Mit Verbrechern und Verrätern

– Polens Fußball debattiert über die Zusammensetzung der Nationalmannschaft

Berlin (dapd). Polens Fußballer schnuppern dieser Tage schon mal ein bisschen EM-Atmosphäre. Vor der Partie gegen Deutschland haben sie sich im edlen Fünf-Sterne-Hotel Dwor Oliwski 15 Autominuten außerhalb des Danziger Stadtzentrums einquartiert, der offiziellen Mannschaftsherberge des DFB für das Europa-Turnier im kommenden Jahr. Auch wenn es eigentlich um nichts geht, ist das Länderspiel der polnischen Elf gegen Deutschland am Dienstag (20.45 Uhr) schon ein bisschen die Probe für den Ernstfall, ein Dreivierteljahr vor der EM im eigenen Land.

Die Zahlen machen erst einmal keinen großen Mut. Platz 65 der FIFA-Weltrangliste belegt Deutschlands östlicher Nachbar. Und wie jeder Gastgeber haben die automatisch gesetzten Polen das Problem einer aufgeblähten Phase von Testspielen. Wegen der deutlich verpassten Qualifikation für die WM in Südafrika hat diese bereits im Herbst 2009 begonnen. In diesem Jahr stehen bislang knappe Siege unter anderem gegen Norwegen und Georgien Niederlagen in Litauen und Frankreich gegenüber. Im Juni immerhin schlug die „Kadra“ das große Argentinien – allerdings nur eine B-Elf. Am Freitag gab es in Warschau ein 1:1 gegen Mexiko.

Wer darf die Weiß-Roten repräsentieren?

Gegenstand einer hitzigen Debatte unter den 38 Millionen Nationaltrainern ist aber vielmehr die Frage, wer die Weiß-Roten vor den Augen Europas repräsentieren soll und darf. Lukas Piszczek ist bis zur EURO ziemlich sicher wieder mit dabei, die Sperre des Dortmunders wegen angeblicher Verstrickung in einen Bestechungsfall läuft Ende des Jahres aus. Zusammen mit seinen Teamkollegen Jakub Blaszczykowski und Robert Lewandowski sowie dem Top-Keeper Wojciech Szczesny vom FC Arsenal bildet er das Korsett jener Mannschaft, die ihr stolzes Land im Sommer nach Möglichkeit nicht blamieren soll.

Die Abwehr gilt seit langem als Schwachstelle. Großer Hoffnungsträger ist Sebastian Boenisch von Werder Bremen. Seine ersten beiden Spiele vor einem Jahr begeisterten die Polen, doch seitdem fällt er verletzt aus. Im August gegen Georgien debütierte dann Eugen Polanski von Mainz 05 – große Euphorie löste das nicht aus. Polanskis Aussagen, er fühle sich eher als Deutscher denn als Pole und er könne die Nationalhymne nicht mitsingen, wurden von den polnischen Medien genüsslich ausgeschlachtet. Unabhängig davon wirft man dem gegen Deutschland verletzt fehlenden Polanski Opportunismus vor, weil der langjährige deutsche U-Nationalspieler es nicht in Joachim Löws Auswahl geschafft hat. Nicht eben förderlich für den Ton der Diskussion waren die Äußerungen des ehemaligen Nationaltorwarts Jan Tomaszewski, die Landesauswahl würde bald nur noch aus „Verbrechern und Verrätern“ bestehen.

Deutsche und Kolumbianer als Hoffnungsträger

Nationaltrainer Franciszek Smuda aber würde zusätzlich gerne Manuel Arboleda in die Nationalelf berufen. Anders als Boenisch und Polanski hat der 32 Jahre alte kolumbianische Innenverteidiger keine polnischen Vorfahren. Und anders als der ehemalige Nationalspieler Emmanuel Olisadebe, der eine Polin heiratete und schnell Staatsbürger wurde, zeigt der Mann von Lech Posen nach Ansicht vieler Polen wenig Interesse am Land, in dem er seit fünf Jahren Fußball spielt.

