Luxus an der Pferdekoppel

– Nördlich des Mauerparks sollen 500 hochpreisige Wohnungen entstehen – Bürgervertreter fühlen sich von der Politik übergangen. Ein Besuch bei Empörten (erschienen im Tagesspiegel)

Es ist kurz vor sieben, als die Eskalation droht. „Es kann doch nicht alles an einer Wortmeldung scheitern? Was ist denn das für eine Art der Bürgerbeteiligung?“ Rainer Krüger, hochroter Kopf, ist außer sich, seine Stimme überschlägt sich fast. Rathaus Mitte, erster Stock, es tagt der städtebauliche Ausschuss des Bezirks. Dröge Sitzung. Doch bei TOP 5.3, „Mauerpark: Neuplanung Groth Gruppe“, laufen die Dinge aus dem Ruder. Die Nerven liegen blank.

Worum geht es? Scheinbar nur um eine Lappalie.

Der Vorsitzende sperrt sich gegen die Ausweitung der Redebeiträge. Nur zwei Bürgerinitiativen sind eingeplant, doch auch die „Freunde des Mauerparks“ möchten reden. „Wir sind seit über zehn Jahren aktiv“, ruft ihr Vertreter. Rainer Krüger von der „Bürgerwerkstatt“ solidarisiert sich. Es wird laut. Es wird gedroht. Der Ausschussvorsitzende sagt, er könne auch alle Beiträge verbieten lassen. Pfiffe. Buhrufe. Dann doch noch: die Lösung. Der Vertreter der „Piraten“, ein gemütlicher junger Mann mit überlegenem Lächeln und Sonnenbrille im Pullikragen, stellt seine Redezeit zur Verfügung. Aufatmen.

Worum also geht es?

Einfach gesagt: um die Bebauungspläne nördlich des Mauerparks. Auf dem Gelände, das drei Jahrzehnte Niemandsland zwischen DDR und West-Berlin war und seitdem mit den Baracken eines Schrotthändlers und eines Gerüstbauers auskommt, sollen ab Herbst 2014 über 500 Wohnungen entstehen.

„Luxuswohnungen“, präzisiert Rainer Krüger und schüttelt energisch den Kopf. „Nein“, sagt er, „diese Luxusvillenbebauung kann nicht die Lösung sein.“ Krüger, 73 Jahre alter Geografie-Professor im Ruhestand, feiner Schnurrbart, runde Brille, sitzt, nun ganz ruhig, am Esstisch seiner Wohnung am Falkplatz. Ein Neubau mit Traumaussicht. Schmeling-Halle, Fernsehturm, Zionskirche, Deutsche Welle. Nicht wenige würden auch das hier, nun ja, als Luxus bezeichnen. „Wir hatten sehr viel Glück, dass wir die bekommen haben“, sagt Krüger. Die Reichen haben in Deutschland immer das Gefühl, sich für ihren Wohlstand entschuldigen zu müssen, und ganz besonders die Reichen in Prenzlauer Berg. Das Haus war nicht mal fertig, da hatte unten einer schon einen Stein in die Fensterfront geworfen.

„Wenn ich hier hinziehe, möchte ich mich auch einbringen“, sagt Krüger, Sprecher der „Bürgerwerkstatt Mauerpark fertigstellen“. Er sagt: „Wenn die Gentrifizierungswelle einfach weiter in das Brunnenviertel schwappt, dann hat das mit sozialer Durchmischung nichts zu tun. Dann ist das eine Entmischung.“ Krüger spricht Gentrifizierung mit weichem G aus, wie im Englischen. „Die Menschen, die dort einziehen, die werden von ihrem Einkommen, von ihrem ganzen Lebensstil her, einen Dreck tun, sich irgendwie mit dem ärmeren Brunnenviertel zu verbrüdern. Ihr Blick wird nur in Richtung Prenzlauer Berg gehen.“

Das Brunnenviertel liegt, von Krüger aus gesehen, auf der anderen Seite des maroden, triefenden Gleimtunnels, in Wedding. Hier wohnen viele Migrantenfamilien. Hier verdienen die Leute generell weniger. Das Bauareal liegt auf Weddinger Grund. Hier beginnt sich der Bürgerprotest, zum Beispiel gegen die geplante neue Auffahrt an der Gleimstraße, gerade erst zu formieren.

Krüger engagiert sich schon seit 2010 gegen eine „massive Bebauung“ im Norden des Tunnels und für eine Erweiterung des Parks im Süden. Letztere ist wie erhofft beschlossen, Flohmarkt und „Mauersegler“ dürfen bleiben, Joe Hatchiban wird weiter sein Open-Air-Karaoke veranstalten können. Doch im Norden sieht die Lage aus Krügers Sicht weniger rosig aus. Die Poltik hat nun doch eine üppige Bebauung für rund 600 Wohneinheiten beschlossen. Der entsprechende Städtebauliche Vertrag wurde von der Senatsverwaltung eilig entworfen, von Mittes Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) noch vor der Sommerpause zur Vorlage gebracht und von der Groth-Gruppe im Dezember 2012 unterzeichnet.

„Eine Maulschelle vom Feinsten“, sagt Birgit Blank und dieser hübsche Berliner Ausdruck deutet darauf hin, worum es im Kern auch geht in dieser Angelegenheit: um das Verhältnis zwischen Bürger und Politiker. Von den Entscheidungsträgern in Mitte sei sie am meisten enttäuscht, sagt Blank.

Blank sitzt im großen Gemeinschaftsraum der Jugendfarm Moritzhof, für den sie sich seit 1993 engagiert. Seit 2000 steht der kleine Stadtbauernhof direkt an der Bezirksgrenze – zuhause sind hier unter anderem zwei Ponys, zwei Ziegen, drei Schafe und die Schweine Uschi und Peppi. An Sommertagen kommen an die 150 Kinder, sagt Blank. Und ab 2017 kommen die Reichen.

„Ich glaube nicht“, sagt Birgit Blank, „dass wir als Kollegen Lust haben, für reiche Eltern ein Projekt vorzuhalten, das sie kostenlos nutzen wollen, und die Kinder der Ärmeren können es dann in Marzahn überhaupt nicht mehr nutzen.“

Sie legt Bestimmtheit in ihre Stimme, doch es schwingt auch Unsicherheit mit. „Ich habe hier nicht 20 Jahre meines Lebens reingesteckt, um mich von Herrn Groth einfach wegschieben zu lassen.“ Die 45-Jährige wirkt erst einmal nicht so, als lasse sie sich leicht aus der Bahn werfen. Sie ist das Kämpfen gewohnt, hat Fördermittel erstritten, Spenden für den Grundstückskauf. Doch das hier ist offenbar eine neue Art der Bedrohung, sechs Stockwerke hoch. Blank schaut aus dem Fenster auf die Pferdekoppel. „Der Hahn kräht zu laut, das Pferd wiehert, der Geruch ist zu streng oder der Ziegenbock hat vor meinen Vorgarten geschissen – Nutzungskonflikte sind programmiert.“ Sie sieht sich schon von ihrem Grund und Boden geklagt, wie die Betreiber des „Knaack“-Clubs oder die anderen Gentrifizierungsopfer.

