Timos Traum

– Er spielte in einer Elf mit Thomas Müller – ein Jahr später war Müller Deutschlands Held, und Timo Heinze hörte mit dem Fußball auf. Eine Geschichte von Aufstieg und Fall (11FREUNDE, Tsp.)

Es gibt diese eine Szene, eine, von der kleine Kinder träumen und, ja, auch Erwachsene. Das große Stadion, Flutlicht, volles Haus. Auf dem Feld: Die besten Fußballspieler Deutschlands. Den Ball abfangen, in der eigenen Hälfte, und nach vorne sprinten, in den freien Raum, den Ball vor sich hertreiben, Haken schlagen, ein, zwei Gegner stehenlassen, schon dicht am anderen Strafraum. „Hier ist Heinze“, sagt Kommentator Bela Rethy, „ein 22 Jahre alter Außenverteidiger.“ Es ist der Satz, den wir alle mal hören wollten, über uns.

Die Menge in der Münchner Arena raunt, Timo Heinze könnte jetzt schießen, gleichzeitig sieht er, wie der Stürmer Miroslav Klose seinen Weg kreuzt. Eine blitzschnelle Entscheidung. Heinze spielt den Ball geradeaus in die Lücke, doch Klose läuft weiter nach rechts, ein einfaches Missverständnis. Der Ball trudelt ins Leere.

Und dann dieses Foto, entstanden nur ein paar Monate später. Die Ersatzbank. Junge Menschen mit tiefen Brauen. Auswechselspieler sehen selten glücklich aus. Doch Timo Heinze, ganz rechts, leerer Blick, Zähne auf der Unterlippe, sieht aus wie einer, der sich fragt: Was mache ich hier? Er sieht aus wie ein Verlorener.

Der Fußball ist ein rasendes Business, das ist ein Klischee, aber über Timo Heinze ist es wahrhaft hereingebrochen. Er hat den Traum gelebt, unser aller Traum, er war Jugendnationalspieler, Kapitän der Bayern-Reserve mit Anfang 20, auf dem Sprung nach oben. Vielleicht nach ganz oben. Und dann spuckte ihn die große Maschine wieder aus. Sein Spurt bei Oliver Kahns Abschiedsspiel blieb der einzige Moment auf der ganz großen Bühne. Heinze hat es nicht geschafft. In einem Sport, der nur in Gewinner und Verlierer einteilt, hat er verloren. Darüber hat er ein Buch geschrieben, „Nachspielzeit: Eine unvollendete Fußballkarriere“, erschienen Ende letzten Jahres. Eine Selbsttherapie. Eine Abschiedshilfe. „Das Buch war ein Glücksfall“, sagt Heinze. „Wenn ich das nicht alles aufgeschrieben hätte, wäre ich sicher noch nicht so weit.“ Nicht so weit mit der Trauerarbeit. Mit dem Entzug.

Denn der Fußball ist wie eine Droge für die, die sich ihm verschrieben haben. Nur wer sich ihm ganz und gar hingibt, wer alles andere vernachlässigt, der kann es überhaupt zu etwas bringen. Davon wieder loszukommen, ist irrsinnig schwer, manche schaffen es nie, man muss sich nur all die traurigen Ex-Profis anschauen, die Tag für Tag in den Sportsendungen herumsitzen. Timo Heinze musste noch viel früher als die meisten loslassen, was es nicht einfacher macht. „Es tut inzwischen nicht mehr weh“, sagt Heinze, „ich habe abgeschlossen.“ Aber er sagt diese Sätze vorsichtig, wie jemand, der von der ersten großen Liebe berichtet, die immer die bedingungsloseste ist, weil sie noch keine Enttäuschung kennt.

