Go West!

– 1967 wollte Amerika den Fußball lieben lernen – und importierte für drei Monate mittelmäßige Mannschaften aus Europa (11FREUNDE Sonderheft „Die 60er“)

Als die Spieler der Washington Whips das Rollfeld des Dulles International Airport betreten, plärren die Dudelsäcke. Dutzende Schaulustige haben sich eingefunden. Es ist ein festlicher Empfang.

Der dänische Sunnyboy Jens Petersen, der erst 18-jährige Martin Buchan, der drahtige Linksverteidiger Ally Shewan – nacheinander klettert das gesamte Team an diesem sonnigen Tag Anfang Mai 1967 die Gangway hinab. Im Flugzeug sind sie noch der FC Aberdeen gewesen – ein schottisches Team von passabler Qualität, das wenige Tage zuvor das Pokalfinale gegen Celtic bestritten hat. Nun sind die 17 Männer der Stolz der amerikanischen Hauptstadt – und sollen als „Washington Whips“ in der aus dem Boden gestampften „United Soccer Association“ (USA) antreten.

Drei Jahre nachdem die Beatles bei ihrer Ankunft am John F. Kennedy Airport in New York eine Musikrevolution im Gepäck hatten, soll Amerika sich nun auch für der Europäer liebsten Sport begeistern. „Fußball spielten in den Augen der Amerikaner nur irgendwelche verrückten Ukrainer oder Ungarn“, sagt Andrei S. Markovits, Soziologieprofessor und Fußball-Publizist der University of Michigan. Doch im Frühsommer 1967 gibt es plötzlich nicht nur eine Fußball-Liga zwischen LA und New York, sondern zwei. „Eine schöne american story“, findet Markovits.

Diese amerikanische Geschichte beginnt mit dem Geld der American sports owners, millionenschweren Geschäftsmännern, die bereits erfolgreich in die amerikanischen Sportarten investiert haben: Baseball, Football, Basketball. Nun wollen sie auch mit soccer reüssieren. Lamar Hunt, Besitzer der Kansas City Chiefs, Jack Kent Cooke, Eigentümer der Los Angeles Lakers, die Betreiber des New Yorker Madison Square Garden und andere tragen ihr Interesse dem amerikanischen Verband vor. Doch nur die „United Soccer Association“ bekommt den Segensspruch des US-Verbands – und damit der FIFA. Was nur den Sportsgeist der Zurückgewiesenen entfacht. Sie formieren im Nu eine zweite Liga, die „National Professional Soccer League“, ziehen einen Fernsehvertrag mit CBS an Land – und fangen an, wie wild Spieler aus aller Herren Länder zu verpflichten.

Was wiederum die USA zum Handeln zwingt. Wegen der knappen Zeit verfallen die Eigner auf den genialen Gedanken, statt Spielern ganze Teams ins Land zu holen. 25.000 Dollar Antrittsprämie pro Mannschaft, dazu freie Kost und Logis. Schmissige amerikanische Namen, ein fesches Logo, fertig ist die Liga. „Man dachte sich: Wir haben die Shamrock Rovers aus Irland, die können wir in Boston spielen lassen, denn es gibt ja Iren in Boston“, erzählt Andrei S. Markovits. „Und in Chicago gibt’s Italiener, da lassen wir Cagliari spielen. Houston ist im Süden, also näher an Brasilien, da lassen wir Bangu starten. Total wahnsinnig!“

So wird der englische Klub Stoke City zu den Cleveland Stokers, das schottische Team Dundee United mutiert zu Dallas Tornado und die Wolverhampton Wanderers tragen ihre Spiele nun als „Los Angeles Wolves“ aus. Die New York Skyliners kommen eigentlich aus Uruguay, und im Dress der Chicago Mustangs galoppieren Roberto Boninsegna und seine Kollegen von Cagliari Calcio über den Platz. Außer Boninsegna und Englands Weltmeister-Keeper Gordon Banks spielen hauptsächlich No-Names in der Retorten-Liga. Manchester United und die anderen großen Vereine Europas haben so kurzfristig keine Lust oder Zeit für das Abenteuer USA.

Für Ally Shewan und seine Teamgefährten vom FC Aberdeen geht derweil der Traum von der großen weiten Welt in Erfüllung. „Die meisten waren Jungs vom Land, wie ich“, erzählt Shewan, „wir waren unwahrscheinlich aufgeregt“. Spieler und Trainer sind im Washingtoner Hilton Hotel untergebracht, jenem gigantischen Betonklotz an der Connecticut Avenue, erst zwei Jahre zuvor eröffnet.