Nutzungskonflikte gab es auch früher schon. Der Kompostgeruch und die vielen Fliegen hatten Anwohner auf den Plan gerufen. Seitdem wird der Mist einmal wöchentlich mit einem Hänger abgefahren. Dennoch sagt Blank: „Wir haben hier eine große Akzeptanz.“ Und die sieht sie in Gefahr.

Als Puffer zwischen sich und den Neubauten hatte sie sich für ein „Grünes Band“ eingesetzt, es sollte ursprünglich von der Bernauer Straße bis zur Bösebrücke reichen, entlang des früheren Todesstreifens, doch das hat die Politik mittlerweile verworfen. Sie will jetzt wieder eine Bebauung nach Plan des dänischen Architekten Carsten Lorenzen. Neue Mehrheiten hatten sich plötzlich gebildet. Nun fehlt nur noch das abschließende Votum der Bezirksverordneten von Mitte. In der Ausschusssitzung erhalten die empörten Bürgervertreter keine Antworten. Die offenen Fragen würden im Laufe des Bebauungsplanverfahrens geklärt, teilt Baurat Spallek lapidar mit.

Birgit Blank führt zum Abschluss über ihren Hof. Uschi und Peppi grunzen wohlig im Stroh. „Herr Groth hat immer gesagt, er will uns besuchen“, sagt sie und streichelt eine der Ziegen. „Gekommen ist er nicht ein einziges Mal.“ Sie lacht bitter, als habe sie damit ohnehin nicht gerechnet.

„Die Zusage steht!“ Klaus Groth, 74 Jahre, dunkler Anzug, weißer Haarkranz, ist ein mächtiger Kerl mit energischer Stimme. Wenn man für ein Konversationslexikon einen Baulöwen zeichnen müsste, man könnte einfach Groth nehmen. Er spricht mit norddeutsch rollendem „r“ und lässt bei wichtigen Punkten seine Hand donnernd auf den Tisch fallen. Es ist eher eine Pranke. „Der Moritzhof ist für unser Quartier eine Bereicherung, das sage ich mit aller Überzeugung.“ Groth sitzt in seinem Konferenzraum, Blick auf den Kurfürstendamm, beste Lage. Vor ihm auf den Tisch die Bebauungspläne. „Die Bürgerwerkstatt will den Lorenzen-Entwurf nicht, das hat sie mehrfach erklärt. Aber er wurde vom Parlament beschlossen. Man schlägt uns, aber man muss die anderen schlagen.“ Er habe keine andere Möglichkeit, sagt Groth, als die Rahmenbedingungen der Politik zu erfüllen.

Groth sieht die Dinge gelassen. Er hat in Berlin schon zahlreiche Großprojekte bauen lassen, unter anderem die CDU-Zentrale am Tiergarten. Er weiß, dass die Politik auch diesmal in seinem Sinne entschieden hat. Ein Zurück ist schwer vorstellbar. Die Parkerweiterung im Süden hat im Dezember bereits offiziell begonnen, sie ist wiederum gekoppelt an den Städtebaulichen Vertrag. Und in dem steht seit Dezember Groths Name.

Groth ist den empörten Bürgern entgegen gekommen – ein bisschen. Er hat ein paar Baublöcke herausgenommen und gegenüber des Moritzhofs einen leicht erweiterten Eingangsplatz geschaffen. Ansonsten zieht sich der Löwe auf die geschützte Position des Ungefähren zurück. „Was heißt ‚ökologisch ausgerichtet‘?“, fragt er. Und auch ’soziale Durchmischung‘ habe ihm bisher keiner definieren können, „nicht mal der Senat oder der Bezirk“. Und Luxus? „Wenn man 3.500 Euro Verkaufspreis (pro Quadratmeter) in der Lage als Luxus bezeichnet, dann weiß ich nicht, was Luxus wirklich ist!“

Ganz genau weiß Groth dagegen, dass all diese hübschen Vereinbarungen in den Verträgen nur sehr allgemein formuliert sind. Konkretes Interesse einer Genossenschaft besteht derzeit nicht, bestätigt er. Und so werden die 300 geplanten Mieteinheiten entlang der Ringbahngleise im Norden mindestens 9,50 Euro nettokalt kosten. Groth sagt: „Es geht zum einen um die Berücksichtigung der Nachbarschaft, aber es geht vorrangig um die Leute, die in diesem Quartier wohnen werden und ihre Bedürfnisse.“

Klaus Groth streicht sich den Schlips gerade und lehnt sich zufrieden zurück. „Ich glaube“, sagt er, „wir haben eine ganze Menge machen können, um die nachbarschaftlichen Beziehungen zu begründen.“

Rache oder Blut

– Ägyptens Ultras und die Revolution (erschienen im 11FREUNDE-Sonderheft ‚Rebellen‘, März 2013)

Der Abend des 1. Februar 2012 muss schön gewesen sein, im malerischen Küstenort Port Said. Ende eines milden Spätwintertags an der Mittelmeerküste, 200 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Kairo. Langsam versinkt die Sonne. Dann wird es schwarz über Äygpten.

Das Meer ist keine 300 Meter entfernt vom Stadion, nur einmal quer über die vierspurige Hauptstraße und durch die geschwungene Anlage eines Urlaubsressorts, dann sieht man schon die Wellen, die geduldig an den Sandstrand schwappen. Um die Stunde, als in den Urlauberhotels für gewöhnlich das Abendessen aufgetragen wird, sterben in der Arena des Al-Masry Sporting Club die ersten Menschen.

Sie sind im Zug und in Bussen aus Kairo angereist, um ein Fußballspiel zu sehen. Sie sind Fans von Al-Ahly, dem größten, beliebtesten, erfolgreichsten Klub des Landes. Nun werden sie zertrampelt, von Ihresgleichen, zerquetscht an den von außen verschlossenen Eisentoren, erschlagen werden sie und erstochen. Über tausend Menschen werden verletzt. 74 kehren reglos nach Kairo zurück, spätnachts, verschnürt in weißen Säcken. Der jüngste von ihnen: Gerade 15 Jahre alt. Zurück bleibt ein Meer aus Schuhen, verstreut in den Gängen des Stadions. Männerschuhe, schwarz, braun, in hellen Farben auch. Die Schuhe der Toten.

Der 1. Februar 2012 hat schnell einen festen Platz unter den schlimmsten Stadionkatastrophen eingenommen, doch das führt in die Irre. Es ging nicht um Fußball an diesem Abend, nicht um die alte Rivalität zwischen Al-Masry und Al-Ahly, zwischen den Grünen und den Roten. Jedenfalls nicht in erster Linie. Es ging, das war den meisten sofort klar, um viel mehr. Es ging und geht auch um die Macht am Nil.