Jacek Purski von der polnischen Organisation gegen Neofaschismus „Nigdy Wiecej“ („Nie wieder“) beschreibt die feinen Unterschiede: „Die Kritik an den Deutschen hält sich in Grenzen, die Leute schätzen ihre Qualität. Manch einer sagt sogar, okay, wir haben Klose und Podolski verloren, jetzt bekommen wir eben ein paar aus Deutschland zurück. Im Fall von Arboleda wird die Debatte auch teilweise rassistisch.“

Unabhängig von Ressentiments wegen seiner Herkunft ist der verschlagene Verteidiger, vom Image her eine Art Maik Franz Polens, bei den Gegenspielern in der Liga und damit auch im Kreis der Nationalspieler ziemlich unbeliebt. Was die Sache nicht eben einfacher macht.

Grzegorz Lato, WM-Dritter mit Polen 1974 und heute Präsident des polnischen Fußballverbands PZPN fasste diese Woche im Gespräch mit der „Mittelbayerischen Zeitung“ den Status quo zusammen: „Unsere Legionäre helfen uns natürlich, aber es ist ein langer Weg, bis Polen wieder das Niveau der siebziger Jahre erreichen kann.“

Dehämm ist jetzt woanders

– Miroslav Kloses Wechsel ist seine erste persönliche Niederlage – Großes Ziel EM 2012

Diejenigen, die bei Miroslav Kloses letztem Auftritt im Trikot des FC Bayern symbolträchtigen Szenen auf der Spur waren, mussten nicht lange suchen. Blumen gab es schon mal keine. Weil zu diesem Zeitpunkt offiziell noch nicht feststand, ob Klose den Verein verlassen oder doch noch ein Jahr bei den Bayern dranhängen würde, wurde der Nationalspieler im Gegensatz zu Thomas Kraft, Andreas Ottl und Hamit Altintop vor dem Bundesligaspiel gegen den VfB Stuttgart nicht mit einem Dankes-Sträußchen verabschiedet. Und auch ein versöhnliches Ende seiner schlimmen Saison war Klose nicht vergönnt. In einem fast absurden Torversuch schaffte er es, den Ball aus kürzester Distanz über den Kasten zu heben.

Nun nimmt Klose durch die Hintertür Abschied. Irgendwie passt das zu dem Mann, der immer schon die leisen Töne bevorzugte. Passend auch deswegen, weil Verein und Fans in den vier Jahren nie richtig warm geworden sind mit Klose. Und Klose umgekehrt auch nicht mit dem FC Bayern. Nach zwei passablen ersten Jahren in München hat Klose die Erwartungen seines Arbeitgebers seit der EM 2008 im Grunde durchgehend enttäuscht. Seit Oktober 2010 stand er nur noch drei Mal in der Bayern-Startelf, in 45 Einsätzen seit der EURO traf er nur vier Mal.

Nun gehören schwache Phasen zu Kloses Karriere wie der Salto, den er sich zu Jugendzeiten für eine Wette mit einem Teamkollegen selbst beibrachte. Immer wieder zählten die Experten mit wachsender Häme die Minuten, die seit dem letzten Klose-Tor schon wieder vergangen waren. Und diesmal hat sich Klose wohl zu lange auf einen seiner größten Vorzüge verlassen: Dass er es entgegen allen Kritikern noch einmal schaffen würde. So wie bei der WM 2010, bei der Klose es fertigbrachte, mit vier Toren tatsächlich eins mehr zu erzielen als in der gesamten Bundesliga-Saison zuvor. Und wie bereits im September 2008, als Klose nach längerer Krise plötzlich drei Mal gegen Finnland traf. „Ich weiß, was ich kann“, pflegt Klose immer dann zu sagen, wenn die negativen Schlagzeilen wieder einmal über ihm hereinbrechen. „Ich weiß, was ich kann.“ Immer wieder. Und am Ende hatte er damit immer Recht behalten.

