Rache oder Blut

– Ägyptens Ultras und die Revolution (erschienen im 11FREUNDE-Sonderheft ‚Rebellen‘, März 2013)

Der Abend des 1. Februar 2012 muss schön gewesen sein, im malerischen Küstenort Port Said. Ende eines milden Spätwintertags an der Mittelmeerküste, 200 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Kairo. Langsam versinkt die Sonne. Dann wird es schwarz über Äygpten.

Das Meer ist keine 300 Meter entfernt vom Stadion, nur einmal quer über die vierspurige Hauptstraße und durch die geschwungene Anlage eines Urlaubsressorts, dann sieht man schon die Wellen, die geduldig an den Sandstrand schwappen. Um die Stunde, als in den Urlauberhotels für gewöhnlich das Abendessen aufgetragen wird, sterben in der Arena des Al-Masry Sporting Club die ersten Menschen.

Sie sind im Zug und in Bussen aus Kairo angereist, um ein Fußballspiel zu sehen. Sie sind Fans von Al-Ahly, dem größten, beliebtesten, erfolgreichsten Klub des Landes. Nun werden sie zertrampelt, von Ihresgleichen, zerquetscht an den von außen verschlossenen Eisentoren, erschlagen werden sie und erstochen. Über tausend Menschen werden verletzt. 74 kehren reglos nach Kairo zurück, spätnachts, verschnürt in weißen Säcken. Der jüngste von ihnen: Gerade 15 Jahre alt. Zurück bleibt ein Meer aus Schuhen, verstreut in den Gängen des Stadions. Männerschuhe, schwarz, braun, in hellen Farben auch. Die Schuhe der Toten.

Der 1. Februar 2012 hat schnell einen festen Platz unter den schlimmsten Stadionkatastrophen eingenommen, doch das führt in die Irre. Es ging nicht um Fußball an diesem Abend, nicht um die alte Rivalität zwischen Al-Masry und Al-Ahly, zwischen den Grünen und den Roten. Jedenfalls nicht in erster Linie. Es ging, das war den meisten sofort klar, um viel mehr. Es ging und geht auch um die Macht am Nil.

„Was sich in Port Said abgespielt hat, war politisch“, sagt James Dorsey. „Fußball in Ägypten ist per definitionem politisch. Eine Polizeimacht, die nicht an Sicherheit interessiert ist, ist per definitionem politisch.“ Dorsey ist Universitätsprofessor in Singapur und publiziert einen viel beachteten Blog über die „turbulente Welt des Nahost-Fußballs“. Auch er weiß nicht die Antwort auf die Frage, wer verantwortlich ist für den blutigen Februartag. „Die kennt wohl keiner“, sagt er. Seine Deutung: „Es ist wohl ein völlig außer Kontrolle geratener Versuch gewesen, die Ultras einen Kopf kleiner zu machen. Es wurde ein Bumerang.“

Die flackernden Fernsehaufnahmen der Katastrophe zeigen deutlich, wie passiv sich die wenigen Sicherheitskräfte verhalten, die sich im Stadioninneren befinden. Vor der Al-Masry-Kurve eine dünne Polizeikette, doch in ihr klafft ein Loch, durch das Hunderte Gewaltbereiter, Bewaffneter ungehindert strömen. Dunkler Schwarm der Jäger. Die Profis von Al-Ahly, rote Trikots, schwarze Hosen, hetzen wie getriebenes Vieh um das Torgestänge, flüchten sich in Todesangst in den Kabinengang. Hier wird Kapitän Mohammed Aboutreika später einen sterbenden Fan in den Armen halten und fragen: „Ist ein Menschenleben so wenig wert?“

Für die „Ultras Ahlawy“, wie sich der harte Kern der Ahly-Fans nennt, ist die Antwort klar. „Diese Leute sind furchtlos“, sagt Dorsey. „Wenn es sie ihr Leben kostet, dann kostet es sie eben ihr Leben. Es macht ihnen nichts aus, und die Polizei respektiert sie dafür.“ So geht die krude ägyptische Logik, vor und nach dem Sturz Hosni Mubaraks.