„Was sich in Port Said abgespielt hat, war politisch“, sagt James Dorsey. „Fußball in Ägypten ist per definitionem politisch. Eine Polizeimacht, die nicht an Sicherheit interessiert ist, ist per definitionem politisch.“ Dorsey ist Universitätsprofessor in Singapur und publiziert einen viel beachteten Blog über die „turbulente Welt des Nahost-Fußballs“. Auch er weiß nicht die Antwort auf die Frage, wer verantwortlich ist für den blutigen Februartag. „Die kennt wohl keiner“, sagt er. Seine Deutung: „Es ist wohl ein völlig außer Kontrolle geratener Versuch gewesen, die Ultras einen Kopf kleiner zu machen. Es wurde ein Bumerang.“

Die flackernden Fernsehaufnahmen der Katastrophe zeigen deutlich, wie passiv sich die wenigen Sicherheitskräfte verhalten, die sich im Stadioninneren befinden. Vor der Al-Masry-Kurve eine dünne Polizeikette, doch in ihr klafft ein Loch, durch das Hunderte Gewaltbereiter, Bewaffneter ungehindert strömen. Dunkler Schwarm der Jäger. Die Profis von Al-Ahly, rote Trikots, schwarze Hosen, hetzen wie getriebenes Vieh um das Torgestänge, flüchten sich in Todesangst in den Kabinengang. Hier wird Kapitän Mohammed Aboutreika später einen sterbenden Fan in den Armen halten und fragen: „Ist ein Menschenleben so wenig wert?“

Für die „Ultras Ahlawy“, wie sich der harte Kern der Ahly-Fans nennt, ist die Antwort klar. „Diese Leute sind furchtlos“, sagt Dorsey. „Wenn es sie ihr Leben kostet, dann kostet es sie eben ihr Leben. Es macht ihnen nichts aus, und die Polizei respektiert sie dafür.“ So geht die krude ägyptische Logik, vor und nach dem Sturz Hosni Mubaraks.

„Sie wollten uns bestrafen und exekutieren für unsere Beteiligung an der Revolution gegen die Unterdrückung.“ So formulieren es die „Ultras Ahlawy“ kurz nach der Tragödie in einem Statement. Sie geloben einen „neuen Krieg, um unsere Revolution zu verteidigen.“

Um das zu verstehen, was in Port Said geschehen ist, muss man zurück gehen, und zwar genau ein Jahr. Am 1. Februar 2011 schaut die Welt nach Kairo. CNN, BBC, Al-Jazeera berichten schon den ganzen Tag live vom Tahrirplatz im Herzen der Hauptstadt, auf dem sich seit Tagen Tausende Ägypter versammelt und verschanzt haben, mit dem Ziel, das Regime des Hosni Mubarak zu stürzen. Der wirft einen seiner letzten Trümpfe in den Ring: die Kavallerie. Männer auf Pferden und Kamelen sprengen in die Menschenmenge und knüppeln wie wild auf die Demonstranten ein. Die Menschen weichen zurück, panisch fliehen sie vor den trampelnden Hufen und den tanzenden Knüppeln. Unwirkliche, archaische Gewalt. Nach einigen Schrecksekunden aber geht das Fußvolk zum Gegenangriff über, einige der Reiter werden herunter aufs Pflaster gerissen und ihrerseits schwer verprügelt. Die „Kamelschlacht“, wie sie bald heißt, ein Schlüsselakt der Revolution. An vorderster Front mit dabei: Die Ultras von Al-Ahly, gestählt in jahrelangem Stadion- und Straßenkampf mit der Polizei. „Schwingende Knüppel und Tränengas sind für uns nichts Neues“, sagte ihr Sprecher hernach 11FREUNDE. „Es war ganz selbstverständlich, dass wir ganz vorne mit dabei waren, als die Menschen auf der Straße kämpften.“

Neben dem Nachwuchs der Muslimbrüderschaft sind die Ultras Ahlawy und ihre einstigen Rivalen von Zamalek die wichtigsten Gruppen beim Sturz Mubaraks. „Es gibt nur eins, was größer war als der Hass zwischen Al-Ahly und Zamalek“, sagt der Experte James Dorsey: „Der Hass auf das Regime.“ In den ersten Tagen erobern diese jungen Männer Tahrir, preschen vor, werfen Steine und retournieren Tränengas-Patronen, springen wieder zurück, dann wieder vor. Zermürbende Choreografie, immer wieder, bis die Bresche da ist. Vorbereitet sind sie ohnehin bestens, sie haben Zwillen, genügend Steine. Und Sodawasser zum Augenauswaschen. Verwundete transportieren sie auf Motorrädern ab. „Die Ultras haben eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Barriere der Angst zu durchbrechen“, sagt Dorsey. „Sie waren die Verteidigungslinie der Bewegung.“

Zwei Jahre später weht ihre Flagge noch immer auf dem Tahrirplatz, ebenso wie die von Zamalek. Ihr Kampf ist lange nicht vorbei.

Die „Ultras Ahlawy“ sind eine mächtige Organisation, und sie sind gut vernetzt. Ihre Facebook-Seite, „UA07“, Initialen plus Gründungsjahr, wird regelmäßig mit Nachrichten gefüttert, sie hat über 700.000 Likes. Das Profilbild im Januar 2013: eine schwarze Fläche. Darüber eine Faust mit brennender Fackel, die arabischen Worte „Al-qusas au al-dam“, das heißt: Rache oder Blut. Auf Englisch darunter, etwas weniger martialisch: „Justice or Revenge“. Der 26. Januar ist das Datum, auf das sie hinfiebern, dann werden die ersten Urteile erwartet gegen die Jäger von Port Said. Wie hart werden sie bestraft? Drei Tage vorher erklärt Staatspräsident Mohammed Mursi die toten Ahly-Fans zu „Märtyrern der Revolution“ und erfüllt damit eine der Forderungen der Ultras.

„Wir wollen keine Märtyrer sein“, hatten sie noch unmittelbar nach dem Sturz Mubaraks gesagt. Mit Port Said aber ändert sich alles. Schon in der Nacht nach der Katastrophe haben sie sich Rache geschworen, als die Überlebenden im fahlen Licht des Ramses-Bahnhofs von Zehntausenden empfangen wurden, die sich auf die Bahnsteige und auf Zugdächer quetschten. Nun singen die Ultras bei ihren Märschen durch die Straßen von Kairo: „Ich höre die Rufe der Märtyrermütter: ‚Wer gibt mir die Rechte meines Sohns?’“

Es geht den Ultras auch um Reformen, vor allem des Sicherheitsapparats. Es waren die Polizisten, die in Mubaraks System den einfachen Leuten in den Armenvierteln Kairos das Leben zur Hölle machen konnten. Sie waren das Gesicht, die Exekutive des Gewaltherrschers, und sie sind immer noch da in den Augen der Ultras, die die Zerschlagung der alten Machteliten fordern. Nicht nur vor Gericht, auch auf der Straße. Ende September 2012 stürmen sie die Redaktionsräume des TV-Senders „Modern Sport“ in der Kairoer Medienstadt. Ende November liefern sie sich blutige Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften, auf der prestigeträchtigen Mohammed-Mahmoud-Straße nahe von Tahrir. Muslimbruder Mursi ist ihr neues Ziel. Neues Gewand, altes Herrschaftsdenken? „Nieder mit Mohammed Mursi Mubarak“, rufen die Demonstranten. Die Ultras kämpfen sogar gegen den eigenen Verein, der als größter Klub Ägyptens ganz selbstverständlich verbandelt ist mit den alten Strukturen. Sie erreichen, dass Klubpräsident Hassan Hamdys Reisepass eingezogen, sein Konto eingefroren wird. In typischer altägyptischer Ämterteilung war er auch Chef der Werbeabteilung der staatlichen Zeitung „Al Ahram“. Sie erreichen, dass kein Fußball gespielt wird, solange der Prozess über die Verantwortlichen nicht zu Ende gebracht ist.

