Gegen das Trauma Henry

– Irland will in den EM-Playoffs gegen Estland das Handspiel des Franzosen vergessen

Berlin/Tallinn (dapd). Der irische Alptraum besteht aus einem langen Freistoß, einer Ballannahme plus Querpass und einem Abstauber auf der Torlinie. Der Torschütze (William Gallas) wird bald ebenso vergessen sein wie der Freistoßausführende (Florent Malouda). Der Name des Zwischenmannes aber wird wohl auf ewig in den Pubs von Dublin widerhallen. Thierry Henry. Sein Handspiel vor dem 1:1-Ausgleich in der Verlängerung brachte die wackere irische Fußballnation um den Lohn ihrer Mühen, die WM-Teilnahme 2010.

Ziemlich genau zwei Jahre später wollen Irlands Fußballer das Kapitel Henry für sich abschließen. Sie wollen Estland in zwei Playoff-Spielen am Freitag (in Tallinn) und Dienstag (in Dublin) schlagen und an der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine teilnehmen. Es wäre das erste Mal seit 1988, das zweite Mal überhaupt.

„Jeder hat diese Narbe. Die Wunde ist noch da“, sagte Verteidiger Stephen Kelly irischen Medien. „Wenn wir uns jetzt qualifizieren, wird sich das hoffentlich wie ein Pflaster darüberlegen und wir können es vergessen, es wird erledigt sein. Es ist uns frisch im Gedächtnis und wir sind alle sehr darum bemüht, so etwas nicht nochmals geschehen zu lassen.“

„Die Jungs waren sehr aufgebracht“

Irland spielt gegen Estland, aber auch gegen das Trauma Henry. Es wollte nicht in die Dickschädel dieser stolzen Sportsmänner, dass diese offensichtliche, himmelschreiende Ungerechtigkeit unbestraft blieb. „Die Jungs waren darüber damals sehr aufgebracht“, sagt Paul McShane, der damals im Pariser Stade de France eingewechselt wurde. „Hoffentlich haben wir diesmal ein bisschen Glück auf unserer Seite.“

Alles hatten sie damals versucht, doch noch Gerechtigkeit zu erfahren. Zunächst plädierten sie für ein Wiederholungsspiel, später dafür, als 33. Mannschaft für die WM zugelassen zu werden. Doch die FIFA beharrte unerbittlich auf der Tatsachenentscheidung von Schiedsrichter Martin Hansson aus Schweden.

Auch über die erst nachträglich beschlossene Setzliste, die die großen Nationen bevorzugte, protestierten die Iren vor zwei Jahren. Diesmal haben sie selbst von dem Ranking profitiert. Als 13. der UEFA-Rangliste wurden sie der Nummer 37 in Europa zugelost.

Irland ist Favorit – das ist ungewohnt

Das Team von Giovanni Trapattoni ist gegen Estland Favorit, auch weil das Rückspiel in der eigenen Hauptstadt stattfindet. Eine ungewohnte Situation. Schon warnt Keeper Shay Given, der vor zwei Jahren den besten Blick auf Henrys Hand hatte und am vehementesten protestierte, vor ungebührlicher Euphorie: „Unsere Spieler und Fans müssen realistisch bleiben. Wir dürfen uns nicht zu weit aus dem Fenster lehnen“, sagte der 35 Jahre alte Torwart der „Irish Times“, der darauf hinwies, dass die Esten in ihrer Gruppe immerhin Serbien und Slowenien schlugen.

Im Auswärtsspiel sind die Iren dezimiert, die Verletzten John O’Shea, Shane Long und Liam Lawrence fehlen ebenso wie der gesperrte Kevin Doyle und Leon Best. „Wir dürfen keine Angst haben, wir müssen daran glauben und zuversichtlich sein, dass wir diesmal an der Reihe sind. Es ist eine große Chance für uns“, sagte Given.

Wenn er und seine Kollegen sie tatsächlich nutzen, könnte es sein, dass die künftigen Generationen in Dublins Pubs statt über diesen Henry viel lieber über die irischen Heldentaten reden: Wisst ihr noch, damals, in Polen und der Ukraine?

