Irgendwann, da war es Liebe

– Hertha vor der Relegation: Ein Treffen mit Ex-Stürmer Karl-Heinz Granitza an der Wiege des Vereins

Berlin (dapd). Wer versuchen will, den Fußballverein Hertha BSC zu verstehen, der muss dahin gehen, wo er herkommt. Dahin, wo es wehtut. Berlin, Ortsteil Wedding. Gesundbrunnen, Ecke Behmstraße. Hier, wo die Spielkasinos blinken und die Kampfhunde knurren, wo ein gigantisches Einkaufszentrum jede Aussicht nimmt, da ist dieser Klub ursprünglich zu Hause. Wedding, Paradies der Proletarier. Zweihundert Meter von hier stand bis zum Abriss 1974 Herthas Stadion, die „Plumpe“. Hertha spielt nun im Olympiastadion im feinen Charlottenburg.

Von damals übriggeblieben ist die ehemalige Vereinsgaststätte, der „Bierbrunnen an der Plumpe“. Eine dieser Kneipen, vor denen einem schon der abgestandene Kippengeruch entgegenkommt, bei dem man sich immer fragt, ob es eher muffiger Rauch oder rauchiger Muff ist. Es ist eine dieser Kneipen, in denen mittags um zwei schon mächtig was los ist. Ein Mann mit rotem Gesicht und eine aschfahle Frau spielen Billard, die runde Theke ist schon recht ordentlich besetzt. Man trinkt hier sein Bier aus Tulpengläsern.

Karl-Heinz Granitza sitzt an einem Tisch in der Ecke. Über ihm: Herthas letzte Meistermannschaft von 1931. Neben dem Team ein Betreuer mit riesiger Schiebermütze, Lederkoffer in der Hand. Granitza trinkt wie alle aus der Tulpe. „Fassbrause“, sagt er gleich als Erstes. Fassbrause! Ein Ur-Berliner Getränk. Granitza, der in den goldenen Siebzigern für Hertha 34 Bundesliga-Tore geschossen hat, könnte man für einen dieser Ur-Berliner halten. Er ist zwar im Ruhrgebiet aufgewachsen, aber Hertha ist seine Heimat. Und der 60-Jährige besitzt die wichtigste Eigenschaft des Berliners: Er kann ganz vorzüglich motzen.

„Was waren wir früher für eine unglaubliche Heimmannschaft“, sagt er. „Und heute?“ Granitza gibt sich die Antwort selbst. „Heute ist es den Spielern doch größtenteils scheißegal, ob sie zu Hause oder auswärts spielen. Die werden erst nach der Karriere merken, wie stolz sie hätten sein sollen, in diesem Stadion zu spielen.“

Das macht ihn jetzt echt wütend. Am Donnerstag kommt Fortuna Düsseldorf zum Relegations-Hinspiel, und daheim hat Hertha erst vier Spiele gewonnen diese Saison. „Vier Spiele!“, ruft Granitza. Die Leute am Tresen würden schon gucken, wenn nicht Andrea Berg so laut aus der Jukebox schlagern würde. Granitza schiebt seine Brille die Nasenwurzel hoch, er ringt um Worte und schaut aus dem Fenster.

„Irgendwann, da war es Liebe“, schallt es durch den Raum, „vielleicht sogar ein bisschen mehr“. Das Billard-Pärchen schunkelt ein bisschen. „Meine heimliche Liebe war immer Hertha BSC“, sagt Granitza leise. „Wenn die mich nicht damals hätten verkaufen müssen, ich wäre nie weggegangen.“ 1979 wechselt der Stürmer in die USA, für 1,2 Millionen Dollar, wie er sagt. Bei Chicago Sting wird er zum Soccer-Helden, den Hall-of-Fame-Ring trägt er stolz an der rechten Hand. Erst 1990 kehrt er zurück nach Berlin, zu seiner Liebe Hertha. Aber ein Leben mit dieser Liebe war noch nie ein einfaches.

Granitza sagt: „Michael Preetz hat so viele Fehler gemacht, dass es beängstigend ist, dass wir noch die Relegation erreicht haben.“ Er schüttelt den Kopf. „31 Punkte! Was ein Glück, dass der Kölsche Klüngel noch schlimmer war als wir.“ Jetzt ist er bei seinem Thema: Herthas Führungsschwäche. Präsident Werner Gegenbauer und Manager Michael Preetz. „Alleinherrscher“ nennt er die beiden, Gegenbauer auch noch einen „Diktator“: „Es kann doch nicht so weitergehen, die beiden Sonnenkönige können doch nicht ewig so weiter wurschteln. Die müssen so ein Feuer kriegen auf der Jahreshauptversammlung.“

Der 29. Mai soll der Tag seines alten Teamkameraden Michael Sziedat werden. Der war lange Herthas Rekordspieler in der ersten Liga, bis ihn vor zwei Jahren der Ungar Pal Dardai überholte. Sziedat kandidiert am 29. für den Hertha-Vorstand. „Es wäre eine Farce“, sagt Granitza, „wenn die Fans diesen Ur-Berliner nicht mit 99,9 oder 100 Prozent in den Vorstand wählen würden.“

Granitza hofft dann auch auf einen Job im Hertha-Umfeld. Welchen genau, sagt er nicht. Das Problem ist nur: Fußballfans haben ein wahnsinnig kurzes Gedächtnis. Rettet sich Hertha also noch, wird es Ende Mai wohl nicht mal ein Strohfeuer geben.

„Glaub mir, ich sterbe nicht noch mal“, schallt es durch die Kneipe. „Du, ich brauch dich nicht.“ Andrea Berg klingt jetzt wie ein drohender Hertha-Fan. Der zweite Abstieg in zwei Jahren… und dann?

Nein, sagt Granitza, und schüttelt energisch den Kopf. „Ich glaube wieder dran.“ Der 3:1-Sieg gegen Hoffenheim am letzten Spieltag, „das war das schönste Erlebnis der ganzen Saison“, sagt er. „Es wird ein fantastisches Gefühl sein, am Donnerstag ins Stadion zu gehen.“

Eigentlich aber hat Karl-Heinz Granitza die Hoffnung nie aufgegeben. In seinem kleinen Blog, in dem er regelmäßig über Hertha schreibt, hat er in den Vorschauen noch nie auf Niederlage getippt. Hinterher schrieb er dann Sätze wie „Hertha quält seine Fans“. Und nun, nach einem Jahr Quälerei, hat der Fußballgott als Zugabe verfügt: Zweimal 90 Minuten, vielleicht mehr. Gespielt wird, bis einer weint.

„Ich glaube, die Spieler haben den Schuss gehört“, sagt Granitza. Die Musik ist verstummt, seine Worte hallen im Schankraum wider, es ist jetzt mucksmäuschenstill im Bierbrunnen. Die Leute gucken. Granitza schaut sich um, dann verabschiedet er sich. Als er weg ist, sagt einer am Tresen: „Naja, der Granitza. Vor Weihnachten hat von denen keiner wat jesagt. Und jetzt kommse aus allen Ecken.“