Fußball ist ein einfaches Spiel, sagen die, die keine Ahnung haben. Es ist ja gerade die Einfachheit, die den Sport so schwer beherrschbar macht. Der Mensch ist nicht einfach. „Ich war schon immer ein Kopfmensch“, sagt Heinze, und was eine nützliche Eigenschaft sein kann, wenn es gut läuft, verkehrt sich in der Krise schnell ins Gegenteil: „Um ehrlich zu sein, ich war immer ein Spieler, der das Vertrauen brauchte, um dann gute Leistungen zu bringen“, schreibt Heinze. „Wenn ich mich in meiner Situation unwohl fühlte und die Anerkennung des Trainers vermisste, fiel meine Leistung rapide ab. Einem Thomas Müller zum Beispiel wäre das niemals passiert.“

Müller. Er hat das Vorwort zu Heinzes Buch geschrieben, natürlich kein Zufall. Er hat zusammen mit Heinze bei Bayerns zweiter Mannschaft gekickt, noch 2009 stehen sie zusammen auf dem Feld. Ein Jahr später beendet Heinze frustriert seine Karriere, und Müller wird der jüngste WM-Torschützenkönig aller Zeiten.

Heinze redet nur gut über Müller, sie sind Kumpels von früher, er bewundert ihn für seine Art, die er „schizophren“ nennt. Damit meint er: dass Müller, der intelligente, beredte Kerl, auf dem Platz ein anderer wird, wie auf Knopfdruck. Die Last der Gedanken wegwischt, die vergebenen Chancen, die Erwartung der Zuschauer. Das ist Müllers größte Gabe. Er hat es geschafft, obwohl er viel zu dünn ist, eigentlich, und viel zu hölzern. Über seinen Treffer im Champions-League-Finale gegen Chelsea schrieb die „Süddeutsche Zeitung“: „Die Bayern hatten den Schlüssel gesucht, und am Ende hatte Thomas Müller die Tür einfach eingetreten.“ Ein unmögliches Tor, ein hässlicher Aufsetzer, man musste zweimal hinsehen, aber der Ball war drin. So einer ist Müller. Ein Gewinner. Als er ausgewechselt wurde, verloren die Bayern noch.

Auch Heinze ist lange ein Gewinner im Sinne des Systems, er spricht ein bisschen so wie Müller, hat das gleiche breite Grinsen, mit zwölf Jahren wird er von den Bayern-Scouts entdeckt, er durchläuft alle Jugendteams, absolviert zwei Dutzend Länderspiele bis zur A-Jugend. Dann, das Abitur gerade gepackt: der erste Knick. Leistenbruch, beidseitig, eine normale Verletzung, zumal bei Fußballern. Doch nach der Operation schmerzen die Narben, es gibt Komplikationen, eine Not-OP. „Das war der erste Riesenschlag“, sagt Heinze heute, „wenn man so will, war die Verletzung der Anfang allen Übels.“ Am Ende wird Heinze wieder fit, doch es dauert ein Jahr. Ein verlorenes Jahr. Eine Ewigkeit, gerade in dem Alter. Doch Heinze kämpft sich zurück, spielt bald für die Bayern-Reserve und wird von Trainer Hermann Gerland schließlich sogar zum Kapitän gemacht. Es scheint nur noch ein ganz kleiner Schritt zu sein. Der Traum ist fast Wirklichkeit. Und dann geht alles binnen weniger Wochen dahin. Warum?

Es gibt keine Antworten, nur Faktoren. Zum einen ist da die Erinnerung an die Verletzung, die erste Begegnung mit dem möglichen Scheitern. Zum anderen wird Heinze vom Coach auf die Bank gesetzt, plötzlich, ohne große Begründung. Das ist nicht gut, aber das passiert. Gerland ist alte Schule, ein grimmiger Schweiger, aber ein absoluter Fachmann. Heinze sagt: „Die Entscheidung war hart, aber sie hat mich extrem aus der Bahn geworfen. Wie ich damit umgegangen bin, war alles andere als optimal. Ich konnte das nicht mehr ausblenden und mich aufs Wesentliche konzentrieren.“

Das Scheitern ist jetzt immer präsent, der Kopf ist Timo Heinzes größter Feind. Warum er, warum schon wieder solch ein Rückschlag? Wozu ist das gut, was hat das Schicksal mit ihm vor? Fragen über Fragen, die ihn lähmen. Selbst wenn er mal wieder spielen darf: „Was geht im Kopf des Trainers jetzt vor? Wird er mich gleich auswechseln? Sitze ich dann in nächster Zeit wieder nur auf der Bank? Und wie soll ich dann einen guten Verein finden?“ Unnütze Fragen, weil es keine Antworten gibt. Timo Heinze hat den Glauben an sich selbst verloren.

