Der Fußball-Botschafter

– Der Deutsch-Türke Mehmet Matur wirbt für mehr Integration auf Berlins Sportplätzen – ein Tag mit einem überzeugten Ehrenamtler

Mehmet Matur ist ein geduldiger Mann, das ist vielleicht das Allerwichtigste. Ein früher Mittwochnachmittag im „Haus des Fußballs“. Im Sitz des Berliner Fußball-Verbands tagt der Integrations-Ausschuss. Es geht um eine wichtige Sache, um den Sozialpreis, der an engagierte Klubs vergeben wird. Doch es ist wie so oft bei diesen Sitzungen: Es wird sehr viel geredet. Über die Preisverleihung, den Programmablauf, die Sitzordnung, das Catering, die Show-Acts, die Besetzung der Jury. In der Ecke hängt ein Plakat, darauf steht: „Wir leben Fußball. Bevor aus Frust Gewalt wird“.

Mehmet Matur sitzt ruhig da und hört zu. Er trägt eine strahlend weiße Trainingsjacke von Werder Bremen. Nicht nur Sympathie, ein Statement. Werder hat Ende März den DFB-Integrationspreis verliehen bekommen. Mehmet Matur ist im Berliner Fußball der wichtigste Mann in Sachen Integration, auch wenn er das selbst nie unterschreiben würde. 1960 in der Türkei geboren, mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen, sitzt er seit 2004 auf Betreiben von BFV-Chef Bernd Schultz im Präsidium. Der erste Migrant überhaupt. Als langjähriger Funktionär von Türkiyemspor kennt er auf Berlins Fußballplätzen so ziemlich alles und jeden. „Er ist sehr direkt und jemand, der stark den persönlichen Kontakt sucht“, sagt Schultz. Fast jeden Tag ist Matur unterwegs, zu Punktspielen und Klubheimen, 30 bis 40 Stunden die Woche, schätzt er. Alles ehrenamtlich.

„Meine Verwandten in der Türkei glauben mir das nicht.“ Die Sitzung ist vorbei, Matur steuert seine schwarze A-Klasse durch den Stadtverkehr. Dass jemand 30 Stunden die Woche arbeitet, ohne Geld dafür zu bekommen, das verstehen sie nicht. „Aber es ist ja keine Arbeit“, sagt Matur. „Ich setze mich ein, ich will dem Fußball dienen. Doch sie denken trotzdem, dass ich irgendeinen Vorteil verfolge, dass ich Bürgermeister werden will oder Abgeordneter.“ Matur lacht, aber er beschreibt da eines der Probleme, gegen die er ankämpft. Ihre Kinder spielen fast alle Fußball, aber es gibt nach wie vor zu wenige Migranten, die sich ehrenamtlich einsetzen. Immerhin: Ihr Anteil steigt, 2010 lag er deutschlandweit laut DOSB bei 13 Prozent, drei Jahre zuvor noch bei 7,2. Ein anderes Problem ist die Gewalt, oft aus Vorurteilen gespeist.

Matur ist Fußball-Botschafter, er wirbt für Verständnis und Annäherung, auf beiden Seiten. Dafür, dass die Weihnachtsfeier vielleicht stattdessen Abschlussfeier genannt wird, damit sich auch die muslimischen Mitglieder willkommen fühlen. Dafür, dass sich Migrantenvereine deutsche Namen geben, um sich zu öffnen, wie der Neuköllner Klub Galatasaray, der nun Rixdorfer SV heißt. „Ich wünschte, es wäre nicht so, aber der Name spielt eine Rolle“, sagt Matur. „Traurig, aber wahr“, viele seiner Sätze beginnen so oder so ähnlich.

Nach einer halben Stunde parkt Matur seinen Wagen in der Erkstraße. Hier, im Herzen von Neukölln, betreibt er mit seinem Bruder das „Butterfly Sporthaus“, seit bald 20 Jahren. In dem engen Büro hinter dem Verkaufsraum stapeln sich Schuhkartons, bis hoch zur Decke. An den freien Stellen: Vereinswimpel. Ankaraspor, Türkiyemspor, BSC Rehberge, und der rot-weiße Wimpel des BFV. Daneben die Autogrammkarte von Mesut Özil. Und gerahmte Fotos: Matur mit Prinz Charles. Matur mit Joachim Löw und Oliver Bierhoff. Auf dem Tisch liegt die aufgeschlagene „Fußball-Woche“.