Nur ein Spiel wird ausgetragen auf nationalem Level seit Port Said, am 9. September schlägt Al-Ahly das Team von ENPPI 2:1 im Supercup. Kapitän und Rekordspieler Mohammed Aboutreika ist der einzige Profi, der sich dem Boykott der Ultras anschließt. Aboutreika, in dessen Armen ein Ahly-Fan in Port Said gestorben sein soll, ist eine Ausnahme unter den Spielern, die Mehrheit positioniert sich nicht. „Die Ultras haben sich immer als einzige loyale Anhänger des Klubs verstanden“, sagt Dorsey. „Die Spieler waren Söldner. Die Funktionäre waren Regierungslakaien.“

Die Ultras Ahlawy erheben einen großen Anspruch bei der Ausdeutung der Revolutionsziele. Analog zu dem riesigen Banner vom Kairoer Derby, kurz nach ihrer Gründung im September 2007: „We are Egypt“, stand darauf. Sie sind ein Faktor, nach wie vor, auch und gerade auf der Straße. „Can’t stop Ultras“, erklären sie ihren Plakaten.

Und dann kommt der 26. Januar. Es wird ein weiterer blutiger Tag im nach-revolutionären Ägypten. 21 Todesurteile spricht das Gericht im Fall Port Said aus – das Fernsehen transportiert die Bilder live ins ganze Land. In Port Said und weiteren Städten brechen schwere Unruhen aus, es gibt Hunderte Verletzte, mindestens 30 Tote. Mursi verhängt den Ausnahmezustand. Die Ahly-Ultras feiern derweil mit Feuerwerk und Gesängen. Rache oder Blut. „Heute hat die Gerechtigkeit begonnen, aber sie ist noch nicht vollständig“, schreiben sie auf ihrer Seite. „Ruhm allen Märtyrern!“

»Sind Sie ein Held, Monsieur Mekhloufi?«

– Rachid Mekhloufi war ein Star in Frankreichs Fußball, doch er entschied sich, alles aufzugeben und für die Freiheit seiner Heimat Algerien zu kämpfen – mit dem Fußball. Vier Jahre tourte er mit der Auswahl der algerischen Befreiungsfront FLN durch die Welt, spielte in Osteuropa, China, und Nord-Vietnam. (erschienen im 11FREUNDE-Sonderheft ‚Rebellen‘, März 2013)

Monsieur Mekhloufi, lassen Sie uns eine Zeitreise machen.

Gerne.

Es ist Frühjahr 1958. Sie spielen in der französischen Liga bei AS Saint-Étienne, sind in den vorläufigen Kader Frankreichs für die WM in Schweden berufen. Gleichzeitig tobt in Ihrer Heimat Algerien ein Krieg gegen die französische Kolonialmacht.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich nach Frankreich nur als Fußballspieler gegangen bin, wie auch die anderen Algerier. Das erlaubte uns, der Anonymität zu entfliehen und dem Elend. Denn alle Algerier lebten im Elend. Dann wurde ich in die französische Nationalelf berufen, was ich natürlich nicht ablehnen konnte.

Fühlten Sie sich als Algerier, als Franzose oder beides?

Hören Sie, ich habe mich niemals als Franzose gefühlt, das Gleiche gilt für meine gesamte Generation. Ich bin aus einem Ort, der zum Märtyrerort wurde, er heißt Sétif, dort brachte die französische Armee 1945, am Tag des Waffenstillstands, 45.000 Menschen um. An diesem Tag verschrieb ich mich der Revolution.

13 Jahre später gaben Sie ihr gutes Leben als Fußballstar in Frankreich auf. Wie kam es dazu?

Zwei Männer aus meiner Heimatstadt kamen am Vorabend eines Spiels auf mich zu und sagten: »Morgen fahren wir zusammen nach Tunis.“ Ich sagte: „Alles klar, lasst uns gehen.«

Einfach so?

Einfach so. Das Einzige, was ich ihnen sagte, war, dass ich in der französischen Armee war und als Deserteur viel riskierte. Aber es war ein endgültiger Abschied. Es gab keinen Weg zurück, außer nach der Unabhängigkeit.

Sie zögerten überhaupt nicht?

Keine Sekunde! Für mich gab es gar keinen Zweifel, und ich denke für meine Kameraden auch nicht. Es war eine Entscheidung, die man schnell treffen muss – oder gar nicht. Als Fußballer aber fuhren wir ins Ungewisse, wir wussten nicht, ob wir überhaupt jemals wieder würden spielen können. Das war unsere einzige Sorge.

Die Vorbereitungen waren gänzlich im Geheimen abgelaufen?

Ja, der beste Beweis war, dass selbst der FLN in Tunis nicht wusste, dass wir kommen würden. Alles musste genau durchgeplant werden, da alle algerischen Fußballspieler von der französischen Regierung beobachtet wurden. Wenn irgendwelche Informationen durchgedrungen wären, hätten wir in der Falle gesessen.

Wie verlief Ihre Flucht und die der neun anderen Fußballer?

Es gab zwei Gruppen. Die eine fuhr von der Côte d’Azure mit dem Auto nach Italien. Unsere Gruppe floh über die Schweiz. In Genf trafen wir uns mit dem dortigen FLN-Korrespondenten, er nahm uns im Wagen mit nach Italien, von Rom nahmen wir ein Flugzeug nach Tunis.

Hatten Sie während Ihrer Flucht Angst?

Nein, nein. Wissen Sie, der FLN war überall in Europa. Sie hatten überall ihre Organisatoren. Als wir unseren Korrespondenten in Rom gefunden hatten, hielt er schon tunesische Pässe für uns bereit. Die Organisation war gut.

Sie gaben Ihre Karriere auf – und auch die Teilnahme an der WM, die wenige Wochen später in Schweden begann. Haben Sie das bedauert?

Gar nicht. Als ich in Tunis ankam, hatte ich die WM schon vergessen. Das mag Ihnen komisch vorkommen, ich war erst 22, aber, wie gesagt, das Massaker von Sétif hat mich sehr geprägt. Ich habe damals mit neun Jahren viele Dinge gesehen… Schrecklich! Ich habe wohl da schon verstanden, dass ich niemals ein Franzose sein kann.