Während die europäischen Spieler die neuen Eindrücke aufsaugen, bleibt die Begeisterung der Amerikaner aus. Zum ersten Heimspiel der Whips am 7. Mai kommen 8.723 Fans ins D.C. Stadium, in das über 56.000 passen. „Das war ein großer Schock für die Besitzer“, sagt Paul Gardner. „Sie hatten nicht realisiert, dass sie sich richtig strecken mussten, um die Leute ins Stadion zu bekommen.“ Gardner ist heute einer der renommiertesten Fußballschreiber Amerikas. 1967 hatte der damals 36-jährige gelernte Apotheker noch keine Zeile über den Sport verfasst. Aber er hatte eine unschlagbare Referenz: Seine Herkunft. „Diesen Leuten erschien ich wie ein verdammt großartiger Experte“, erzählt Gardner. „Ich hatte einen englischen Akzent und ich hörte mich an, als hätte ich Ahnung. Sie fragten mich, was ich über Cerro wusste – keine Ahnung, was ich ihnen erzählt habe.“ Fortan berichtet Gardner von Spielen der New York Islanders, eigentlich C.A. Cerro aus Montevideo.

Was aus England kommt, muss gut sein. Denn schließlich ist England der Weltmeister. Die zeitversetzte NBC-Übertragung des Finales von Wembley haben um 12 Uhr mittags neun Millionen Amerikaner gesehen. „Ein gutes Spiel, um das Interesse der Amerikaner zu wecken. Es hatte Dramatik, Verlängerung, ein Ausgleichstor in der letzten Minute“, sagt Paul Gardner.

Die Spiele der US-Ligen im Jahr 1967 haben nichts von alledem. Vor Geisterkulissen in den riesigen Baseballstadien liefern sich die zweitklassigen Mannschaften überharte Duelle mit vielen Fouls und wenig sportlichen Höhepunkten. „Es war typisch britischer Fußball. Es fielen sehr wenige Tore“, erinnert sich Aberdeens Verteidiger Ally Shewan. Gleiches Bild in der rivalisierenden NPSL. Der britische Coach Alan Rogers tut sich auf der Bank der Chicago Spurs vor allem durch seine Vorliebe für Kraftausdrücke hervor. „Fucking hier, cunt da. In dem leeren Stadion schien das Echo alles zu vervielfachen“, erinnert sich Paul Gardner. „Am Ende haben sie ihn gefeuert. Nie mehr von ihm gehört.“

Selbst die Südamerikaner bringen eher weniger als mehr Kultur ins Spiel. „Die Uruguayer spielten wirklich hart“, sagt Ally Shewan. „Einer von ihnen riss Davie Johnston die ganze Wade auf. Er hatte ihm die Stollen richtig ins Bein gerammt, Blut überall. Eine Rote Karte gab es nicht.“

Beim Spiel Glentoran gegen Bangu resp. Detroit Cougars gegen Houston Stars attackieren sich die Spieler gar gegenseitig mit den Eckfahnen – während die Zuschauer das Feld stürmen. Paul Gardner kann oder will sich daran nicht erinnern: „Ich bin versucht zynisch zu sein und zu sagen, es gab nie genügend Zuschauer für einen Platzsturm.“

Auch die friedlicheren Partien liefern groteske Bilder. Die Spielfelder sind in die quadratischen Baseballarenen gequetscht, vor einem der Tore befindet sich meist eine Sandlandschaft, die Male hat man nur notdürftig abgedeckt. Für die Spieler ist die Kurzsaison im Sommer eine Mischung aus Urlaub und Saisonvorbereitung mit Wettkampfcharakter – und vielen Freiheiten. „Ich habe nichts dagegen, dass ihr euch amüsiert“, sagt Aberdeens Trainer Jimmy Wilson seinen Spielern. „Aber übertreibt es nicht – und seid um sechs Uhr morgens wieder im Hotel.“ Das lassen sich die schottischen Jungs nicht zwei Mal sagen. 10 Pfund Spesen pro Tag reichen für jede Menge Spaß. In Washington haben sie schnell eine Stammkneipe, die Älteren im Team schauen sich die Shows von Ella Fitzgerald, Louis Armstrong oder Andy Williams an.