„Sie wollten uns bestrafen und exekutieren für unsere Beteiligung an der Revolution gegen die Unterdrückung.“ So formulieren es die „Ultras Ahlawy“ kurz nach der Tragödie in einem Statement. Sie geloben einen „neuen Krieg, um unsere Revolution zu verteidigen.“

Um das zu verstehen, was in Port Said geschehen ist, muss man zurück gehen, und zwar genau ein Jahr. Am 1. Februar 2011 schaut die Welt nach Kairo. CNN, BBC, Al-Jazeera berichten schon den ganzen Tag live vom Tahrirplatz im Herzen der Hauptstadt, auf dem sich seit Tagen Tausende Ägypter versammelt und verschanzt haben, mit dem Ziel, das Regime des Hosni Mubarak zu stürzen. Der wirft einen seiner letzten Trümpfe in den Ring: die Kavallerie. Männer auf Pferden und Kamelen sprengen in die Menschenmenge und knüppeln wie wild auf die Demonstranten ein. Die Menschen weichen zurück, panisch fliehen sie vor den trampelnden Hufen und den tanzenden Knüppeln. Unwirkliche, archaische Gewalt. Nach einigen Schrecksekunden aber geht das Fußvolk zum Gegenangriff über, einige der Reiter werden herunter aufs Pflaster gerissen und ihrerseits schwer verprügelt. Die „Kamelschlacht“, wie sie bald heißt, ein Schlüsselakt der Revolution. An vorderster Front mit dabei: Die Ultras von Al-Ahly, gestählt in jahrelangem Stadion- und Straßenkampf mit der Polizei. „Schwingende Knüppel und Tränengas sind für uns nichts Neues“, sagte ihr Sprecher hernach 11FREUNDE. „Es war ganz selbstverständlich, dass wir ganz vorne mit dabei waren, als die Menschen auf der Straße kämpften.“

Neben dem Nachwuchs der Muslimbrüderschaft sind die Ultras Ahlawy und ihre einstigen Rivalen von Zamalek die wichtigsten Gruppen beim Sturz Mubaraks. „Es gibt nur eins, was größer war als der Hass zwischen Al-Ahly und Zamalek“, sagt der Experte James Dorsey: „Der Hass auf das Regime.“ In den ersten Tagen erobern diese jungen Männer Tahrir, preschen vor, werfen Steine und retournieren Tränengas-Patronen, springen wieder zurück, dann wieder vor. Zermürbende Choreografie, immer wieder, bis die Bresche da ist. Vorbereitet sind sie ohnehin bestens, sie haben Zwillen, genügend Steine. Und Sodawasser zum Augenauswaschen. Verwundete transportieren sie auf Motorrädern ab. „Die Ultras haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Barriere der Angst zu durchbrechen“, sagt Dorsey. „Sie waren die Verteidigungslinie der Bewegung.“

Zwei Jahre später weht ihre Flagge noch immer auf dem Tahrirplatz, ebenso wie die von Zamalek. Ihr Kampf ist lange nicht vorbei.

Die „Ultras Ahlawy“ sind eine mächtige Organisation, und sie sind gut vernetzt. Ihre Facebook-Seite, „UA07“, Initialen plus Gründungsjahr, wird regelmäßig mit Nachrichten gefüttert, sie hat über 700.000 Likes. Das Profilbild im Januar 2013: eine schwarze Fläche. Darüber eine Faust mit brennender Fackel, die arabischen Worte „Al-qusas au al-dam“, das heißt: Rache oder Blut. Auf Englisch darunter, etwas weniger martialisch: „Justice or Revenge“. Der 26. Januar ist das Datum, auf das sie hinfiebern, dann werden die ersten Urteile erwartet gegen die Jäger von Port Said. Wie hart werden sie bestraft? Drei Tage vorher erklärt Staatspräsident Mohammed Mursi die toten Ahly-Fans zu „Märtyrern der Revolution“ und erfüllt damit eine der Forderungen der Ultras.