Es geht, fast zwangsläufig, bergab. Die Bayern verlängern seinen Vertrag nicht. Heinze fällt nun doch noch durchs Sieb, wie so viele vor ihm. Am letzten Trainingstag läuft er mit einer Videokamera noch einmal die Gänge an der Säbener Straße ab. Als müsse er sich selbst überzeugen, dass dies alles Wirklichkeit war. Dass er, der Bayern-Fan, elf Jahre bei seinem Lieblingsklub hatte spielen dürfen.

Es folgt noch ein enttäuschendes Jahr beim Münchner Vorortklub Unterhaching, dann beendet Timo Heinze seine Karriere, mit 24. Als Thomas Müller sein erstes Champions-League-Finale spielt, ist Heinze gerade auf Bali, seinen Rucksack hat er dabei. Eine Flucht vor den Gedanken, eine Flucht ins Selbst. Endlich eine Reise ohne Trainingsplan. Eines Tages spielt er wieder Fußball, am Strand, mit Engländern, Holländern, Spaniern. Backpacker-Weltauswahl. Sie spielen wieder wie früher, wie die Kinder, nur aus Spaß, nur für sich. Für Heinze ein wunderbarer Moment. Er sagt: „Das Spiel an sich ist wunderschön.“

Heinzes neues, zweites Leben: Sportstudium in Köln, sechstes Semester. Vielleicht wird er danach Sportpsychologe, sagt er, „ich kann da sicher einiges weitergeben“. In seiner Freizeit spielt er Futsal, das ist eine komprimierte Variante des Fußballs. Kleinerer Ball, kleineres Feld. Es geht um Technik, um Ballbehandlung, um Schnelligkeit. In Deutschland interessiert sich kaum einer für Futsal. Timo Heinze sagt: „Ich bin mit meinem Leben sehr zufrieden.“

Der Tag, an dem der FC Bayern starb

– Rückblick: Finale dahoam (11FREUNDE.de)

Der Tag, an dem der FC Bayern starb, war traumhaft schön. Kaum ein Wölkchen trübte den tiefblauen Himmel über dem Englischen Garten, die Menschen saßen auf Bänken in der Sonne, sie redeten, und bisweilen sangen sie auch. Bierkrüge klirrten, die grünen Blätter der Bäume rauschten sanft im Wind. Weißbierwetter.

Nur der Flaschensammler störte kurz die Idylle, ein abgerissener Afrikaner mit Dreadlocks und kaputter Hose, einen riesigen Müllsack auf dem Buckel. »Drogba!«, murmelte er vor sich hin. »Yes, yes. Watch Drogba!« Wie bitte, was? »He’s dangerous! Yes, yes, he is!« Kaum einer nahm Notiz von dem Mann, nur hin und wieder drehte sich jemand um, mit einem müden Lächeln, mit dem man einem kleinen Kind begegnet, das gerade behauptet hat, es werde später Astronaut, ein Lächeln für Betrunkene und Geisteskranke.

Der Flaschensammler hatte sie offenkundig nicht mehr alle. Drogba? Chelsea? Nein, die Engländer waren in diesem superhappy Sommerfest nur geduldete Gäste, sie waren die bunten Wimpelchen am Zaun, die eifrigen Kellner, die den bierseligen Bayern den schäumenden Krug direkt an den Tisch servierten. Chelsea, der Treppenwitz dieses Endspiels. Im Viertelfinale schon draußen, im Halbfinale auf groteske Art siegreich gegen den großen FC Barcelona. Statt Messi, Iniesta und Xavi war also eine bessere Altherrentruppe nach München gereist. Perfekt, danke, läuft. Dachte ich, dachten alle.

München feierte rein in dieses Champions-League-Finale, ab mittags. Brezen, Sonne, mia san Bier. Und ich, der die Bayern nie gemocht hatte, tauchte ein in die allgemeine Glückseligkeit, bestellte mir eine Halbe, strich mir den Schaum aus dem Bart und freute mich auf das, was da kommen mochte. Nur auf dem Weg hinunter in die U-Bahn, Station »Universität«, kam er mir noch einmal in den Sinn, nur ganz kurz, der gemeine Satz: Was wäre wenn?

