Unter dem Vulkan

Schickt sie als allererstes hierhin, die Besucher, die Touris, und wenn sie dann noch wollen und können, dann dürfen sie sich gerne den Rest der Stadt anschauen.

Oder vielleicht doch lieber nicht.

Weil der Nettelbeckplatz, dieses große graue Nichts, eben gerade nicht vom Dasein, sondern von der Abwesenheit vieler Dinge lebt. Ohnehin schwierig mit der Existenz hier oben, zehn Minuten nördlich der Friedrichstraße.

Was fehlt ist schon mal ein Plan. Hatten sie hier noch nie.

Dafür jede Menge Fantasie. An der Ecke Reinickendorfer steht einer der bizarrsten Neubauten der Stadt, halb Wäscheständer, halb Bunker, dann gibt es noch ein paar Altbauten und die S-Bahn-Trasse.

Im „Dubrovnik“ wird gerade groß umgebaut, es gibt die Kegler-Klause, den türkischen Bäcker, je zwei Spätis und zwei Dönerbuden direkt nebeneinander. Und jetzt hat 100 Meter die Straße runter auch noch das Wedding Grillhaus aufgemacht.

Läuft.

Der ganze Artikel beim Tagesspiegel.

Wasser und Himmel

Wenn du Ruhe suchst in der Stadt, geh ans Ende der Sackgasse. Leicht zu erkennen, die rot-weißen Poller, die Fahrradständer, die zwei Cafés, eigentlich sogar drei, auf der anderen Straßenseite ist ja auch noch eins. Hier haben die Häuser Türmchen und die Fahrradwege Wurzeln.

Die großen Bäume am Ufer. Wasser und Himmel und Bäume und Ruhe. Da, wo die Straße endet.

Pekinger Platz nennt sich das, aber ein Platz ist es nicht, eher ein Ort, und an China erinnert schon gleich gar nichts, steht China doch heute für alles, was es hier eben nicht gibt: Lärm, Smog, Gedränge.

Hier am Nordufer wendet sich der Wedding von sich selbst ab und schaut rüber ans andere Ufer. Grüßt die Lastkähne und die Industriehallen, im Wissen, dass es sich hier auf dieser Seite auf jeden Fall viel besser aushalten lässt. Vielleicht ist er ja sogar nirgendwo schöner, dieser Wedding, als hier, an seiner Grenzpromenade.

Wer es bis hierhin geschafft hat, der hat einiges richtig gemacht.

Der ganze Artikel beim Tagesspiegel.

Immer die Panke hoch

Entlang der Panke soll es sehr schön sein und sehr grün, so hatte man es dem Reporter erzählt. Also zog er sich die Wanderstiefel an und lief los, ein bisschen Ruhe suchend. Gefunden? Naja.

Es war oben am S-Bahnhof, als die Stadt dem Wanderer noch einmal ihr Gesicht zuwandte. Sie trug eine Trainingsjacke der brasilianischen Selecao, die Stadt, sie hatte zwei Kumpels dabei und schleuderte dem Wanderer einen Satz entgegen, ziemlich wütend und atemlos, sodass es mehr wie ein einzelnes Wort klang: Morukwarumbrauchendiesolangeichfickedieja.

Bevor sich der Wanderer auch nur den Ansatz einer geistreichen Antwort überlegen konnte (er wusste ja leider auch nicht, warum!), waren die drei Halbstarken schon um die nächste Ecke verschwunden. Besser so. Nicht ablenken lassen.

Es galt ja einen Plan zu verfolgen.

Der Plan, das war an diesem durchaus schönen Montagmittag, 20 Grad und ein paar weiße Wolken: mal hinaus ins Grüne zu fahren, beziehungsweise: hinein, denn das Grüne lag in diesem Fall mitten in Berlin – entlang des kleinen Flüsschens Panke, das sich quer durch den Berliner Ortsteil Gesundbrunnen schlängelt. Von der Mündung unten an der Müllerstraße sollte die Wanderung gehen bis hinauf zur Bezirksgrenze am S-Bahnhof Wollankstraße, wo Pankows grüner Bürgerpark beginnt. Der Wanderer, der eigentlich nur ein Reporter in Wanderstiefeln war, hatte gehört, dass es sich Panke-aufwärts ganz vorzüglich ausschreiten ließe. Perfekte Voraussetzung, um die Stadt und all ihre Lautheiten gleich zu Wochenbeginn mal hinter sich zu lassen. Gute vier Kilometer, immer am Ufer entlang.

Auf, auf!

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Dead Döner (5 Minuten Stadt)

Ein Dienstag, nicht zu spät. Der Nettelbeckplatz liegt im allerletzten Sonnenlicht. Auf den Parkbänken bereits die ersten Biertrinker.

Im Dönerladen an der Ecke versorgen drei Mann den Wedding mit dem Abendbrot. Am Spieß genügend Fleisch noch für ein paar Stunden. Im Schaufenster dreht sich traurig ein halbes Dutzend Hühnchen. Bestlaune dagegen bei der Besatzung, drei fröhliche Gesichter, glänzend von Arbeit und Bratfett. Schnelle, tausendfach geübte Handgriffe, die immer gleichen Fragen, neu variiert, Lahmacun nur mit Salat, ja, und die Pommes mit was.

Dazwischen der schnelle Background-Check beim Kunden an der Theke: Arab? Iraner? Farsi? Der zweite Gast, ein Afrikaner, hat sich gerade auf Englisch eine Dönerbox bestellt.