„Wir wollen keine Märtyrer sein“, hatten sie noch unmittelbar nach dem Sturz Mubaraks gesagt. Mit Port Said aber ändert sich alles. Schon in der Nacht nach der Katastrophe haben sie sich Rache geschworen, als die Überlebenden im fahlen Licht des Ramses-Bahnhofs von Zehntausenden empfangen wurden, die sich auf die Bahnsteige und auf Zugdächer quetschten. Nun singen die Ultras bei ihren Märschen durch die Straßen von Kairo: „Ich höre die Rufe der Märtyrermütter: ‚Wer gibt mir die Rechte meines Sohns?’“

Es geht den Ultras auch um Reformen, vor allem des Sicherheitsapparats. Es waren die Polizisten, die in Mubaraks System den einfachen Leuten in den Armenvierteln Kairos das Leben zur Hölle machen konnten. Sie waren das Gesicht, die Exekutive des Gewaltherrschers, und sie sind immer noch da in den Augen der Ultras, die die Zerschlagung der alten Machteliten fordern. Nicht nur vor Gericht, auch auf der Straße. Ende September 2012 stürmen sie die Redaktionsräume des TV-Senders „Modern Sport“ in der Kairoer Medienstadt. Ende November liefern sie sich blutige Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften, auf der prestigeträchtigen Mohammed-Mahmoud-Straße nahe von Tahrir. Muslimbruder Mursi ist ihr neues Ziel. Neues Gewand, altes Herrschaftsdenken? „Nieder mit Mohammed Mursi Mubarak“, rufen die Demonstranten. Die Ultras kämpfen sogar gegen den eigenen Verein, der als größter Klub Ägyptens ganz selbstverständlich verbandelt ist mit den alten Strukturen. Sie erreichen, dass Klubpräsident Hassan Hamdys Reisepass eingezogen, sein Konto eingefroren wird. In typischer altägyptischer Ämterteilung war er auch Chef der Werbeabteilung der staatlichen Zeitung „Al Ahram“. Sie erreichen, dass kein Fußball gespielt wird, solange der Prozess über die Verantwortlichen nicht zu Ende gebracht ist.

Nur ein Spiel wird ausgetragen auf nationalem Level seit Port Said, am 9. September schlägt Al-Ahly das Team von ENPPI 2:1 im Supercup. Kapitän und Rekordspieler Mohammed Aboutreika ist der einzige Profi, der sich dem Boykott der Ultras anschließt. Aboutreika, in dessen Armen ein Ahly-Fan in Port Said gestorben sein soll, ist eine Ausnahme unter den Spielern, die Mehrheit positioniert sich nicht. „Die Ultras haben sich immer als einzige loyale Anhänger des Klubs verstanden“, sagt Dorsey. „Die Spieler waren Söldner. Die Funktionäre waren Regierungslakaien.“

Die Ultras Ahlawy erheben einen großen Anspruch bei der Ausdeutung der Revolutionsziele. Analog zu dem riesigen Banner vom Kairoer Derby, kurz nach ihrer Gründung im September 2007: „We are Egypt“, stand darauf. Sie sind ein Faktor, nach wie vor, auch und gerade auf der Straße. „Can’t stop Ultras“, erklären sie ihren Plakaten.

Und dann kommt der 26. Januar. Es wird ein weiterer blutiger Tag im nach-revolutionären Ägypten. 21 Todesurteile spricht das Gericht im Fall Port Said aus – das Fernsehen transportiert die Bilder live ins ganze Land. In Port Said und weiteren Städten brechen schwere Unruhen aus, es gibt Hunderte Verletzte, mindestens 30 Tote. Mursi verhängt den Ausnahmezustand. Die Ahly-Ultras feiern derweil mit Feuerwerk und Gesängen. Rache oder Blut. „Heute hat die Gerechtigkeit begonnen, aber sie ist noch nicht vollständig“, schreiben sie auf ihrer Seite. „Ruhm allen Märtyrern!“