»My time is now«, stand da, auf der Werbetafel neben einer Abbildung von Didier Drogba.

Stunden später. Ecke für Chelsea. Die erste. Für Bayern hat Kroos schon gefühlt 20 reingebracht, ungefährlich allesamt, aber was soll’s? Es steht 1:0 für die Bayern, 1:0 für München, für die Party.

And now goal. Was David Luiz im Vorbeilaufen dem völlig fertigen Bastian Schweinsteiger steckte, war bei uns auf der Tribüne nur ein bitterböses Unken. Und dann: Goal. Kopfball. Drogba. So absurd und gleichzeitig so folgerichtig, dass mir in dem Moment nicht mal der Flaschensammler einfiel. Mir fiel, wie allen, in diesem Moment überhaupt nichts mehr ein. Außer Schweinsteiger. Der war schon in der 65., 70. Minute mit pumpendem Oberkörper an der Seitenlinie gewesen, hatte gierig getrunken, der Körper völlig kaputt, der Wille machte ihn funktionieren. Was macht Schweinsteiger? Er kämpft. Mit sich, gegen sich.

Dann Verlängerung. Dann Elfmeter. Drogba foult, Robben schießt. Schweinsteiger sieht nicht hin. Die falsche Seite der Arena jubelt. Schweinsteiger wird von seinem Torwart hochgerissen, er scheint lange zu brauchen, bis der Wille wieder stärker ist als der Körper. Ich beobachte jetzt nur noch ihn. Und Drogba. Ringkampf der verlorenen Seelen. Drogba stolziert in den Pausen auf und ab, vor sich hin murmelnd, wie ein Voodoopriester, wie in Trance. Und Schweinsteiger spielt eine grandiose zweite Verlängerungshälfte, dies hier ist sein größtes Spiel, zweifellos. Dann kommt das Elfmeterschießen. Und Schweinsteiger. Und Drogba. Und dann ist es vorbei, das Spiel, das Bastian Schweinsteiger dreimal verlieren und Didier Drogba dreimal gewinnen musste, ehe es endlich entschieden war.

Die Stimmung in der Stadt zu beschreiben, danach, ist unmöglich. Beerdigungen sind schöner. Später, schon weit nach Mitternacht, eine winzige, traurige Kneipe an der Schleißheimer Straße. Erbarmungswürdige Gesellschaft. Gramgebeugte Bayern-Trikots am Tresen. Trotz Musik und Geplauder: Totenstille. Und ich, der Bayern-Hasser, der sich 1999 noch gefreut hatte, dass die Bayern einen drauf bekommen hatten, wollte am liebsten hingehen und sie trösten und ihnen sagen: Es tut mir Leid, für heute – und für damals. Das habt ihr nicht verdient. Sowas hat keiner verdient.

Aber in Momenten wie diesem gibt es nichts zu sagen.

Ich zahlte mein Bier und ging langsam nach Hause.

Der andere Champion

– Bayerns Gegner FC Valencia im Porträt

Berlin/Valencia (dapd). Halbhoch, halblinks – Mauricio Pellegrino wird am Mittwoch sicher wieder seinen Schuss von damals vor Augen haben. Den fünften Elfmeter des Argentiniers hielt Oliver Kahn im Finale der Champions League 2001 und machte den FC Bayern so zum Europapokalsieger.

Und jetzt muss Pellegrino mit dem FC Valencia wieder gegen die Deutschen ran. Die Zeiten haben sich geändert. Der baumlange Verteidiger von einst ist als Trainer an die Seitenlinie gewechselt. Sein Klub, der Endspiel-Verlierer 2000 und 2001, ist mittlerweile hoch verschuldet und muss Jahr um Jahr seine besten Spieler verhökern. Juan Mata, David Villa, David Silva, Raul Albiol – wegen der akuten Finanznot wechselten sie alle für mehrstellige Millionenbeträge zu den Großen und Reichen Europas.