Bei einem Auswärtsspiel in Detroit treffen die Schotten sogar den bekanntesten Sportler ihrer Zeit. Bei einem Spaziergang fällt ihr Blick auf eine dunkle Masse, die sich die Straße herunterwälzt. Riesige schwarze Männer in schwarzen Lederjacken und schwarzen Sonnenbrillen. Mittendrin der Weltmeister aller Klassen. Ally Shewan wieselt hinüber und fragt höflich: „Cassius Clay, kann ich Ihr Autogramm haben?“ Die Antwort ist ein Knurren: „Muhammad Ali, Mann!“ Das Autogramm bekommt Shewan trotzdem. „Meine Leute in Schottland glaubten mir kein Wort, bis ich ihnen die Karte zeigte.“

Auch das ist Amerika 1967 – ein Land des Kriegs und des Rassismus. Nur wenige Tage vor Beginn des Spielbetriebs der USA haben die Behörden Muhammad Ali wegen Wehrdienstverweigerung seine Boxlizenz und seinen Pass entzogen. Zehntausende protestieren gegen den Vietnamkrieg. Im brandneuen Astrodome in Houston, dem „achten Weltwunder“, wo der Champion noch Anfang des Jahres gekämpft hat, treten auch die Washington Whips an. Judge Roy Hofheinz, der Besitzer der Houston Stars (aus Rio) empfängt die Mannschaft mit den Worten: „Diese Farbigen gefallen mir nicht. Warum spielt ihr Schotten nicht für mich?“

Unter all den mittelmäßigen Teams der Eastern Division der USA ragen die Whips nicht hinaus, aber sie verlieren nur zwei von zwölf Spielen. Und so stehen sie am 14. Juli im ersten und einzigen Finale ihrer wunderlichen Liga. Gegner sind die LA Wolves. 18.000 von 93.000 Plätzen im Coliseum von Los Angeles sind besetzt. Vor dem Spiel werden die Schauspieler Geraldine Chaplin und Terence Stamp präsentiert, im Rahmenprogramm spielen die „Claude Hoppers“ und die San Fernando Valley Youthband. „England gegen Schottland. Das bedeutet Action“, prophezeit das Stadionheft. Und behält Recht. Elf Tore sehen die Besucher – und ungezählte Fouls.

„Das Finale war ziemlich rau“, erinnert sich Ally Shewan. „Wir jagten uns über den ganzen Platz. Der Schiedsrichter, ein Amerikaner, bekam gar kein Gefühl für die Partie.“ Shewan werden von seinem Gegenspieler Derek Dougan im Spiel drei Finger gebrochen, schon nach einer halben Stunde verlieren die Whips einen Spieler durch Platzverweis. „Es wurde eine richtige Schlacht“, so Shewan.

Am Ende der 90 Minuten steht es 4:4, nach 30 Minuten Verlängerung 5:5. Nun wird nach „Golden Goal“-Regel weitergespielt. In der 127. Spielminute sieht Ally Shewan eine Flanke auf sich zukommen. „Der Torhüter kam heraus, konnte ihn aber nicht richtig bekommen. Einer der Manndecker versperrte mir die Sicht.“ Sekundenbruchteile später liegt der Ball im Netz der Whips. Die Wolverhampton Wanderers sind Meister der USA.

Schon am Abend ist Shewans Fauxpas vergeben und vergessen. Whips-Eigner Earl Foreman hat die 2.000 Dollar Siegprämie an die Spieler trotzdem ausgezahlt – wegen des überaus unterhaltsamen Spiels, wie er betont. „Mein Gott, das war viel Geld damals“, sagt Shewan, der den Abend mit seinen Teamgefährten im Cocoanut Grove im Ambassador Hotel verbringt, einem der angesagtesten Nachtclubs in LA. Bobby Vinton schmettert seine Hits. Zu den Klängen von „Blue Velvet“ und „Roses Are Red“ genießt der FC Aberdeen einen seiner letzten Abende in den Staaten. „Am Tag darauf gingen wir ins Disneyland“, erinnert sich Ally Shewan. „Und siehe da, wen treffen wir? Den Schiedsrichter! Der hatte Angst, dass wir ihn ins Wasser schmeißen. Aber wir waren ihm nicht böse. Wir hatten ja eine großartige Zeit.“

Die United Soccer Association dagegen überdauert das Jahr 1967 nicht. Sie schließt sich der rivalisierenden NPSL an – die North American Soccer League entsteht, die mit Pelé und Beckenbauer in den 70ern dann doch noch wirkliche Fußballbegeisterung in den USA hervorrufen wird. „Wichtig ist, dass sich Amerika und die Welt ändern“, sagt der Soziologe Markovits.

Das erste Jahr mit dem soccer – für die sports owners ist es ein finanzielles Desaster. Bill McNutt II, Miteigner des Tabellenletzten Dallas Tornado, der seine Millionen mit Fruchtkuchen gemacht hat, nimmt es sportlich. Auf die Frage, was der Misserfolg seines Teams für ihn bedeute, gibt er zurück: „Nun, wir müssen jetzt einfach verdammt viel Kuchen verkaufen.“