The Zipperlein (5 Minuten Stadt)

(Tsp., Juni 2013) – S-Bahnhof Messe Nord. Die Menschen sitzen missmutig auf Bänken und starren in den Regen. Nächster Zug in sechs Minuten. Sonntagabend-Blues. Auch bei einer Rucksacktouristin, vielleicht 30 Jahre alt, dunkle Haare, klitschnasse Füße in Flipflops. Willkommen im Berliner Sommer. Kommt ein alter Mann den Bahnsteig herunter, Stock in der Linken, mit der Rechten hinter sich herziehend: einen leeren Einkaufstrolley, Typ Kartoffelporsche. Lässt sich jetzt ächzend neben die Backpackerin fallen. Kurze Pause. Ganz kurze Pause. Dann: „Na, wo komm Sie denn her? Wie? Ah, no Deutsch, hm? Where you from?“ Sie ist aus Costa Rica, sagt sie. Findet der alte Mann gut, vermutlich weil: exotisch, weil: ganz weit weg. Er erzählt vom letzten Urlaub am Meer, vor 30 Jahren. Von Stränden, Booten, Hafenbars. „Na, da war wat los!“ Lachender alter Mann. Nickende Touristin. Absolut kein Deutsch sprechende Touristin. Egal. Alter Mann erzählt aus seinem Leben. „Normal nehm‘ ich den 139er, wissense, aber der fährt bloß von zehn bis sechse. Morgens neunsechsnfuffzich der erste. Also jetzt schon nicht mehr.“ Er zeigt auf seine Armbanduhr. Halb sieben. Die Costa-Ricanerin nickt. Sie schaut hoch zur Minutenanzeige. „1 min“ steht da. Alter Mann, auf ein letztes: „Tun Sie mir einen Gefallen, bitte?“ – „Sorry?“ – „Bitte werden Sie nicht alt, okay?“ – „Alt?“ – „Hmmm… be old, you know?“ – „?“ – „Wer alt ist, ist gestraft. Ist so. Then come the Zipperlein. Verstehense? Der Rücken, die Gräten.“ Mühsam, aber mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht zieht sich der alte Mann an seinem Stock hoch, ganz krumm steht er da, mit seinem Karohemd, seinen Hosenträgern und der Cordhose über dem Bauch. Er sagt: „Good stay, ja?“ Dann geht er ein paar Schritte, langsam, ganz langsam, der einfahrenden Ringbahn entgegen.