Für Valencia, das wegen Finanznot und Wirtschaftskrise derzeit weder das neue Mestalla-Stadion fertigstellen noch das alte verkaufen kann, bleibt als Maximalziel in Spanien nur Platz drei hinter den Lichtjahre entfernten Teams von Barcelona und Real Madrid. Dreimal in Folge gewann Valencia unter Pellegrinos Vorgänger Unai Emery die „andere Liga“, wie sie in Spanien sagen – am Ende allerdings jeweils mit 20 bis 30 Punkten Rückstand auf die beiden Giganten.

Die Fans sehnen sich vergeblich nach Siegen gegen die Großen. Auch in der Bayern-Gruppe geht es nur um das Erreichen des zweiten Platzes. Dabei helfen soll Roberto Soldado, der vorige Woche Spanien vor einer Blamage in Georgien rettete. Auf den 27 Jahre alten Stürmer werden die Münchner Verteidiger achten müssen, ebenso auf den gefährlichen Distanzschützen Tino Costa und Frankreichs Nationalverteidiger Adil Rami bei Ecken und Standards. Mit Kapitän David Albelda und Fernando Gago fehlen jedoch zwei zentrale Spieler.

Dreimal trafen Bayern und Valencia in der Champions League bisher aufeinander, dreimal stand es nach 90 Minuten 1:1. Eine Fortsetzung der Serie am Mittwoch wäre für Pellegrino und seine Mannschaft sicher ein Erfolg – und ein Elfmeterschießen droht diesmal ja nicht.

Drei Schritte ins Glück

– In seinem wohl letzten Spiel verhilft Didier Drogba seiner Chelsea-Generation doch noch zum größten Titel

München (dapd). Drei Schritte nahm Didier Drogba Anlauf zum Glück, penibel genau abgezählt, wie immer. Drei entschlossene Schritte nach hinten, zwei minimale Tippelschritte zur Seite. Dann wurde Drogba ganz ruhig, ganz langsam hob er den Blick, während Manuel Neuer vor diesem entscheidenden Elfmeter auf der Linie auf und ab hüpfte, als sei er ein betrunkener Clown. Mit einem Ruck unterband Drogba diese Ablenkungen, lief an und schoss den Ball über das linke Standbein hinweg unhaltbar ins Netz – wie einen Trainingsschuss.

Didier Drogba, Stürmer des FC Chelsea seit acht Jahren, hatte in diesem Moment seine Mission erfüllt. In seinem möglicherweise letzten Spiel hatte er dem Klub aus London den ersten, so heiß ersehnten und lange verfolgten Champions-League-Sieg beschert. Und so einfach in Richtung China – wie spekuliert wird – wollen die Klubverantwortlichen den Stürmer, dessen Vertrag Ende dieses Monats ausläuft, nicht ziehen lassen. Chelseas Vorstandsvorsitzender Bruce Buck kündigte an, Vertragsgespräche mit Drogba „lieber früher als später“ aufzunehmen. Noch in der kommenden Woche, erklärte Buck weiter, werde man sich mit dem Berater von Drogba zusammensetzen.

Der Triumph im Elfmeterschießen gegen den FC Bayern hat eine Milliarde Euro von Klubeigner Roman Abramowitsch gekostet – und die ganze Willenskraft von Didier Drogba. „Ich bin seit acht Jahren hier. Wir waren immer so dicht dran und doch so weit davon entfernt“, sagte Drogba weit nach Mitternacht vor den verbliebenen Journalisten. „Jetzt haben wir diesen Pokal. Er geht an die Stamford Bridge.“

Mit 34 Jahren hat Didier Drogba es doch noch geschafft – und mit ihm die alten Gefährten Frank Lampard und John Terry. „Frank, JT oder Carlo Cudicini – sie haben uns gezeigt, wie man ein Chelsea-Spieler wird“, sagte Drogba rückblickend. Dreimal hatte Drogbas Generation seit seiner Ankunft in London 2004 im Halbfinale gestanden, München war ihr zweites Finale. 2008 waren sie an einem Elfmeter des diesmal zum Zuschauen verdammten Terry gescheitert, diesmal scheiterten die Bayern.