Gab es nach Ihrer Flucht noch Kontakt mit Ihren früheren Kollegen in der französischen Auswahl?

Ja, den gab es, aber wissen Sie, ab der Minute, in der ich ging, schaute ich nicht mehr zurück. Ich verfolgte die Spiele der Franzosen nicht mehr, ich schaute mir nicht mal die WM in Schweden an. Alles was ich sagen kann, ist, dass ich mit Just Fontaine um einen Platz im Sturm konkurrierte, dem Mann, der bis heute die meisten Tore bei einer WM erzielt hat. Aber ich bereue nichts. Ich habe Stellung bezogen, und damit hat es sich.

Einige andere entschieden sich, in Frankreich zu bleiben.

Ja, einige blieben. Einige algerische Spieler wollten nicht gehen, weil sie noch ihr Studium beenden mussten.

Haben Sie Verständnis dafür?

Ja. Keiner wurde gezwungen, zu gehen. Einige entschieden sich zu bleiben.

Sie aber gingen. Fühlen Sie sich als Held, Monsieur Mekhloufi?

(lacht) Nein, nein. Die Helden liegen unter der Erde. Wir haben doch nur Fußball gespielt. Wir haben immer noch unseren Beruf ausgeübt. Wir waren privilegiert.

Sie repräsentierten die Befreiungsfront auf dem Fußballfeld.

Der FLN hat dieses Team natürlich nicht aus Liebe zum Fußball gegründet. Es ging darum, auf den Krieg in Algerien aufmerksam zu machen. Wissen Sie, zu dieser Zeit wussten selbst die Menschen in Frankreich gar nichts über den Krieg, weil die Regierung alles zensierte.

Gegen wen traten Sie als erstes an?

In Tunis veranstalteten wir das erste nordafrikanische Fußballturnier der Geschichte. Im April 1958 spielten wir gegen Libyen, Tunesien und Marokko. Wir haben gewonnen.

Wie organisierten Sie die Spiele? Die FIFA lehnte Ihre Elf ab.

Stimmt, aber die FIFA hatte nur im Westen Macht. Wir spielten im Nahen Osten, in Asien und Osteuropa, in den Ländern des Kommunismus.

Stimmt es, dass Sie mit Ho Chi Minh gefrühstückt haben?

Oh ja! Der vietnamesische Anführer lud uns zu sechs Uhr morgens ein. (lacht) Und er hatte nicht mal richtige Schuhe an. Er trug alte Reifen an den Füßen, die mit Schnüren zusammengehalten wurden! Es war ein großartiger Empfang von wunderschöner Einfachheit. Er sprach exzellentes Französisch und wir redeten über General Diap, der die französische Armee in Dien Bien Phu besiegt hatte. Er sagte uns: »Ihr habt uns im Fußball besiegt, wir haben die Franzosen im Krieg besiegt, und auch ihr werdet sie im Krieg besiegen.«

Ihre Waffe war der Ball.

Ja, wir haben in der ganzen Welt auf die algerische Sache aufmerksam gemacht. Und wir gaben nicht klein bei. In Polen wollten sie die algerische Flagge nicht hissen. Also weigerten wir uns zu spielen. Das war unsere Mindestvoraussetzung. Außerdem waren wir sehr gute Spieler, und unsere Spiele waren außergewöhnlich.

War es wichtig, die Spiele zu gewinnen und guten Fußball zu zeigen?

Unsere Mannschaft war ihrer Zeit voraus, technisch waren wir so gut wie heute Barcelona. Die Palästinenser haben das gleiche versucht wie wir, aber weil sie kein gutes Team hatten und die meisten Spiele verloren haben, hörten sie wieder auf. So etwas funktioniert nur, wenn man die richtigen Ergebnisse und die richtigen Spieler hat.

Wovon haben Sie gelebt?

Die algerischen Behörden gaben uns Wohnungen in einem Neubaugebiet nahe Tunis. Wir verdienten 50 Dinar im Monat. Ich weiß nicht, was das heute in Euro wäre, aber es war mehr eine Geste als alles andere.

Es war nichts im Vergleich zu Ihrem Gehalt in Frankreich.

Ja. Aber dass sie uns überhaupt etwas gaben, war eine nette Geste.

Was haben Sie in dieser Zeit gelernt?

In den vier Jahren mit dem FLN wurde ich ein verantwortungsvoller Mann. Ich entwickelte mich persönlich, lernte viel dazu, nicht nur über Politik und Gesellschaft, auch über das Leben an sich. Ich lernte zu sprechen, wie ich heute spreche. Vorher war ich ein naiver junger Mann gewesen, der Fußball spielte. Fußballer hatten damals in Frankreich nichts zu sagen, man machte sich über sie lustig. Aber ich entwickelte mich auch auf dem Platz.

Inwiefern?

Ich veränderte meine gesamte Spielweise. Vorher war ich immer nur direkt aufs Tor gegangen. Indem ich in diesem exzellenten Team spielte, nur dadurch, dass ich meine Mitspieler beobachtete, wurde ich ein Stürmer-Organisator.

Sie lernten, den Ball mit den anderen zu teilen?

Ja, ich verteilte den Ball. Ich lernte, den Ball für andere Torschützen aufzulegen.

Wie erging es Ihrer Familie unterdessen, hatten Sie Kontakt zu Ihren Verwandten?

Dass meine Mutter gestorben war, hörte ich erst ein Jahr später. So etwas ist furchtbar. Sie hatte Diabetes, und ich fühlte mich mitschuldig, weil emotionale Schocks gefährlich sind für Menschen, die an dieser Krankheit leiden. Vielleicht, als sie hörte, dass ich aus Frankreich geflohen bin… (schweigt)

Was hörten Sie sonst aus der Heimat?

Einmal, ich glaube es war in Rumänien, kam ein Mann auf uns zu gerannt und rief: »Ihr seid unabhängig!“ Aber er hatte es falsch verstanden. Er meinte den Putsch der Generäle im Jahr 1961. Der arme Mann hat sich was anhören müssen von uns…

Wo erfuhren Sie von der echten Unabhängigkeit?

In Tunis. Wir hörten es von Politikern, Ben Bella, der künftige algerische Präsident, befand sich gerade in der Stadt. Einige ältere FLN-Spieler kehrten nach Algerien zurück, ich war erst 25 und ging nach Genf, um meine Rückkehr nach Frankreich vorzubereiten.

Sie gingen zurück nach Saint-Étienne. Wie wurden Sie, der Deserteur, aufgenommen?

Der Klubpräsident war mutig genug, mich zurückzuholen. Ich war besorgt, ich dachte, die Leute würden ihrem Ärger Ausdruck verleihen, doch als ich zum ersten Spiel ins Stadion einlief: Eisige Stille. Stellen Sie sich vor: 20.000 Menschen, und es herrschte Todesstille. Ich dachte: »Oh, Rachid, heute wirst du bezahlen.« (lacht)

Wie lief Ihr Comeback?