Bei einem Tee umreißt Matur seine Lebensgeschichte, und mit jedem Satz wundert man sich mehr, dass er immer noch hier vor einem sitzt.

Matur erzählt von den Anfängen, den Schwierigkeiten. Wie er in Deutschland der Einfachheit halber zwei Klassen zurückgestuft wird, weil er kein Deutsch kann. Wie er trotzdem ein Jahr später eine Gymnasialempfehlung bekommt. Wie sein Vater, ein einfacher Mann, der selbst nur die Grundschule besucht hat, den Sohn trotzdem auf die Hauptschule schickt. Und: Wie ihn die Fußballmannschaft aufnimmt, Tura Hennef, er spricht den Namen noch heute aus als wäre er ein Himmelsgeschenk, der Trainer kauft ihm Schuhe und Trainingsanzug, weil seine Eltern jeden hart verdienten Pfennig für später sparen. Mit 16 muss er zunächst auf Wunsch der Familie wieder in die Türkei, doch Anfang 20 kehrt er alleine wieder nach Deutschland zurück, er vermisst die Freunde und, wie er sagt, „die Ruhe und die Ordnung“.

Es folgen der Umzug nach Berlin und elf Jahre bei der BVG. Es folgt: eine Desillusionierung. Matur ist nun der, der er in Hennef nie war: der Fremde, der „Eseltreiber“, wie sie ihn nun nennen. Mehmet Matur ist niemand, der böse Worte über andere Menschen verliert, aber die Namen derer, die ihn gekränkt haben, weiß er noch heute. Nach dem Türkei-Urlaub sagt eine Kollegin: „Die sind ja gar nicht so wie ihr.“ Maturs Blick bleibt sanft, scheinbar ungerührt, als er das erzählt, nur ab und zu fasst er sich schnell an den Hals, um den Reißverschluss seiner Jacke ein Stückchen weiter aufzumachen. Er erzählt von einem Spiel in Neustrelitz, bei dem seine Mannschaft mit Bier beworfen wird. Von dem Tag, als der türkische Botschafter ein Pokalspiel beim BFC Dynamo vorzeitig verlassen muss, auf Drängen seiner Sicherheitsleute. „Wissen Sie“, sagt Matur. „Ich habe mich damals in Hennef nie wie ein Fremder gefühlt. Aber heute spüre ich das, obwohl ich schon so lange hier bin.“

Als Matur die BVG verlässt, 1994, steht er vor der Wahl: Kapitulieren oder bleiben. „Ich bin Steinbock. Ich wollte mich wehren, nicht nur alleine, sondern mit anderen. Man sollte nicht durch den Willen von ein paar Idioten weggehen, nur aus eigenem Willen.“ Matur bleibt.

Ein Blick auf die Uhr. „Wir müssen los.“ Wieder ins Auto und den kurzen Weg hinüber zum Columbiadamm. Hürtürkel gegen Tennis Borussia, Punktspiel in der Berlin-Liga. Keine ganz normale Partie, TeBe bringt viele Fans mit, im Vorfeld hat es außerdem wohl ein paar zweideutige Facebook-Botschaften gegeben. Hürtürkel steht ohnehin im Fokus, seit der Klub im letzten Jahr wegen antisemitischer und rassistischer Äußerungen bei einem Spiel mit Punktabzug bestraft wurde. Matur sagt: „Der Verein hat eine gute Reaktion gezeigt, mit der Polizei kooperiert, Spieler und Trainer zu Anti-Gewalt-Kursen geschickt“.