Doch bei den Bayern konnte Klose noch so fest daran glauben, was er konnte, Louis van Gaals Geduld war deutlich begrenzter als die des Bundestrainers. Was zur Folge hatte, dass Klose im WM-Jahr 2010 bei zwölf Länderspielen, aber nur zehn Bundesligaspielen in der Startelf stand. Zehn Toren im Nationalmannschaftstrikot standen nur drei Liga-Treffer für die Bayern gegenüber. Der Abschied vom FC Bayern ist, wenn man so will, die erste wirkliche Niederlage für den unverwüstlichen Klose.

Klose hat stets betont, dass sein letztes großes Ziel der Titel bei der EM 2012 ist, die in seinem Geburtsland Polen stattfindet. Dass sein großer Rivale Mario Gomez zumindest in der Nationalmannschaft keine Konkurrenz für ihn war, darauf hatte sich Klose lange Zeit verlassen können. Doch Gomez hat nicht nur 28 Bundesliga-Tore erzielt, er hat auch seit der WM in acht Länderspielen sieben Mal getroffen – und sein ganz persönliches Nationalmannschafts-Trauma beim Spiel in Wien am vergangenen Freitag auch symbolisch weggeküsst.

Klose muss aber in der Saison 2011/12 bei einem Verein mit möglichst gutem Namen spielen und regelmäßig treffen, um seinen großen Traum von der EURO 2012 in seinem Geburtsland nicht nur von der DFB-Ersatzbank zu erleben. Seit zwei Jahren wird Klose in jeder Transferperiode ein Vereinswechsel nahegelegt. Doch erst jetzt sind der 109-fache Nationalspieler und sein Berater zu der Erkenntnis gelangt, dass Klose in München nicht mehr glücklich wird.

Nun also Italien, der Traum der Deutschen. Den Fürther Ludwig Janda zog es 1949 als ersten deutschen Fußballer über die Alpen. Der Stürmer wechselte für 50.000 Mark zum AC Florenz. Schnellinger, Haller, Briegel, Matthäus, Brehme, Klinsmann, Völler – die Liste der Deutschen in der Serie A ist lang. Der erfolgreichste unter ihnen, DFB-Manager Oliver Bierhoff, der zwischen 1991 und 2003 in 220 Spielen in den ersten beiden Ligen Italiens in 320 Spielen 150 Tore schoss, hatte in dieser Woche noch einmal deutlich gemacht, dass der DFB bei der EM nur auf Spieler setze, die in ihren Vereinen regelmäßig spielen. Ein unmissverständliches Zeichen an Klose, dem die Bayern nur noch einen sehr leistungsbezogenen Vertrag angeboten hatten.

Und so geht der „Pfälzer Bub“ auf seine alten Profi-Tage doch noch mal ins Ausland. Wer ihn im „Sommermärchen“ beim Friseurbesuch verschüchtert Englisch hat sprechen hören, mag kaum glauben, dass sich der Mann aus dem 5000-Seelen-Städtchen Kusel in so fremder Umgebung wohlfühlen wird. Doch für sein großes Ziel, Polska 2012, wird Klose nun sogar seinem großen Idol Fritz Walter untreu. „Dehämm“ ist für Klose jetzt in Rom.

Allen Zweiflern zum Trotz

– Miroslav Klose spielt zum 100. Mal für Deutschland

(Tsp) – „Hallo, ich bin Miro.“ Wie er einem so gegenüber steht, dieser schmächtige Mensch mit den großen Augen, ist er der verlegene Nachbar von nebenan. Kurz darauf, am mächtigen Konferenztisch, droht er in seiner Daunenweste zu versinken, wirkt noch kleiner als bei der Hymne direkt neben Per Mertesacker. Miroslav Klose sitzt in einem schmucken Raum an der Säbener Straße und erzählt. Es ist Mitte März, München kalt und regnerisch. Und Fußballdeutschland setzt keinen Pfifferling auf den Torschützenkönig der letzten WM. Für den FC Bayern hat er kaum gespielt und noch seltener getroffen. Wie soll uns so einer in Südafrika weiterhelfen?