Das Spiel begann, und ich hatte den Ball. Ich machte irgendetwas, das ich noch heute nicht glauben kann, ich weiß nicht, was genau, jedenfalls passte ich den Ball genau zu einem Mitspieler und er traf. Die Leute jubelten und schrien »Rachid ist zurück!« Das Bild des alten Fellagha (Bezeichnung für algerische Freiheitskämpfer, d. Red.) löste sich mit einem Mal in Luft auf. Zurück blieb nur der Fußballer. Und dann begannen die wunderschönen Tage mit Saint-Étienne.

Und Sie, hatte sich Ihre Wahrnehmung der Franzosen durch die Kriegsjahre geändert?

Wir hatten ja nur das Bild der Franzosen in Algerien, nur gegen die waren wir. Sie waren böse, Rassisten. Sie schickten uns auf schlechtere Schulen. Nur dadurch, dass wir nach Frankreich gingen, konnten wir der Segregation entfliehen. Heute mag es in Frankreich rechte Parteien geben, die Rassisten sind und Araber nicht ausstehen können. Aber als ich 1954 nach Frankreich kam, waren die Franzosen dort immer nur sehr nett zu mir.

Was hat Sie all die Jahre im Exil angetrieben?

Alles, was wir brauchten, waren Spiele und Turniere. So blieben wir im Gleichgewicht. Manchmal hatten wir keine Perspektive, dann war es schwieriger. Aber wir spielten 84 Spiele. Und wir trafen auf Menschen und Völker, die nicht wussten, wo Algerien lag und was dort passierte. Wir machten Politik, besuchten Fabriken und diskutierten mit den Arbeitern. Es ging um viel mehr als Fußball, aber der Fußball half uns, weil wir ein großartiges Team hatten und die Leute sich für uns interessierten. Durch uns haben viele von Algerien gehört.

Heute leben Sie in Tunis, wie damals während Ihrer FLN-Zeit.

Nun, ich habe eine Tunesierin geheiratet. Ich hatte ja vier Jahre Zeit, mir eine auszusuchen… Heute lebe ich zwischen Tunis, Algier und Paris, wo mein Sohn lebt. In Algier besuche ich Freunde und arbeite mit dem FLN, die versucht, Fußballschulen aufzubauen. Und hier in Tunis lebe ich direkt am Meer, in einem Haus, das aussieht wie ein Boot. Können Sie sich das vorstellen?

I got the love!

– Der bemerkenswerte Soulsänger Charles Bradley gibt ein bemerkenswertes Konzert

Die Meute wird langsam ungeduldig. An die 200 Menschen quetschen sich in den engen Kellerraum, hier im „Fluxbau“ am Spreeufer nahe der Oberbaumbrücke. Draußen gluckert dunkel der Fluss, und Charles Bradley lässt auf sich warten. Nervöses Klatschen. Pfiffe. Ungeduld. Das Publikum: Jung, vielleicht Mitte, Ende zwanzig. Große Brillen, enge Hosen, knallroter Lippenstift bei den Frauen. Ein paar Afros. Und Mützen. Viele Mützen. Und Ungeduld. Es soll doch bitteschön pünktlich losgehen, selbst wenn der Eintritt frei ist.

Für einen Platz auf der Gästeliste musste man nur dem Radiosender FluxFM eine Email geschrieben haben. „Ja, ich will dabei sein, wenn Charles Bradley sein neues Album vorstellt“ oder so ähnlich. Die Antwort kam postwendend. Die, die nun dabei sind, sind sicher auch neugierig geworden auf Bradleys Geschichte, die keine gewöhnliche ist. 64 Jahre ist er schon alt, aber erst seit zehn Jahren Profi-Musiker. Vorher war er einige Jahre James-Brown-Double, Künstlername „Black Velvet“, davor Koch, davor Obdachloser. Jahrzehntelang war der Soulsänger Charles Bradly einer von vielen armen, schwarzen Amerikanern.

Bradley kommt nun auf die Bühne, grauer Rolli, Silberkettchen, funkelnder Ring. Die Menge johlt. „The Screaming Eagle of Soul“ nennen sie ihn, und der Adler schreit, kreischt gleich los mit einer Stimme, die einen packt wie mit Klauen. Mächtig, rauchig. B.B. King auf zwei Packungen Filterlosen.

Nach dem ersten Song die freundliche Bitte, doch das Echo vom Mikro zu nehmen. Völlig logisch: Dieser Mann braucht keine technische Hilfe. In jeden Ton legt er sein Leben. „I believe in your love“, singt er, mit halb geschlossenen Augen und schmerzvoll verzerrtem Gesicht. „I got the love“, singt er, „strictly reserved for you and me.“ Simple, scheinbar naive Botschaften, vorgetragen mit unbändiger Energie, jede Note ein Bekenntnis.

Dass dieser Abend überhaupt möglich ist, scheint Bradley ehrlich zu erstaunen, immer noch und immer wieder. Er will sich rechtfertigen: „Wisst ihr, ich spiele euch hier nichts vor“, sagt er zwischen zwei Songs. „Manche tun das. Aber ich habe es alles selbst erlebt.“ Die Monate auf der Straße, die zu Jahren werden. Den Tod seines Bruders, erschossen vom eigenen Neffen. Die Zeit des Zweifelns, des Versteckens. Erst jetzt, im Alter, lebt er sie aus, seine Liebe zur Musik, sein Gesangstalent, das er jahrzehntelang verheimlicht hat vor allen Fremden. Und 50 Jahre, nachdem ihn seine Schwester zu seinem ersten Konzert mitgenommen hat, James Brown natürlich, steht er vor diesen ganzen jungen Berlinern mit ihren Schlumpfmützen und sagt: „Ich bin euch unglaublich dankbar. Dafür dass ich hier sein darf. Ich danke euch dafür, dass ihr mit mir durch den Sturm gegangen seid!“

Einer hat ein Fenster geöffnet. Der Geruch des Flusses steigt in den Raum. „Ich fühle mich wie Otis Redding“, sagt Charles Bradley, „wie er da unten am Dock saß.“

Bradley singt seine neuen Soul-Balladen, sechs, sieben Stück, er schleudert sie in den Raum, begleitet nur von einer Akustik-Gitarre und zarter Perkussion. Längst schon ist das kein Gig mehr, es ist eine Messe.

„Why is it so hard to make it in America?“ In einem der eindrücklichsten Songs stellt Bradley die Frage seines Lebens: Warum nur ist es so schwer, es in Amerika zu etwas zu bringen? „In Germany too!“, ruft einer aus der Menge, aber das klingt sofort falsch, fast wie eine Frechheit. Ist das Leben hier schwer, für junge, weiße Mittelklasse-Deutsche? Schwerer als drüben?

