Das andere Finale

– Wembley, Ende Mai 2013 – das wichtigste Spiel des Jahres: Crystal Palace gegen Watford! (11FREUNDE #140)
– nominiert f. Longlist des Henri-Nannen-Preis 2014 (Reportage)

»The size of the prize«, sagt Ian Holloway und schüttelt sachte den haarlosen Kopf, »schaut euch nur an, was auf dem Spiel steht.« Weiterreden muss er nicht, alle haben die Zahl seit Tagen im Kopf: 120 Millionen. Eine monströse Zahl ist das, die in Britischen Pfund, der härtesten Währung der Welt, an den Gewinner dieses einen Spiels überwiesen wird.

Wir sind in Wembley, an einem lauwarmen Tag Ende Mai. Glänzend die große Arena, und voller Menschen. Mehr als 82.000 sind gekommen, stolz tragen sie ihre Farben, knallgelb leuchtet die Kurve im Osten, tiefrot die im Westen. Dazwischen passt nur ein dünnes schwarzes Tuch – Farbverläufe gibt es heute nicht. Win or lose, das sind die Optionen, nichts sonst. Es ist also alles genau so wie zwei Tage vorher, als die Bayern hier gegen Dortmund angetreten sind. Nur dass es diesmal, bei Watford gegen Crystal Palace, dem Team von Trainer Holloway, wirklich um etwas geht.

Es geht: um den dritten Aufstiegsplatz in die Premier League. Und um ebenjene 120 Millionen, die er mindestens mit sich bringt. Vor allem Fernsehgeld, die reichste Liga der Welt hat vor kurzem den größten Übertragungsdeal der Geschichte abgeschlossen, selbst das schlechteste Team wird nächstes Jahr gut 60 Millionen aus dem TV-Pool erhalten – plus noch einmal knapp 60 Millionen an so genannten Fallschirm-Zahlungen, die Absteiger automatisch erhalten. Das schönste Worst-case-Szenario der Welt. Achja, und der Verlierer, der kriegt gar nichts – oder, in heimischer Währung: fuck all.

Und doch lächelt Holloway nun, da unten auf dem Rasen, sie spielen »God save the queen«, die Glatze des Trainers glänzt in der Sonne, 80.000 singen, ein englischer Moment, ein großer Moment vor einem großen Spiel, und deshalb lächelt auch der Italiener Gianfranco Zola, der Coach des FC Watford. Beide wissen: Solche Tage sind selten im Leben eines Trainers, egal ob er Zola, Holloway oder Ferguson heißt.

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Der Tag, an dem der FC Bayern starb

– Rückblick: Finale dahoam (11FREUNDE.de)

Der Tag, an dem der FC Bayern starb, war traumhaft schön. Kaum ein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel über dem Englischen Garten, die Menschen saßen auf Bänken in der Sonne, sie redeten, und bisweilen sangen sie auch. Bierkrüge klirrten, die grünen Blätter der Bäume rauschten sanft im Wind. Weißbierwetter.

Nur der Flaschensammler störte kurz die Idylle, ein abgerissener Afrikaner mit Dreadlocks und kaputter Hose, einen riesigen Müllsack auf dem Buckel. »Drogba!«, murmelte er vor sich hin. »Yes, yes. Watch Drogba!« Wie bitte, was? »He’s dangerous! Yes, yes, he is!« Kaum einer nahm Notiz von dem Mann, nur hin und wieder drehte sich jemand um, mit einem müden Lächeln, mit dem man einem kleinen Kind begegnet, das gerade behauptet hat, es werde später Astronaut, ein Lächeln für Betrunkene und Geisteskranke.

Der Flaschensammler hatte sie offenkundig nicht mehr alle. Drogba? Chelsea? Nein, die Engländer waren in diesem superhappy Sommerfest nur geduldete Gäste, sie waren die bunten Wimpelchen am Zaun, die eifrigen Kellner, die den bierseligen Bayern den schäumenden Krug direkt an den Tisch servierten. Chelsea, der Treppenwitz dieses Endspiels. Im Viertelfinale schon draußen, im Halbfinale auf groteske Art siegreich gegen den großen FC Barcelona. Statt Messi, Iniesta und Xavi war also eine bessere Altherrentruppe nach München gereist. Perfekt, danke, läuft. Dachte ich, dachten alle.