Aber eine Fahrt ins Stadion ist immer eine Fahrt ins Ungewisse, nicht nur was das Ergebnis angeht. Matur ist angespannt. „Ich habe Magenkrämpfe“, gesteht er. „Ich hoffe, dass der Tag gut zu Ende geht.“

Es ist ein milder Abend. Vor dem Stadioneingang stehen zwei Polizei-Wannen. Drinnen sind die Fangruppen geteilt, mit rot-weißem Absperrband und kleinen Pappschildchen. „Heim“ steht rechts, „Gast“ links. „Das ist schon mal gut“, sagt Matur. Er schüttelt viele Hände. An einem Stehtisch begrüßt er eine Frau. Neben ihr steht ein Rentner. Schnauzender Rentner: „Warum seid ihr so teuer geworden?“ Matur schaut ihn an. „Wieso wir? Ich gehöre nicht zu Hürtürkel. Ich komme vom Berliner Fußballverband.“ Grimmiger, schweigender Rentner. Matur sagt: „Ich habe meinen Eintritt gezahlt, wie alle anderen.“ Beim Weitergehen schüttelt er leicht den Kopf.

Der Eintrittspreis sorgt für Unmut. Zehn Euro verlangt Hürtürkel zunächst, später dann nur noch acht. Auch das nicht gerade wenig für ein Sechstligaspiel. Gut 50 TeBe-Fans weigern sich, zu zahlen, und verfolgen das Spiel lieber von draußen, durch den Zaun.

Es bleibt alles friedlich. Das Spiel ist schon zur Pause entschieden, Hürtürkel führt 4:1. Nur kurz wird es hitzig, aber es ist nur der ganz normale Frust der Verlierer, man schüttelt sich schnell wieder die Hände. Die zweite Hälfte plätschert dahin. Sommerabendstimmung. Auf der Tartanbahn spielen ein paar Kinder. Die Fans hinterm Zaun singen ein paar halb-ironische Gesänge. Dann ist Schluss. Mehmet Matur trinkt noch einen Tee. Gegessen hat er in der zweiten Halbzeit auch endlich was. Der Magen ist wieder okay. Ein guter Abend. Ein normaler Abend. Es ist jetzt dunkel, aber die weiße Werder-Jacke ist noch weithin zu sehen.

Mützen und Glatzen

– Zum Kampfabend in Neukölln kommen nicht nur Eingeweihte, sondern auch Szenemenschen – auf der Suche nach Härte und Helden im „Huxley’s“

Keine Stunde mehr bis zum Kampf, und Ivan hat ein Problem. Das verdammte Antibiotikum! Ivan hält sich die offene Hand vor den Hals. „So dick war der. Mandelentzündung. Konnte bis vor kurzem kaum schlucken.“ Zwei Wochen kein Training, den Körper voll mit Arznei. So soll er gleich in den Ring steigen, gegen einen kurz geschorenen Fighter mit grimmigem Van-Damme-Blick.

Warum macht der das? Das ist die eine Frage, die sich stellt. Wer schaut sich das an, das ist die andere. Aber eins nach dem anderen. Ivan, 28, gebürtiger Russe, mit 16 nach Deutschland, KfZ-Mechaniker, siebenjähriger Sohn, spricht mit ruhiger Stimme. Zur Begrüßung gibt er die Rechte und legt die Linke noch sanft oben auf den Handrücken. Auf der Straße würde man ihn mit seiner dünnrandigen Brille nie für einen Boxer halten. Seine Ringbilanz: Zwei Niederlagen. „Aber das waren beides gute Kämpfe“, sagt er, Lächeln, glänzende Augen. Er sagt: „Wenn das Publikum danach aufsteht und dir applaudiert…“

Um die 500 Leute dürften es sein im „Huxley’s“ in Neukölln. Sonst spielen hier Indie-Bands. Heute aber: „Heroes Fight Night“, organisiert vom Ringside Gym Berlin. Das Publikum sieht erst mal szenetypisch aus. Die Schlange vor dem Klo hat ein breites Kreuz. Hier haben die Pullis Kapuzen und die Hosen viele Taschen.

Zu sehen aber auch: Parkas. Knallenge Jeans. Und, vor allem, Mützen. Sind also auch mit dabei: Die bärtigen Kiezschlümpfe. Ist schon mal interessant. Die Macbook-Generation entdeckt ja schon seit einer Weile die Gyms der Stadt für sich, trommelt unter dem Schlagwort „Freizeitboxen“ auf Sandsäcke ein.