Bradley aber reagiert sanft: „Ja, du hast recht, Bruder“, sagt er, „die Leute haben es heute überall auf der Welt schwer. Weil es so schwer ist, auf die Seele zu hören.“ Die Menge raunt zustimmend. Und dann singt Charles Bradley davon, wie einfach es eigentlich sein sollte, es in dem Land zu schaffen, aus dem er stammt. Und singt die Zeile, die er selbst widerlegt hat: „Looks like nothing’s gonna change.“

Das Erstaunlichste aber kommt nach den Songs. Die letzten Akkorde sind kaum verklungen, da steigt Bradley hinunter zu seinem Publikum. Er beginnt, die Leute zu umarmen. Er will, so scheint es, wirklich jedem persönlich danken. Fängt vorne an, arbeitet sich nach hinten durch. Dutzende Umarmungen, jede einzelne fest und lange. Und die Menschen stehen schier Schlange, lächeln ihn mit großen Augen an, strecken ihre Arme aus, hier, mich auch! Sie reißen sich darum, diesen Mann zu drücken. Als hofften sie, dass etwas von seiner Zuversicht, seiner weisen Ruhe auf sie abperlt. Smartphones erleuchten den Raum. Bradley ist fast ganz hinten angelangt. Ein besonderer Moment, nicht nur für ihn, man spürt das. Die große Sehnsucht der Twentysomethings nach ein bisschen Nähe. Woher kommt die, wieso bricht sie jetzt so unvermittelt hervor? Die Seele kann man nicht liken, vielleicht ist es das.

Friedrich der Große

– Mythos Fritz Walter – eine Annäherung (11FREUNDE Sonderheft „Die 50er“)

Es sind die Worte der Anderen, die aus Menschen Mythen machen: „Es gibt drei Gründungsväter der Bundesrepublik: politisch ist es Adenauer, wirtschaftlich Erhard und mental Fritz Walter.“ Der Historiker Joachim Fest verlegte das Gründungsdatum der Bonner Republik vom 23. Mai 1949 kurzerhand auf den 4. Juli 1954 – den Tag des WM-Endspiels von Bern. Ab diesem Tag war Deutschland wieder wer. Laut Fest: vor allem dank Fritz Walter.

Unzweifelhaft ist Kaiserslauterns berühmtester Sohn eine der am meisten verehrten wie verklärten Persönlichkeiten der deutschen Sportgeschichte. Fritz Walters Leben und Wirken wurde hundertfach erzählt und auf Überlebensgröße potenziert. Pfälzer Heiligtum ist er ohnehin, dazu Jahrhundertfußballer, Vorzeigecharakter und für nicht wenige eben auch nationaler Sinnstifter. Aber vor allem natürlich: Bern. Immer wieder Bern. Herberger taktierte, Turek parierte, Rahn traf – und doch ist das Wunder von Bern für alle das Wunder von Fritz Walter.

Doch wer war dieser Mann wirklich, wie dachte, wie fühlte er, wie spielte er das Spiel, das die Massen wie kein zweites in seinen Bann zieht?

Es ist keine leichte Aufgabe, den gigantischen Mythos zu durchdringen, mit der Fritz Walter in dem halben Jahrhundert seit Bern umhüllt worden ist. Es ist ein Mythos, der durch Tradition entstanden ist, durch mündliche und schriftliche Überlieferung zwischen den Generationen und dadurch, dass die spärlichen Bilder, die es aus Walters aktiver Zeit überhaupt noch gibt, immer und immer wieder über die Bildschirme geflimmert sind und ausschließlich triumphale Momente zeigen. Alle Legenden sind auf Fritz Walter zugeschnitten, er ist im öffentlichen Bild zum Inbegriff des edlen Kriegers und verlässlichen Gefährten geworden. Doch was befindet sich unter dem Heldengewand?

Reisen wir zunächst zum Ursprung des Walterschen Weltruhms, nach Bern. Der Kalender steht auf ebenjenem denkwürdigen 4. Juli 1954, die Zeiger der Stadionuhr gehen auf sieben Uhr zu. Der Mann mit dem durchweichten weißen Hemd schaut ehrfürchtig hinauf zum Rednerpult. Mit einem tiefen Diener ergreift er die Hand, die ihm vom Gratulanten im feinen Anzug, Fifa-Präsident Jules Rimet, gereicht wird. Das Haar, zwei Stunden zuvor noch sorgfältig aus der Stirn frisiert, hängt Fritz Walter nun in dunklen, nassen Strähnen bis über die Augenbrauen. Mit schleppendem Gang und gebeugten Schultern schleicht der pitschnasse Kapitän hinüber zu seiner Mannschaft. In der rechten Hand hält er den schlanken Goldpokal.

Geht so ein Sieger?

Am Spalier seiner Mitstreiter vorbei erreicht er Sepp Herberger, den trenchcoattragenden Vater dieses Erfolgs. Ihm will er die Trophäe in die Hand drücken, diese ungeheure Last. Doch der Chef will davon nichts wissen, er dreht seinen besten Spieler in einer energischen, fast barschen Geste am Arm halb um die eigene Achse. Fritz Walter muss nun Fotografen, Offiziellen, den Massen auf der Tribüne direkt in die Augen sehen. Die Öffentlichkeit wird ihren Blick nicht mehr abwenden. Der durchnässte Mann mit den traurigen Augen ist – auf ewig – der Weltmeister aller Deutschen.

Der Fußball der fünfziger Jahre ist durchtränkt von einem Geist der Bescheidenheit, den wir heute nicht mehr kennen. Doch Fritz Walter wirkt nicht nur in dieser Szene noch einmal wie ein Anachronismus seiner Zeit, wie ein Überbleibsel aus einer anderen Generation, die schon damals eigentlich nicht mehr existierte. Den höchsten Triumph, den ein Fußballspieler erreichen kann, nimmt er nicht ohne Stolz hin, aber mehr noch mit der für ihn typischen Schicksalsergebenheit, mit seiner charakteristischen, bisweilen an Selbstverleugnung grenzenden Demut. „Soll ich mich entschuldigen, dass wir gewonnen haben?“, fragt er einen Begleiter Jahrzehnte später, bevor er auf dem 70. Geburtstag von Ferenc Puskas sprechen soll. Schließlich sagt der Weltmeister zu den Besiegten: „Es wäre doch schön gewesen, wenn wir beide gewonnen hätten!“

Es ist keine Altersmilde, die ihn diese Worte sprechen lässt. Walter war stets eher fairer Sportsmann statt unerbittlicher Wettkämpfer. Der Turm in der Schlacht, ein unverwüstlicher Kämpfer oder nimmermüder Antreiber ist er nie gewesen. Im Innensturm des FCK und der Nationalelf spielte vielmehr ein fragiler Ästhet, der jederzeit mit einer Ballberührung, mit einer intuitiven Körpertäuschung das Spiel entscheiden konnte, in anderen Phasen aber auch unter der Last der Verantwortung schier zusammenzubrechen drohte. „Vor jedem wichtigen Spiel musste ich ihm symbolisch in den Hintern treten“, sagte sein Bruder Ottmar später.