München feierte rein in dieses Champions-League-Finale, ab mittags. Brezen, Sonne, mia san Bier. Und ich, der die Bayern nie gemocht hatte, tauchte ein in die allgemeine Glückseligkeit, bestellte mir eine Halbe, strich mir den Schaum aus dem Bart und freute mich auf das, was da kommen mochte. Nur auf dem Weg hinunter in die U-Bahn, Station »Universität«, kam er mir noch einmal in den Sinn, nur ganz kurz, der gemeine Satz: Was wäre wenn?

»My time is now«, stand da, auf der Werbetafel neben einer Abbildung von Didier Drogba.

Stunden später. Ecke für Chelsea. Die erste. Für Bayern hat Kroos schon gefühlt 20 reingebracht, ungefährlich allesamt, aber was soll’s? Es steht 1:0 für die Bayern, 1:0 für München, für die Party.

And now goal. Was David Luiz im Vorbeilaufen dem völlig fertigen Bastian Schweinsteiger steckte, war bei uns auf der Tribüne nur ein bitterböses Unken. Und dann: Goal. Kopfball. Drogba. So absurd und gleichzeitig so folgerichtig, dass mir in dem Moment nicht mal der Flaschensammler einfiel. Mir fiel, wie allen, in diesem Moment überhaupt nichts mehr ein. Außer Schweinsteiger. Der war schon in der 65., 70. Minute mit pumpendem Oberkörper an der Seitenlinie gewesen, hatte gierig getrunken, der Körper völlig kaputt, der Wille machte ihn funktionieren. Was macht Schweinsteiger? Er kämpft. Mit sich, gegen sich.

Dann Verlängerung. Dann Elfmeter. Drogba foult, Robben schießt. Schweinsteiger sieht nicht hin. Die falsche Seite der Arena jubelt. Schweinsteiger wird von seinem Torwart hochgerissen, er scheint lange zu brauchen, bis der Wille wieder stärker ist als der Körper. Ich beobachte jetzt nur noch ihn. Und Drogba. Ringkampf der verlorenen Seelen. Drogba stolziert in den Pausen auf und ab, vor sich hin murmelnd, wie ein Voodoopriester, wie in Trance. Und Schweinsteiger spielt eine grandiose zweite Verlängerungshälfte, dies hier ist sein größtes Spiel, zweifellos. Dann kommt das Elfmeterschießen. Und Schweinsteiger. Und Drogba. Und dann ist es vorbei, das Spiel, das Bastian Schweinsteiger dreimal verlieren und Didier Drogba dreimal gewinnen musste, ehe es endlich entschieden war.

Die Stimmung in der Stadt zu beschreiben, danach, ist unmöglich. Beerdigungen sind schöner. Später, schon weit nach Mitternacht, eine winzige, traurige Kneipe an der Schleißheimer Straße. Erbarmungswürdige Gesellschaft. Gramgebeugte Bayern-Trikots am Tresen. Trotz Musik und Geplauder: Totenstille. Und ich, der Bayern-Hasser, der sich 1999 noch gefreut hatte, dass die Bayern einen drauf bekommen hatten, wollte am liebsten hingehen und sie trösten und ihnen sagen: Es tut mir Leid, für heute – und für damals. Das habt ihr nicht verdient. Sowas hat keiner verdient.

Aber in Momenten wie diesem gibt es nichts zu sagen.

Ich zahlte mein Bier und ging langsam nach Hause.

Blau im Herzen

– Unter Roberto Di Matteo hat Chelsea tatsächlich die Champions League gewonnen – ob er bleibt, ist unklar

München (dapd). Roberto Di Matteo sieht eigentlich immer aus, als würde er lächeln. Das muss wohl an der Form seiner Mundwinkel liegen. Selbst nach Thomas Müllers vermeintlichem Siegtor für den FC Bayern sah Di Matteo nicht verdrossen aus. Vielleicht glaubte er ja immer noch dran. Wie dem auch sei: Viel später in dieser Samstagnacht, im Pressesaal der Münchner Arena, da strahlte der Interimstrainer des FC Chelsea über das ganze Gesicht.