„Ich wusste immer, was ich kann“, sagt Klose in leisem, aber bestimmten Ton.

„Und auch“, wie er hinzufügt, „dass ich mich überall durchsetzen kann.“ Blaubach, Homburg, Kaiserslautern, Bremen, München – die Karrierestationen des Spätberufenen, der nie in einer Jugendnationalmannschaft gespielt hat. Einmal kommt sein Trainer am ersten Abend eines Lehrgangs ins Zimmer und bittet Klose darum, die Sachen zu packen: „Am besten, du suchst dir einen gescheiten Beruf“, lautet seine Empfehlung. Klose schaffte es doch ins Profigeschäft, die Zweifler aber blieben: Klose, der Mann, der Ailton nicht ersetzen kann, der nie gegen einen Großen trifft, der ewige Zauderer und Zögerer vor dem Tor. Klose ist im Grunde ein ewig Verkannter, und er weiß das auch.

Die Geschichte mit dem Salto erzählt auch etwas über Zweifel und Ehrgeiz. Wie kam Klose also zu seinem speziellen Torjubel? „Durch eine Wette“, sagt er. Als er noch ein unbekannter Amateurkicker bei der SG Blaubach-Diedelkopf war, Bezirksliga Westpfalz, habe ein Mannschaftskamerad seine Tore stets so bejubelt. „Wenn ich mein erstes Bundesligator mache“, sagt Klose eines Tages zu ihm, „mache ich auch einen Salto“. Die Reaktion? „Alle haben sich kaputt gelacht – natürlich.“ Weil sie ihm weder das Kunststück noch das Zeug zum Bundesligaspieler zugetraut hätten. „Ich habe noch ein paar Jahre Zeit, bis dahin habe ich mir den schon beigebracht“, gibt Klose nur zurück. Und fängt an, den Salto zu trainieren. Mittlerweile hat er ihn in allen großen Stadien Europas gezeigt.

Steiler und rasanter hätte der Aufstieg von der siebten Liga in die Nationalelf kaum verlaufen können. Klose schaffte ihn zwischen 1998 und 2001. Nach dem Training mit den FCK-Amateuren schaute er immer bei den Profis zu. „Ich ging mit dem Gefühl nach Hause: So ein großer Sprung ist das gar nicht mehr“, sagt Klose rückblickend.

Im März 2001, knapp ein Jahr nach dem Bundesliga-Debüt, bestreitet er sein erstes von bisher 99 Länderspielen. Mit leuchtenden Augen erzählt Klose von seiner DFB-Premiere: mühselige WM-Qualifikation gegen Albanien in Leverkusen. Eine Viertelstunde vor Schluss eingewechselt, trifft der damals 22-Jährige zwei Minuten vor Schluss zum 2:1-Sieg. „Carsten Jancker schüttelte mich so durch, dass mir erst mal schwarz vor Augen wurde“, lacht Klose.

Carsten Jancker – ein Name wie aus einer anderen Zeit. Bei der WM 2002 sank Janckers Stern. Der von Klose ging mit fünf Toren auf.

„Mein Bauchgefühl ist grundsätzlich negativ“

– WM 2010: Warum Lutz Mathesdorf die Niederlage gegen Serbien verursacht hat

(Tsp) – Andreas Brehme ist schuld. Seinetwegen ist Lutz Mathesdorf gelähmt. Am ganzen Körper. Bei jedem Länderspiel. „Los ging es 1990 mit dem 1:0 gegen Argentinien. Ich verfiel plötzlich in völlige Starre“, erzählt der Fan der Nationalmannschaft. Seine Kumpels schenkten sich während des Endspiels von Rom einen Schnaps nach dem anderen ein, rutschten auf und ab vor Nervosität, doch Mathesdorf rührte sich keinen Zentimeter. Brehme traf kurz vor Schluss per Elfmeter, Deutschland war Weltmeister. „Seitdem ist das mein Tick“, sagt er und klingt schicksalsergeben und entschlossen zugleich.

