Noch ein Ausraster zum Abschied

– Frankreichs Nasri sorgt nach „logischem“ Scheitern im EM-Viertelfinale für Eklat – Blancs Zukunft ungewiss

Donezk (dapd). Man hatte absehen können, dass es zum Schluss noch mal knallt. Alles andere wäre irgendwie nicht standesgemäß gewesen. Also vergaß der Franzose Samir Nasri nach dem 0:2 (0:1) im EM-Viertelfinale gegen Spanien seine Kinderstube. Statt altkluge Fragen zu stellen, solle er doch bitte seine eigene Mutter beschlafen, empfahl der 24-Jährige einem Journalisten in nicht jugendfreiem Ton. Wahlweise könne man die Angelegenheit auch an der frischen Luft klären – nach alter Väter Sitte.

Trainer Laurent Blanc kritisierte am Sonntag beim Sender TF1 Nasris Wortwahl als „bedauerlich“. Obwohl Blanc gleichzeitig die Medien für den Umgang mit seinen Spielern tadelte, war seine Einschätzung des Ausrasters eindeutig: „Für Nasris Image ist das sehr schlimm, aber auch für das der Mannschaft.“

Nach dem Ausscheiden tauchten sie dann also doch noch einmal auf, die zuletzt wieder oft zitierten Dämonen von Knysna. Der erzürnte Nasri bediente sich passenderweise exakt jener Formulierung, mit der Stürmer Nicolas Anelka bei der Skandal-WM vor zwei Jahren in Trainer Raymond Domenech in der Kabine bedacht hatte. „Ein logisches Ende“, titelte Frankreichs größtes Sportblatt „L’Equipe“.

Ganz so schlimm wie der Winter in Südafrika ist die osteuropäische Sommerreise dann aber doch nicht verlaufen. Frankreichs Equipe hat sich diesmal nicht bis auf die Knochen blamiert, sie hat sogar das von Trainer Laurent Blanc im Vorfeld ausgegebene Minimalziel erfüllt: Den ersten Sieg bei einem großen Turnier seit der WM 2006 wolle er mit seinem Team einfahren, hatte der Coach gesagt. Das gelang. Mehr aber auch nicht.

Einziges französisches Erfolgserlebnis bei der EM: Ein 2:0 gegen Gastgeber Ukraine. Davor: Ein schlaffes 1:1 gegen mauernde Engländer. Danach: Ein peinliches 0:2 gegen bereits ausgeschiedene Schweden. Und dann das 0:2 gegen Spanien, das man wahlweise als achtbar oder als verdient bezeichnen kann. Blancs Team zeigte in der Vorrunde gerade zu viel zum Sterben, im Viertelfinale bei weitem nicht genug zum Überleben.

„Wenn man verliert, fehlt es einem immer an etwas“, sagte Blanc lakonisch. „Ich weiß nicht, ob es der Ehrgeiz war oder die technische Genauigkeit.“ Das klang so, als ob er an beidem so seine Zweifel gehabt hätte. Dennoch fand der 46-Jährige, dass „meine Jungs alles gegeben haben.“ Das aber war offensichtlich nicht genug gegen eine kaum mehr als solide spanische Mannschaft, die sich mit einer für sie bescheidenen Ballbesitzquote von 55 Prozent begnügte und ansonsten das frühe 1:0 verwaltete.

Was also hat Frankreich gefehlt bei diesem Turnier – außer gelegentlich die Kinderstube im gegenseitigen Umgang? Zum einen sicher der „technische Leader“, den die Nation seit Zinedine Zidanes Rücktritt 2006 so angestrengt sucht. Weder Karim Benzema noch Nasri oder ein anderer konnten diese Rolle auch nur ansatzweise ausfüllen. Des weiteren mangelte es schlicht an genügend Spielern von internationaler Klasse.

Gegen Spanien konnte neben Bayern-Angreifer Franck Ribery und Keeper Hugo Lloris lediglich dem unermüdlichen Yohan Cabaye und nach der Pause noch Florent Malouda dieses Niveau attestiert werden. Benzema, der gegen seine spanischen Klubkollegen von Real Madrid fahrig bis übermotiviert wirkte, blieb erneut vieles schuldig. Der hochgelobte Stürmer fährt ohne EM-Tor in den Urlaub. „Wir haben gut gespielt und verloren, klar sind wir enttäuscht“, sagte der 24-Jährige: „Aber wir sind ins Viertelfinale gekommen, wo uns niemand gesehen hatte.“

Das Zusammenspiel zwischen ihm und dem erneut fleißigsten Franzosen Ribery scheiterte dennoch öfter als es klappte. „Zwei, drei Mal hätten wir sie in Schwierigkeiten bringen können, aber uns hat letztendlich die Technik gefehlt“, sagte Blanc, dessen Zukunft ungewiss ist. Am Spielabend wollte er sich nicht dazu äußern, ob er seinen nach der EM endenden Vertrag verlängern wird – oder darf. Verbandspräsident Noel Le Graet kündigte an, sich mit Blanc „in den nächsten acht Tagen“ zusammenzusetzen.

