entschuldigung, wo kommen Sie her? „Na, Berlin, sehense doch.“ Die Frage nach Wolfgang Thierse schneidet der Mann gleich ab. „Hören Sie mir auf mit die Politiker“, brummt er, der Berliner reinen Wassers, winkt ab und ist schon durch die Tür verschwunden.

Der Chai Latte ist leer. Wo sind die Kinderwagen-Muttis, die stark schwäbelnd ihre Weckle bestellen, wo die schnöseligen Stuttgarter, die den armen Hartz-IV-Berliner in die Randbezirke verdrängen? Da steht er plötzlich da: Daunenjacke, Röhrenjeans, Dreitagebart, das ist er, das muss er sein, der Pornohippieschwabe. Klassische Ausfertigung. Und bestellt auch gleich drei Schwabenecken. Kurze Zwischenfrage: Sie sind Schwabe, oder? Der Mann mit der Mütze lächelt. „Nein, aus Thüringen.“ Und die Schwabenecke? „Na, die könnte ja auch ‚Berliner Ecke‘ heißen, ich kauf die nur, weil sie schmeckt.“ Immerhin kennt der Mann ein paar Schwaben: „Jaja, aber keine, die in Berlin wohnen.“

Wir verlassen die „Schwäbische Bäckerei“. Mit der Hand am Messinglöwen ein letzter Gedanke: Der Berliner Schwabe ist, wenn es ihn hier in dieser Gegend gibt, einen Tag nach Neujahr wohl noch zu Hause bei Familie und alten Freunden, in Esslingen oder Obertürkheim, er sitzt allenfalls im ICE zurück in die Wahlheimat. Oder er kauft seine Weckle bei Kamps.