„Es fühlt sich wirklich großartig an, das muss ich sagen“, sagte Di Matteo und schaute in die Runde. Der in der Schweiz aufgewachsene Italiener hat mit dem neuen Champions-League-Sieger FC Chelsea eine ungewöhnliche Reise hinter sich. Als er Anfang März den Job seines entlassenen Chefs Andre Villas-Boas übernahm, waren die Londoner in der Champions League so gut wie draußen – nach einem 1:3 beim SSC Neapel, das auch ein 0:5 oder 0:6 hätte sein können. Weil Ashley Cole aber auf der Linie klärte (für Di Matteo und auch Didier Drogba der Wendepunkt der Saison), gab es immerhin noch eine kleine Chance im Rückspiel. Chelsea gewann in einer dramatischen Begegnung 4:1 nach Verlängerung. Dann kam Barcelona, zwei Abwehrschlachten, die Chelsea irgendwie überstand, dann München. „Der Fußball und das Leben sind manchmal unvorhersehbar und verrückt. Kein Mensch hätte das vor drei Monaten vorhergesagt“, sagte Di Matteo.

Das Herz dieses Mannes ist blau. Sechs Jahre, von 1996 bis 2002, spielte er an der Stamford Bridge, gewann zweimal den FA-Cup und 1998 den Europapokal der Pokalsieger. Auch danach hörte Di Matteo nie auf, sich als Teil des Ganzen zu fühlen. „Vor vier Jahren haben wir eine sehr schmerzhafte Erfahrung gemacht“, erzählt er über das verlorene Champions-League-Finale von Moskau. Nur war er da gar nicht dabei, sondern saß zu Hause vor dem Fernseher, als Fan.

Vielleicht brauchte es einen wie ihn, um die alte Garde wiederzubeleben. Lampard, Terry und Drogba, denen man viel vorwerfen kann, aber nicht, dass sie sich nicht für das blaue Trikot zerreißen. Unter Di Matteo blühten sie noch einmal auf, spät und unverhofft, vielleicht weil der junge Coach sie anders als sein Vorgänger einfach machen ließ und spielen ließ, wann und wie sie wollten. „Das Herz und die Leidenschaft, die diese Spieler gerade in diesem Wettbewerb an den Tag gelegt haben, waren immens“, lobte Di Matteo artig – ebenso wie er Villas-Boas lobte, der „das Fundament gebaut“ habe. Aber natürlich war nach dessen Abgang alles anders.

Zum Beispiel die Taktik. Di Matteo ließ wieder einen Stil zu, der nicht schön war, aber den auf Ballbesitz orientierten Teams wie Barca und auch Bayern den letzten Nerv raubte. Teils zu zehnt im eigenen Strafraum, bei so gut wie jedem Schuss der Münchner mit einem Fuß oder anderem Körperteil dazwischen. Kritik an seiner Mauertaktik wischte er auch nach dem Endspiel in München vom Tisch: „Man muss immer versuchen, das Beste aus dem zu machen, was man hat.“ Das immerhin hat Roberto Di Matteo eindrucksvoll geschafft.

Wie es nun aber weitergeht mit dem lächelnden Coach, ist trotz des Titelgewinns völlig unklar. Er selbst will sich partout nicht äußern: „Was auch immer der Verein entscheidet, werde ich respektieren.“ Di Matteo weiß, dass es nur einen gibt, der darüber befinden kann: Roman Abramowitsch, Klubeigner, Geldgeber, Mr. Chelsea. Und was der nun vorhat, wird abzuwarten sein. Jetzt, da der Heilige Gral geborgen ist, am Ende einer der seltsamsten Reisen, die der Fußball seit langem gesehen hat.

Drei Schritte ins Glück

– In seinem wohl letzten Spiel verhilft Didier Drogba seiner Chelsea-Generation doch noch zum größten Titel

München (dapd). Drei Schritte nahm Didier Drogba Anlauf zum Glück, penibel genau abgezählt, wie immer. Drei entschlossene Schritte nach hinten, zwei minimale Tippelschritte zur Seite. Dann wurde Drogba ganz ruhig, ganz langsam hob er den Blick, während Manuel Neuer vor diesem entscheidenden Elfmeter auf der Linie auf und ab hüpfte, als sei er ein betrunkener Clown. Mit einem Ruck unterband Drogba diese Ablenkungen, lief an und schoss den Ball über das linke Standbein hinweg unhaltbar ins Netz – wie einen Trainingsschuss.