Das Understatement des Liberos

– 100 Tage vor der EM ist Frankreichs Coach Laurent Blanc darum bemüht, die Erwartungen zu dämpfen

Berlin/Paris (dapd). Der Mann, der das Hemd unter dem legeren Sakko offen trägt, könnte mit seinen etwas zerzausten Haaren und der randlosen Brille auf den ersten Blick ein Universitätsprofessor sein. Als Grundschullehrer könnte er auch durchgehen. Wäre da nicht die riesige Sponsorenwand im Hintergrund. Vor Laurent Blanc, dem Fußballlehrer, sitzen die französischen Journalisten, eine aufmüpfige Klasse.

Blanc spricht mit ruhiger Stimme über den nächsten Gegner seiner Mannschaft, am Mittwoch in Bremen: die deutsche Elf von Joachim Löw. „Wir sind nicht auf ihrem Niveau“, sagt Blanc, „aber wir werden dieses Spiel mit unseren Möglichkeiten spielen und versuchen zu gewinnen, auch wenn Sie darüber schmunzeln mögen.“ So weit ist es mit der Grande Nation also gekommen.

Frankreich gegen Deutschland der krasse Außenseiter? Dabei haben doch die Franzosen das letzte Mal vor 25 Jahren gegen ihre nordöstlichen Nachbarn verloren, 1987, zwei Tore von Rudi Völler. Die Älteren erinnern sich.

Das Understatement des ehemaligen Weltklasse-Liberos Blanc hat Prinzip. Und Gründe. Da wäre zum einen die Stärke des Gegners. Deutschland ist wieder wer, das weiß und sagt auch Blanc. Er nennt die deutsche Elf „eine hübsche Maschine“. Die ist im vergangenen Jahr mal eben über Brasilien und Holland gerollt und dazwischen unter Volldampf zur erfolgreichen EM-Qualifikation. Blanc sagt: „Keiner gibt uns eine Chance, aber… Wir haben nichts zu verlieren.“

Zum anderen sind die moderaten Worte des Welt- und Europameisters Blanc in der Entwicklung der Equipe Tricolore selbst begründet. Neulich hat der 46-Jährige sich noch einmal genötigt gesehen, auf die Fakten hinzuweisen: Seit der WM in Deutschland, was fast sechs Jahre her ist, hat die französische Mannschaft kein Spiel mehr bei einer internationalen Endrunde gewonnen, wie Blanc gegenüber „Le Monde“ in Erinnerung rief. Für die EM im Sommer gebe es daher nur eine Vorgabe: „Unser Ziel ist es, ein Spiel zu gewinnen.“ Das wahre Ziel sei die EM 2016 im eigenen Land.

Das will natürlich keiner hören in Blancs Heimat, auch wenn die Franzosen mit England, Gastgeber Ukraine und den unberechenbaren Schweden keine leichte Gruppe zugelost bekommen haben. Zwar blieben die Franzosen im Länderspieljahr 2011 ungeschlagen (und siegten, ganz nebenbei, ebenfalls gegen Brasilien), und auch die direkte Qualifikation für die EM wurde geschafft. Allerdings schrammte das Team im letzten Spiel gegen Bosnien ziemlich knapp an einer Blamage und dem Umweg der Playoffs vorbei.

Blancs Verhältnis zu den Journalisten ist derweil mit etwas Wohlwollen als angespannt zu bezeichnen. Er selbst sieht sich als Opfer einer Kampagne. „TV, Radio, Presse, alle suchen nach Polemik, um Trubel zu machen“, sagte er. „Das war seit meinem Amtsantritt so.“ Das Problem sei das allzu kurze Erinnerungsvermögen der Beobachter. Er erinnerte noch einmal an Knysna, Ort des WM-Camps in Südafrika, Ort der Schande. Dort rebellierte das Nationalteam gegen Blancs Vorgänger Raymond Domenech und reiste nach drei Spielen ohne Sieg wieder heim.

Auch von Spannungen mit Verbandspräsident Noel Le Graet wird berichtet. Der soll angeblich längst auf der Suche nach Blancs Nachfolger sein, unter anderem geistert der Name Arsene Wenger durch die Gazetten, weil der Elsässer am Langzeitprojekt FC Arsenal den Spaß zu verlieren scheint. Alles dürfte von Blancs Erfolg im Sommer abhängen. Anfang Februar sagte sein Chef Le Graet der Fachzeitung „L’Equipe“: „Ich hoffe, dass Blanc Trainer bleibt, denn das bedeutet, dass wir eine gute EM gespielt haben.“

Nicht zur Stabilisierung seiner Position trugen Blancs krude Aussagen zum Körperbau afrikanischstämmiger Spieler bei, die im Mai vergangenen Jahres aus internen Verbandsprotokollen an die Öffentlichkeit gelangten. Darin befürwortete Blanc, die Quote für Nachwuchsspieler mit Migrationshintergrund zu begrenzen, weil die sich unter Umständen für das Land ihrer Eltern entscheiden könnten und die Ausbildung damit vergeblich für Frankreich sein könne. Sein ehemaliger Mitstreiter Lilian Thuram forderte ihn daraufhin zum Rücktritt auf.

Ein Dreivierteljahr später aber ist Blanc noch da, er ist ganz der alte Kämpfer. Und weist den Druck von sich. „Was riskiert man schon in einem Freundschaftsspiel?“, fragt der Mann mit der zerzausten Frisur und lugt über den Rand seiner Brille in die Runde. Die vor ihm sitzende Klasse bleibt skeptisch.