Im „Huxley’s“ sind vor allem Kämpfe im Thaiboxen und im K-1 zu sehen, einer Kickbox-Variante. Man schlägt und tritt sich also, kurz gesagt. Muay Thai ist in Thailand Nationalsport, dort fast mehr Zeremonie und Tanz als Kampf. Auch hier in Berlin-Neukölln ist das wippende Ritual vor Beginn obligatorisch. Während der Runden greller Sound, klingt wie Schlangenbeschwörer-Musik. In der Luft der scharfe Geruch des Körperöls. Schienbeintritte und Drehschläge sind erlaubt, dennoch dauert es lange bis zur ersten blutigen Nase. „Ihh, ich kann da nicht hinsehen“, sagt leise jemand auf den Stehplätzen. Die meisten schweigen.

Brutaler wird es dann beim einzigen „Mixed Martial Arts“-Duell des Abends. Im MMA kehrt die Szene zu ihren Wurzeln zurück, es wird so unerbittlich gekämpft wie vor 2.500 Jahren. „Ultimate Fighting“ nennen sie das. Die Handschuhe sind ein Witz, polstern kaum die Knöchel. Erlaubt ist fast alles, auch Schläge gegen am Boden Liegende. Führende deutsche Sportpolitiker verweigern die Anerkennung als Sport, TV-Übertragungen sind in Deutschland verboten. Kämpfe enden praktisch immer vorzeitiig. So auch hier. Keine 30 Sekunden sind vergangen, da liegt der eine zuckend am Boden. Mit einem Würgegriff hat ihm sein Gegner den Hals zugedrückt, bis zur Ohnmacht.

Wer nach Klischees über die Szene sucht, wird auch an diesem Abend fündig. Haare hat man in manchen Teams eher keine, dafür umso mehr Tattoos. Oben im Ring bearbeitet gerade ein glatzköpfiger Kämpfer, „102 austrainierte Kilo“, wie der Hallensprecher stolz ausruft, einen 124 Kilogramm schweren Tschechen, der immer wieder wie ein Wolf knurrt.

Und dann klettert Ivan in den Ring, Dreitagebart, pechschwarze Haare, vorher hat er noch beschwörend mit den Handschuhen über die Ringseile gestrichen. „Applaus für Ivan Stafitshuck!“ Er ist jetzt ein anderer, der sanfte Blick ist weg, die Brauen tief, die Augen starr zu Boden. Volle Konzentration. Adrenalin frisst Antibiotikum. Ivan kämpft gut, er ist entschlossen und zäh, steckt die Tritte seines Gegners weg, lässt sich nicht in die Ecke drängen. Er hat schon immer gekämpft, hat er vorher noch gesagt, „damals in Russland, da war das überlebenswichtig.“ Man merkt jetzt, was er meint.

Nach dem letzten Gong reißt Ivan die Arme schräg nach oben, er sieht jetzt tatsächlich aus wie die ewige Kämpfer-Ikone Rocky hoch oben auf seinen Museumsstufen. Ganz oben zu sein, der Held für einen Abend, für einen Moment, darum geht es dann wohl. Großer Applaus. Ivan hat endlich einen Kampf gewonnen.

An der Bar ordert eine junge Frau Bier und Schnaps. Eher Indie, eher Kiez, auch wenn sie keine Mütze trägt. Sie wippt im Takt der Elektrobässe. Gute Laune, unverkennbar. Und, wie ist es so? „Am Anfang war es noch ein bisschen lahm von der Crowd her, aber jetzt geht es ganz gut ab.“ Die Klitschkos schaue sie ab und an, aber das hier ist ihr erster Kampfabend. Gefällt ihr gut. „Der Kampf Mann gegen Mann, ein bisschen auch die Brutalität, klar. Und das Event, diese Energie der Masse.“ Seit der Fußball-WM 2006 suche sie die immer wieder. Auch das Boxen hat also seine Eventfans.

Ganz hinten im Saal steht Ivan. Der Rocky von Neukölln hat gleich zwei Adrians mitgebracht. Die Mutter seines Sohns hat ebenso mitgefiebert wie eine weitere Ex-Freundin. Eine aktuelle gibt es nicht, stellt Ivan klar, „sonst könnte ich nicht so viel trainieren“. Lachender, erleichterter Kämpfer. Und oben, zwischen den Seilen, steht schon der nächste Kurzzeitheld, funkelnder Pokal, Schweißglänzen, Siegerfoto. Auf seiner Hose steht „Tiger“.