Didier Drogba, Stürmer des FC Chelsea seit acht Jahren, hatte in diesem Moment seine Mission erfüllt. In seinem möglicherweise letzten Spiel hatte er dem Klub aus London den ersten, so heiß ersehnten und lange verfolgten Champions-League-Sieg beschert. Und so einfach in Richtung China – wie spekuliert wird – wollen die Klubverantwortlichen den Stürmer, dessen Vertrag Ende dieses Monats ausläuft, nicht ziehen lassen. Chelseas Vorstandsvorsitzender Bruce Buck kündigte an, Vertragsgespräche mit Drogba „lieber früher als später“ aufzunehmen. Noch in der kommenden Woche, erklärte Buck weiter, werde man sich mit dem Berater von Drogba zusammensetzen.

Der Triumph im Elfmeterschießen gegen den FC Bayern hat eine Milliarde Euro von Klubeigner Roman Abramowitsch gekostet – und die ganze Willenskraft von Didier Drogba. „Ich bin seit acht Jahren hier. Wir waren immer so dicht dran und doch so weit davon entfernt“, sagte Drogba weit nach Mitternacht vor den verbliebenen Journalisten. „Jetzt haben wir diesen Pokal. Er geht an die Stamford Bridge.“

Mit 34 Jahren hat Didier Drogba es doch noch geschafft – und mit ihm die alten Gefährten Frank Lampard und John Terry. „Frank, JT oder Carlo Cudicini – sie haben uns gezeigt, wie man ein Chelsea-Spieler wird“, sagte Drogba rückblickend. Dreimal hatte Drogbas Generation seit seiner Ankunft in London 2004 im Halbfinale gestanden, München war ihr zweites Finale. 2008 waren sie an einem Elfmeter des diesmal zum Zuschauen verdammten Terry gescheitert, diesmal scheiterten die Bayern.

„Moskau war eine sehr schwierige Erfahrung, aber heute haben wir es geschafft, sie zu verändern“, sagte Drogba. Wie schon in den Halbfinalspielen gegen den FC Barcelona war der einzige Stürmer in Chelseas Riegelsystem schier omnipräsent. Er musste es sein bei der bayrischen Dominanz. So klärte er zahlreiche der zahlreichen Bayern-Ecken am Fünfmeterraum, warf sich mit unzähmbarer Willenskraft in jedes noch so aussichtslose Luftduell. Selbst Thomas Müllers spätes Führungstor in der 83. Minute konnte Drogbas Mission nicht erschüttern. Fünf Minuten später wuchtete er acht Jahre enttäuschte Hoffnung in die Eckstoßflanke von Juan Mata – die erste und einzige des Spiels.

„Ich wollte, dass Chelsea lacht“, sagte Drogba hinterher schlicht, doch beinahe hätte er die Spieler und Fans in Blau zum Weinen gebracht. Weil aber Arjen Robben die Hauptrolle des Abends nach Drogbas übereifrigem Foul an Franck Ribery nicht übernehmen konnte, weil Petr Cech dessen Elfmeter hielt – daher liefen die Dinge weiterhin in die Richtung des Mannes mit der Nummer 11.

In den immer kürzer werdenden Pausen zwischen den Spielabschnitten lief der, statt sich massieren zu lassen, auf und ab, kaum behelligt von seinen Teamkollegen, sprach sich selbst sichtbar Mut zu, sah immer wieder ehrfurchtsvoll hinauf, am Dach der Arena vorbei in die Unendlichkeit.

Dann kam das Elfmeterschießen, in dem Olic und Schweinsteiger zu ihrem Unglück dafür sorgten, dass Drogba den Schlusspunkt setzen konnte. „Oh, mein Gott“, schien er noch zu sagen, bevor ihn seine Mitspieler umrissen und unter sich begruben.

„Ich war zuversichtlich, bevor ich ihn schoss“, sagte Drogba. „Aber ich hatte auch im Kopf, was beim Afrika-Cup passiert war.“ Drogba kennt die andere Seite, er hat zweimal dort gestanden, im Dunkel: Im Februar vergab er den Titel gegen Außenseiter Sambia vom Punkt, 2006 verschoss er seinen Elfmeter im Endspiel gegen Ägypten.

Nicht lange nach seinem wohl letzten erfolgreichen Torschuss für Chelsea schritt Didier Drogba also zu den Bayern in den Mittelkreis, er umarmte Schweinsteiger und Ribery, sprach ihnen etwas Trost zu. Am längsten hielt er Arjen Robben im Arm, den Untröstlichen, der bitterlich an seiner Schulter weinte.