„Moskau war eine sehr schwierige Erfahrung, aber heute haben wir es geschafft, sie zu verändern“, sagte Drogba. Wie schon in den Halbfinalspielen gegen den FC Barcelona war der einzige Stürmer in Chelseas Riegelsystem schier omnipräsent. Er musste es sein bei der bayrischen Dominanz. So klärte er zahlreiche der zahlreichen Bayern-Ecken am Fünfmeterraum, warf sich mit unzähmbarer Willenskraft in jedes noch so aussichtslose Luftduell. Selbst Thomas Müllers spätes Führungstor in der 83. Minute konnte Drogbas Mission nicht erschüttern. Fünf Minuten später wuchtete er acht Jahre enttäuschte Hoffnung in die Eckstoßflanke von Juan Mata – die erste und einzige des Spiels.

„Ich wollte, dass Chelsea lacht“, sagte Drogba hinterher schlicht, doch beinahe hätte er die Spieler und Fans in Blau zum Weinen gebracht. Weil aber Arjen Robben die Hauptrolle des Abends nach Drogbas übereifrigem Foul an Franck Ribery nicht übernehmen konnte, weil Petr Cech dessen Elfmeter hielt – daher liefen die Dinge weiterhin in die Richtung des Mannes mit der Nummer 11.

In den immer kürzer werdenden Pausen zwischen den Spielabschnitten lief der, statt sich massieren zu lassen, auf und ab, kaum behelligt von seinen Teamkollegen, sprach sich selbst sichtbar Mut zu, sah immer wieder ehrfurchtsvoll hinauf, am Dach der Arena vorbei in die Unendlichkeit.

Dann kam das Elfmeterschießen, in dem Olic und Schweinsteiger zu ihrem Unglück dafür sorgten, dass Drogba den Schlusspunkt setzen konnte. „Oh, mein Gott“, schien er noch zu sagen, bevor ihn seine Mitspieler umrissen und unter sich begruben.

„Ich war zuversichtlich, bevor ich ihn schoss“, sagte Drogba. „Aber ich hatte auch im Kopf, was beim Afrika-Cup passiert war.“ Drogba kennt die andere Seite, er hat zweimal dort gestanden, im Dunkel: Im Februar vergab er den Titel gegen Außenseiter Sambia vom Punkt, 2006 verschoss er seinen Elfmeter im Endspiel gegen Ägypten.

Nicht lange nach seinem wohl letzten erfolgreichen Torschuss für Chelsea schritt Didier Drogba also zu den Bayern in den Mittelkreis, er umarmte Schweinsteiger und Ribery, sprach ihnen etwas Trost zu. Am längsten hielt er Arjen Robben im Arm, den Untröstlichen, der bitterlich an seiner Schulter weinte.

Dehämm ist jetzt woanders

– Miroslav Kloses Wechsel ist seine erste persönliche Niederlage – Großes Ziel EM 2012

Diejenigen, die bei Miroslav Kloses letztem Auftritt im Trikot des FC Bayern symbolträchtigen Szenen auf der Spur waren, mussten nicht lange suchen. Blumen gab es schon mal keine. Weil zu diesem Zeitpunkt offiziell noch nicht feststand, ob Klose den Verein verlassen oder doch noch ein Jahr bei den Bayern dranhängen würde, wurde der Nationalspieler im Gegensatz zu Thomas Kraft, Andreas Ottl und Hamit Altintop vor dem Bundesligaspiel gegen den VfB Stuttgart nicht mit einem Dankes-Sträußchen verabschiedet. Und auch ein versöhnliches Ende seiner schlimmen Saison war Klose nicht vergönnt. In einem fast absurden Torversuch schaffte er es, den Ball aus kürzester Distanz über den Kasten zu heben.

Nun nimmt Klose durch die Hintertür Abschied. Irgendwie passt das zu dem Mann, der immer schon die leisen Töne bevorzugte. Passend auch deswegen, weil Verein und Fans in den vier Jahren nie richtig warm geworden sind mit Klose. Und Klose umgekehrt auch nicht mit dem FC Bayern. Nach zwei passablen ersten Jahren in München hat Klose die Erwartungen seines Arbeitgebers seit der EM 2008 im Grunde durchgehend enttäuscht. Seit Oktober 2010 stand er nur noch drei Mal in der Bayern-Startelf, in 45 Einsätzen seit der EURO traf er nur vier Mal.