Mathesdorf wiederum hat die deutsche Niederlage gegen Serbien verschuldet.

Nach dem Australien-Spiel hat er sich ein neues Sofa gekauft – und mit dieser unverantwortlichen Tat alles aufs Spiel gesetzt. „Auf dem neuen habe ich noch nicht die Glücksposition gefunden“, sagt er zerknirscht. Ebenso wenig wie Löws Auswahl in Südafrika.

Viele Fußballfans sind abergläubisch, rasieren sich nie an Spieltagen oder ziehen immer wieder das gleiche ungewaschene Trikot an. Der Aberglaube von Lutz Mathesdorf, der als Zeichner der „Jogis Löwen“-Comics ohnehin eine besondere Beziehung zur DFB-Elf hat, äußert sich auf noch skurrilere Weise. Er weiß das selbst. „Ich bin ein bisschen mehr Hardcore als die anderen“, gibt er zu. Mit der kleinsten Bewegung kann er das Spiel negativ beeinflussen, so sein fester Glaube. Selbst zu Hause vor dem TV. „Nach vorne gelehnt, ein bisschen in Lauerstellung“, beschreibt der Fan mit dem Hang zur Fußballstarre die aktuelle Idealposition. „Lang aufs Sofa legen geht gar nicht!“ Die erste Hälfte gegen Serbien habe er so zugebracht: „Wir alle wissen, was passiert ist.“

Wenn Deutschland spielt, ist Mathesdorf ganz alleine. Seine Frau geht meist Besorgungen nach, die Kinder meiden ihren Vater. „Mein Sohn kam gegen Serbien rein, hat mein Gesicht gesehen und ist direkt wieder verschwunden.“ Freunde und Kollegen fragen schon gar nicht mehr nach. Nichts hasst Mathesdorf mehr als Public Viewing. Nur zwei Spiele hat er in großen Menschenmengen verfolgt: das WM-Finale 2002 gegen Brasilien und das Halbfinale 2006 gegen Italien. Ausgang erneut bekannt. „Das Italienspiel ist meine schlimmste Erinnerung“, sagt er, „ich war eine Woche lang nicht ansprechbar. Ich weiß gar nicht, wie ich auf die verrückte Idee gekommen bin, das draußen zu schauen.“

Für das Spiel gegen Ghana hat Mathesdorf ein schlechtes Gefühl. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. „Mein Bauchgefühl ist vorher grundsätzlich negativ. Den Vogel, der am Morgen singt, holt am Abend die Katze.“ Deshalb wird der reglose Deutschland-Fan am Mittwoch wieder alles geben. „Irgendwann fängt es an wehzutun“, sagt Mathesdorf über die selbst auferlegte Schockstarre. Die Körperhaltung für Ghana? „Ich fange an, wie ich gegen Serbien aufgehört habe. Das war ja am Ende nicht ganz schlecht.“

Und wenn Deutschland Weltmeister wird – endet dann Brehmes Fluch? „Nein“, sagt Mathesdorf bestimmt. „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel!“

Die Zaunkönige

– Bei jedem Länderspiel der deutschen Nationalelf sieht man ihre Fahnen auf den Tribünen. „Air Bäron“ und „Dudenhofens Sohn“ reisen überall hin – auch nach Südafrika.

(Tsp, mit Ron Ulrich) – Die Post in Münster tragen dieser Tage andere aus. Frank Niemann hat Wichtigeres zu tun. Er zeigt in Südafrika Flagge. Schwarz-rot-gold, darauf mit weißen Lettern nur zwei Wörter: „Air Bäron“, eine Hommage an den früheren HSV-Stürmer Karsten Bäron. Es ist Frank Niemanns Visitenkarte am Kap. Seit 15 Jahren reist er der Nationalelf in alle Welt hinterher und hängt seine Fahne in die Kurve. „40, 50 Spiele“ mache er pro Jahr. HSV und Deutschland.

Für Niemann, den Fahnenträger, gilt das Gleiche wie für Niemann, den Postboten: Er muss schnell sein. Es geht darum, als Erster in der Kurve anzukommen, um einen möglichst guten Platz zu finden.