Das Bangen der Stars

– Nicht nur Cristiano Ronaldo könnte die EM verpassen

Berlin (dapd). Wo genau Wayne Rooney den Sommer 2008 verbracht hat, ist unerheblich. Er wird irgendwo am Strand gelegen haben. Wichtig ist, wo er ihn nicht verbracht: In Österreich und der Schweiz. Für die vergangene Fußball-Europameisterschaft konnten sich die Engländer bekanntlich nicht qualifizieren. Und am Freitag und Dienstag wird sie ebenfalls wieder mit im Spiel sein, die Angst vor dem Scheitern, wenn es in den Playoff-Duellen um die letzten vier Plätze bei der EM in Polen und der Ukraine geht.

Cristiano Ronaldos Ego ist legendär, doch selbst er wird vor den schwierigen Spielen gegen Bosnien vermutlich den einen oder anderen Moment des Zweifelns durchleben. Der Gedanke wäre nur menschlich: Was, wenn es doch schiefgeht? Gerade hat Ronaldo sein 100. Pflichtspieltor für seinen Klub Real Madrid erzielt, doch in dieser Länderspielpause geht es um mehr. Einer wie er kann sich eine verpasste EM, immerhin das zweitgrößte Fußballereignis weltweit, schlicht nicht leisten – vor seinen Sponsoren nicht, vor sich selbst schon gar nicht.

Alles werden er und seine Mitstreiter also in diese 180 plus x Minuten legen, wie Ronaldos Sturmkollege Helder Postiga bestätigt: „Wir sind komplett auf Bosnien konzentriert. Wir denken nur an die beiden Spiele.“ Wie eng das alles werden kann, wissen die Portugiesen. Vor zwei Jahren mühten sie sich, ohne Ronaldo, zu zwei knappen 1:0-Siegen gegen die Bosnier und damit zur WM in Südafrika.

Portugal gegen Bosnien ist zweifellos das Topduell der großen Namen. Auf der anderen Seite will Edin Dzeko sein Land zum Europa-Turnier schießen. Die Zeichen stehen gut: Nach halbjähriger Eingewöhnungsphase trifft der 37-Millionen-Euro-Mann für Manchester City mittlerweile, wie er will. Zehn Tore in neun Spielen in der Premier League, auch in den letzten beiden Gruppenspielen der EM-Qualifikation war er zur Stelle.

Bereits nach der Playoff-Auslosung Mitte Oktober schob Dzeko die Verantwortung hinüber zum Weltstar von Real: „Jedes Team, in dem Ronaldo spielt, ist Favorit.“ Sein Trainer Safet Susic sieht die beiden Topstürmer derweil fast schon auf Augenhöhe: „Warum sollte uns also nicht eine Überraschung gelingen? Die haben Cristiano Ronaldo, wir haben Edin Dzeko.“ Die Portugiesen kämpfen derweil auch für die eigene Erfolgsserie, seit 1996 sind sie bei EM-Turnieren immer mindestens ins Viertelfinale gekommen.

Auch bei den anderen Playoff-Paarungen könnten große Namen auf der Strecke bleiben. Dzekos kroatischer Premier-League-Kollege Luka Modric muss sich in zwei erwartbar hitzigen Spielen gegen die Türkei durchsetzen, ihm zur Seite steht eine ganze Armada derzeitiger und ehemaliger Bundesliga-Profis, mit Wolfsburgs Mario Mandzukic an der Spitze. Die Türken ihrerseits verfügen seit diesem Jahr über zwei Profis von Real Madrid. Während Hamit Altintop seine Mannschaft wie gewohnt als Kapitän aufs Feld führen wird, ist Nuri Sahin nach langer Verletzung noch nicht mit dabei.

Die Tschechen Tomas Rosicky und Milan Baros sind mit ihren mittlerweile 31 und 30 Jahren schon als Altstars zu klassifizieren, ihr großer Auftritt auf Europas Bühne liegt bereits sieben Jahre zurück. Gegen Montenegro um die Italien-Profis Mirko Vucinic (Juventus) und Stevan Jovetic (Florenz) will der Halbfinalist von 2004 nach dem Vorrunden-Aus 2008 nun zunächst das Minimalziel erreichen: Die Verlosung der EM-Gruppen am 2. Dezember in Kiew. Je nach Verlauf der Playoff-Spiele dürfte dann der eine oder andere Starspieler zähneknirschend auf dem heimischen Sofa sitzen.