Nun gehören schwache Phasen zu Kloses Karriere wie der Salto, den er sich zu Jugendzeiten für eine Wette mit einem Teamkollegen selbst beibrachte. Immer wieder zählten die Experten mit wachsender Häme die Minuten, die seit dem letzten Klose-Tor schon wieder vergangen waren. Und diesmal hat sich Klose wohl zu lange auf einen seiner größten Vorzüge verlassen: Dass er es entgegen allen Kritikern noch einmal schaffen würde. So wie bei der WM 2010, bei der Klose es fertigbrachte, mit vier Toren tatsächlich eins mehr zu erzielen als in der gesamten Bundesliga-Saison zuvor. Und wie bereits im September 2008, als Klose nach längerer Krise plötzlich drei Mal gegen Finnland traf. „Ich weiß, was ich kann“, pflegt Klose immer dann zu sagen, wenn die negativen Schlagzeilen wieder einmal über ihm hereinbrechen. „Ich weiß, was ich kann.“ Immer wieder. Und am Ende hatte er damit immer Recht behalten.

Doch bei den Bayern konnte Klose noch so fest daran glauben, was er konnte, Louis van Gaals Geduld war deutlich begrenzter als die des Bundestrainers. Was zur Folge hatte, dass Klose im WM-Jahr 2010 bei zwölf Länderspielen, aber nur zehn Bundesligaspielen in der Startelf stand. Zehn Toren im Nationalmannschaftstrikot standen nur drei Liga-Treffer für die Bayern gegenüber. Der Abschied vom FC Bayern ist, wenn man so will, die erste wirkliche Niederlage für den unverwüstlichen Klose.

Klose hat stets betont, dass sein letztes großes Ziel der Titel bei der EM 2012 ist, die in seinem Geburtsland Polen stattfindet. Dass sein großer Rivale Mario Gomez zumindest in der Nationalmannschaft keine Konkurrenz für ihn war, darauf hatte sich Klose lange Zeit verlassen können. Doch Gomez hat nicht nur 28 Bundesliga-Tore erzielt, er hat auch seit der WM in acht Länderspielen sieben Mal getroffen – und sein ganz persönliches Nationalmannschafts-Trauma beim Spiel in Wien am vergangenen Freitag auch symbolisch weggeküsst.

Klose muss aber in der Saison 2011/12 bei einem Verein mit möglichst gutem Namen spielen und regelmäßig treffen, um seinen großen Traum von der EURO 2012 in seinem Geburtsland nicht nur von der DFB-Ersatzbank zu erleben. Seit zwei Jahren wird Klose in jeder Transferperiode ein Vereinswechsel nahegelegt. Doch erst jetzt sind der 109-fache Nationalspieler und sein Berater zu der Erkenntnis gelangt, dass Klose in München nicht mehr glücklich wird.

Nun also Italien, der Traum der Deutschen. Den Fürther Ludwig Janda zog es 1949 als ersten deutschen Fußballer über die Alpen. Der Stürmer wechselte für 50.000 Mark zum AC Florenz. Schnellinger, Haller, Briegel, Matthäus, Brehme, Klinsmann, Völler – die Liste der Deutschen in der Serie A ist lang. Der erfolgreichste unter ihnen, DFB-Manager Oliver Bierhoff, der zwischen 1991 und 2003 in 220 Spielen in den ersten beiden Ligen Italiens in 320 Spielen 150 Tore schoss, hatte in dieser Woche noch einmal deutlich gemacht, dass der DFB bei der EM nur auf Spieler setze, die in ihren Vereinen regelmäßig spielen. Ein unmissverständliches Zeichen an Klose, dem die Bayern nur noch einen sehr leistungsbezogenen Vertrag angeboten hatten.

Und so geht der „Pfälzer Bub“ auf seine alten Profi-Tage doch noch mal ins Ausland. Wer ihn im „Sommermärchen“ beim Friseurbesuch verschüchtert Englisch hat sprechen hören, mag kaum glauben, dass sich der Mann aus dem 5000-Seelen-Städtchen Kusel in so fremder Umgebung wohlfühlen wird. Doch für sein großes Ziel, Polska 2012, wird Klose nun sogar seinem großen Idol Fritz Walter untreu. „Dehämm“ ist für Klose jetzt in Rom.