Nicht für sich selbst, sondern für die Fahne. Die Fifa macht das Leben nicht leichter, sie will keine Werbeflächen zugehängt haben. Die bequeme Lösung sei, das Banner am Oberrang zu befestigen, sagt Niemann. „Stress hat man nur, wenn man sie unten platzieren will.“ Doch unten, da wollen alle hin. Unten, das heißt: gut sichtbar für die Fernsehkameras.

Denn es geht natürlich schon auch ein bisschen um Ruhm und Ehre. „Air Bäron“ ist das bekannteste Markenzeichen der Szene, die in Südafrika derzeit mit rund 40 bis 50 Leuten vertreten ist. Der harte Kern. Beim Auftaktspiel der Deutschen gegen Australien hatte Niemann den Nachteil der späten Anreise und musste mit einem Platz hoch oben im Stadion von Durban vorliebnehmen. Zum Serbien-Spiel will er rechtzeitig vor Ort sein, die 1000 Kilometer nach Port Elizabeth wollen zügig zurückgelegt werden.

Nicht nur die Spiele der Deutschen stehen auf dem Programm. „Neun von zehn Stadien zu sehen, das ist das Ziel“. Ihm ginge es aber nicht darum, möglichst viele WM-Partien abzuklappern, erklärt der Weltenbummler in Sachen Fußball. „Hauptsache, man erlebt hier viel“. In Südafrika trifft er auch Fans mit noch skurrileren Geschichten. Einer ist von Deutschland bis ans Kap gelaufen. „Das ist noch ein bisschen bekloppter“, schmunzelt der deutsche Zaunkönig.

Nach dem Achtelfinale geht Niemanns Rückflug. Eigentlich. „Wir bleiben bis zum bitteren Ende“, sagt er. Erfolgreiche Urlaubs-Nachverhandlungen mit dem Chef vorausgesetzt.

Das Feilschen um den Urlaub gab es auch in Dudenhofen bei Speyer. Dort arbeitet Michael Malmer bei einem Online-Shop. In der Kurve ist Malmer „Dudenhofens Sohn“. Zwei Wochen Urlaub für Südafrika hat er herausgeschlagen, natürlich auch mit Option auf mehr, falls Deutschland noch weiterkommt. Am kommenden Wochenende geht es los, doch von großer Vorbereitung noch keine Spur: „Ich habe mich impfen lassen, das ist alles.“

Koffer packen? „Das mache ich einen Tag vorher.“ Hotel? „Darum kümmern sich die Kollegen vor Ort.“ Karten? „Da soll es vor dem Stadion immer Möglichkeiten geben.“ Man merkt: Malmer ist Profi unter den deutschen Banner-Pionieren. Mit seiner Fahne ist er der Nationalelf nach Dubai, Schanghai oder Baku gefolgt. Was soll ihn noch schocken?

Seit zwölf Jahren ist Malmer Bannerträger, er war mit dem Fußball überall in der Welt. „Es ist dieses Abenteuergefühl, das mich fasziniert“, sagt er. „Man erlebt in der Gruppe jeden Tag etwas auf diesen Reisen.“

In Südafrika werden ihn fünf Bekannte aus der Fahnenszene erwarten, dann geht es mit dem Auto durchs Land. Im letzten Jahr bei der U21-EM in Schweden hat es Malmer so gut gefallen, dass der 28-Jährige trotz Arbeit drei Mal zwischen Deutschland und Skandinavien hin und her geflogen ist.

Damals holten die Deutschen den Titel. Im Wiederholungsfall in diesem Jahr würde der lange Turnierverbleib Malmer und Niemann rund 5000 Euro kosten. Aber das sei es wert, sagen die beiden. Man müsse halt bei Unterkunft und Flügen sparen, auch mal am Flughafen schlafen.

Und alles für einen guten Platz am Zaun. „Man muss schon verrückt in der Birne sein“, sagt Michael Malmer und lächelt.