Hot sauce?

Can I eat it?

Yes, yes, no problem!

Okay.

Four-ninety.

Da bricht über das harmonische Gelärme der Kriegszustand herein.

Bamm-bamm-bamm, drei schnelle Schuss in Folge, direkt vor der Glastür, dann kurze Pause, bamm-bamm, noch zwei hinterher.

Alles zuckt zusammen.

Der Afrikaner ist aufgesprungen, schaut aus ängstlichen Augen nach draußen, den Kopf tief zwischen den Schultern, die nächste Salve erwartend, die jeden Moment durch die Scheiben fetzen kann, dies alles hier zu beenden.

What is this?, ruft er.

Dead, sagt der Dönerverkäufer nur und zuckt die Achseln.

Dead?! Es ist fast ein Kreischen.

Real gun?, fragt der Afrikaner dann, mit bebender Stimme, konsterniert, dass die drei Mann hinterm Tresen schon wieder ganz normal weiterarbeiten, Dauergrinsen, einmal zum Mitnehmen, Salat alles, ja.

Real gun?, fragt der Afrikaner noch mal, er steht immer noch halb geduckt mitten im Raum.

No, my friend, lacht der Dönermann, no, no. Gas! Gas!

Und dann zeigt er, bevor der kostbare Moment der Zweitönigkeit verfliegt, auf die braunen Hähnchen, die sich ungerührt weiterdrehen, langsam und braun.

Dead, sagt der Dönermann, haha, dead.

(Der Tagesspiegel, Mehr Berlin: 5 Minuten Stadt)

»Reporter? Da sind Sie der neunte!«

Der Wedding, dieser geheimnisvolle Stadtteil, steckt voller großartiger Geschichten. Nicht immer aber haben die Weddinger Lust, sie zu erzählen. Eine kleine Lektion Demut im Musikhaus an der Müllerstraße.

Zum ersten Mal las ich von ihr im Spätsommer vergangenen Jahres. „Wegen Flöten“, stand über dem Artikel, „84-jährige Musikladen-Besitzerin niedergestochen“. Eine Polizeimeldung direkt aus dem Wedding, aus der Müllerstraße, wo die alte Dame, so stand es zu lesen, seit 65 Jahren ihre Musikalienhandlung führe. Der Täter war geflohen, mit einer Flöte und einer Ziehharmonika, die Geschäftsinhaberin fand eine Kundin später hinter dem Verkaufstresen, aus mehreren Schnitten blutend.

Ein paar Monate später kam die Rede erneut auf den Musikladen, die Besitzerin, so erzählte mir einer, der den Wedding sehr gut kennt, sitze im Winter im Kalten in ihrem Laden, weil sie sich die Heizkosten nicht mehr leisten könne.

Aber sie sei immer noch da. Das ist der Wedding, sagte er, genau das. Da muss man doch mal hin. Da muss man doch mal was drüber machen.

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Kein Tor an der Plumpe!

Am Gesundbrunnen wurde Hertha BSC gegründet, aber der Fußball ist lange schon woanders hingegangen. Ein Hertha-Spiel in der alten Fankneipe, die sich kein Sky mehr leisten kann.

Es ist kurz nach halb sieben, als ein Typ in den Bierbrunnen kommt, den blau-weißen Schal nur halb unter dem Jackenkragen. Ein kurzer Blick ins Kneipeninnere, der Tresen ist rund wie ein Fußball, die Wand voller Wimpel und alter Mannschaftsfotos. Auf dem Fernseher läuft Videotext.

„Fußball wird hier nicht gezeigt?“, fragt er. „Nee“, antwortet einer am Tresen. Kurze Pause. „Wissen Sie, wo hier in der Nähe gezeigt wird?“ – „Im Offside.“ Vage Bewegung ins Irgendwo. „Ist da hinten.“

Es ist kurz nach halb sieben an einem Sonntag im „Bierbrunnen an der Plumpe“, Behmstraße, Ecke Badstraße. Im Olympiastadion ist gerade die zweite Halbzeit zwischen Hertha BSC und dem VfL Wolfsburg angepfiffen worden, Fußball-Bundesliga, 21. Spieltag, aber hier, im offiziellen Hertha-Fantreff, zwölf Kilometer östlich des Stadions, kriegt davon keiner was mit.

Das heißt, nicht ganz: Es läuft ja, wie gesagt, der Videotext, schwarze Maske vor stummem Röhrenbild.

Grau ist er der Fernseher und kastenartig und ziemlich klein, winzig eigentlich für heutige Verhältnisse. Darunter hängt ein Schild, darauf steht: „Wer die Wirtin kränkt, wird aufgehängt.“ Neben dem Schild baumelt traurig ein Stoffpüppchen, mit Strick um den Hals, auf dem Kopf eine Schiebermütze, von der Art, wie sie sie früher trugen.

Ganz früher also, als Hertha noch Meisterschaften gewann und nicht in der großen und schicken und kalten Arena in Charlottenburg spielte, sondern hier, einmal die Behm runter, an der nächsten Ecke, an der Plumpe, so sagten die Leute, die Schulter an Schulter standen auf den engen Tribünen, ohne Dach und direkt am Rasen, und wenn es regnete, zogen sie die Hüte tiefer ins Gesicht und schlugen die Kragen ihrer Mäntel hoch.

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