Nicht nur vorab in der Kabine, sondern nicht selten auch mitten auf dem Platz – wie am 30. Juni 1951 im Berliner Olympiastadion. Der 1. FC Kaiserslautern liegt im Finale um die Deutsche Meisterschaft 0:1 gegen Preußen Münster zurück. Und Fritz Walter möchte verzagen. Also packt Ottmar Walter seinen älteren Bruder vor 85.000 Menschen an den Schultern, er zerrt und rüttelt an ihm. Er schreit ihm direkt ins Gesicht. „Stell dich nicht so an, Friedrich! Es ist doch überhaupt nichts verloren!“ Fritz Walter nickt und wirkt doch wenig überzeugt. Seine Haltung gekrümmt, kein Glaube an die Wende. Doch Bruder Ottmar, zwar jünger, doch immer auch größer, athletischer, überzeugter, lässt nicht locker. „Auf geht’s, Friedrich!“

Wenige Minuten später spurtet der Gescholtene mit dem Ball am Fuß über die Mittellinie, passt den Ball im letzten Moment nach rechts, zum anderen Walter, dem nie verzagenden Kämpfer im Schlagschatten der Lichtgestalt. Ottmars präziser Flachschuss schießt knapp über der Grasnarbe zum Ausgleich ins Netz. Am Ende steht der erste Meistertitel des 1. FC Kaiserslautern.

„Fritz brauchte diese Art von Aufmunterung, sonst wäre er in seinem Trott eingeschlafen“, sagt Helmut Rasch, der rechte Verteidiger der FCK-Meistermannschaft von 1951, der die Szene gut in Erinnerung hat. Erst wenn es lief, bei ihm und der Mannschaft, habe der Ballvirtuose sein ganzes Repertoire abrufen können: Finten, Dribblings, punktgenaue Pässe. Wie weggeblasen waren dann die lästigen Selbstzweifel, endlich ausgeblendet die ungeduldige, zehntausendfache Erwartung von den Rängen.

An Niederlagen trägt der hypersensible Sportsmann schwer, grämt sich tagelang. Im Oktober 1952 will er nach einer 1:3-Schlappe gegen Frankreich seine Karriere im DFB-Trikot beenden. Doch Sepp Herberger, der für Walter nicht nur Bundestrainer sondern unfehlbare Vaterfigur ist, winkt ab. Und Walter macht weiter – in stetem Gehorsam zum „Chef“. Einen Monat später führt er die deutsche Mannschaft in genialer Manier zu einem 5:1-Sieg gegen die Schweiz. Dennoch reist Fritz Walter auch zur WM 1954 voller Skepsis. Seine Frau Italia sieht sich genötigt, ihm einen Brief nachzusenden. Aufmunternde, Mut machende Zeilen, die Walter während des gesamten Turniers im Nachttischschränkchen aufbewahrt. „Lieber Schnuckelino…“, so beginnen die Zeilen, die er jeden Morgen als allererste liest.

Vielleicht spüren die Menschen um ihn herum diese Verletzlichkeit und Demut, die ihn jeden Sieg ungläubig, gleich einem Geschenk, in Empfang nehmen lässt.

Eine Demut vor dem Leben, vor den Menschen, die auch von der „großen Scheiße“ geprägt ist, wie Altkanzler Helmut Schmidt, zwei Jahre älter als Walter, den Weltkrieg typischerweise nennt. 319.000 Männer, die wie Walter 1920 geboren werden, sterben durch den Krieg – vier von zehn seiner Altersgenossen werden die fünfziger Jahre nicht erleben. Für Fritz Walter jedoch spielt der Fußball Schicksal. Herberger setzt sich zunächst für seine Abberufung von der Infanterie zur Soldatenmannschaft „Rote Jäger“ ein, die zwecks Truppenunterhaltung gegen den Ball tritt. Nach Kriegsende bleibt Walter der Abtransport in den sowjetischen Osten erspart, weil sich ungarische Lagersoldaten an seine Tricks beim 5:3 in Budapest vor dem Krieg erinnern. Ottmar dagegen ist im Ärmelkanal schwer verwundet worden, Horst Eckel hat seinen älteren Bruder an den Krieg verloren, der Vater der Liebrich-Brüder wurde als Kommunist interniert.

Es ist eine gezeichnete Generation, der Walter als Gallionsfigur vorsteht. Diese Männer wollen in den Jahren nach 1945 von Politik nichts wissen – und haben ein allenfalls verschämtes Nationalbewusstsein. Als in Bern das Deutschlandlied erklingt, schweigen Spieler und Trainer ausnahmslos, Fritz Walter steht mit verkniffenem Blick in der Reihe seiner Sportkameraden. Erst nach dem Finale von 1954 setzt der Umbruch ein. Uwe Seeler, Jahrgang 1936, debütiert im ersten Spiel nach der WM. Es kommt die Zeit derer, die fröhlich „Im Frühtau zu Berge“ pfeifend für ein Rasierwasser Reklame machen können. Den „54ern“ jedoch, den älteren unter ihnen zumal, wohnt ein heiliger Ernst inne. „Helden?“, pflegte Fritz Walter zu sagen, „Helden fallen im Krieg“.

Für Millionen Deutsche jedoch, die nach dem Krieg nach neuen, unpolitischen Vorbildern suchen, ist er genau das: ein Held. Hans-Christian Ströbele, heute Bundestagsabgeordneter der Grünen, lernt sein Idol als Steppke an der Hand seines Onkels kennen. Der heißt Herbert Zimmermann und ist als Finalreporter die Stimme zum WM-Triumph in der Schweiz. Ströbele erinnert sich an die Nähe, die damals zwischen Bewunderern und Bewunderten noch herrschen konnte. „Das waren alles normale Leute, von denen man sich auch vorstellen konnte, dass man ihnen einfach so auf der Straße begegnet. Sie waren zwar unsere Helden, aber keine abgehobenen Stars.“ Auch deshalb will er von Festschen Gründerthesen nichts wissen. „Ich glaube, wenn man mit Fritz Walter darüber reden könnte, wäre er überhaupt nicht erfreut. Diese Leute wollten Fußball spielen, ehrlich und fair, aber auch nicht mehr als das.“

Doch welchen Fußball spielte Fritz Walter eigentlich, was zeichnete ihn auf dem Platz aus? Beim Versuch, die fußballkünstlerische Genialität zu begreifen, die Ströbele wie Millionen andere faszinierte, können wir nicht, wie bei den heutigen Stars und Sternchen, auf fetzige YouTube-Kompilationen mit den tollsten Tricks und schönsten Toren zurückgreifen. Es sind die Worte der Anderen, auf die wir uns verlassen müssen – die Urteile derer, die dabei waren.

„Fritz war vorne im Dreck, ihm standen die Verteidiger ständig auf den Füßen“, sagt der damalige FCK-Keeper Willi Hölz und fügt hinzu, dass man Walters Fertigkeiten nicht hoch genug bewerten könne, alleine wegen der Position im offensiven Fünfer-Zickzack, die ihm das damals praktizierte WM-System zuschrieb. „Beckenbauer war dagegen hinten fein raus war und ließ andere die Drecksarbeit machen“, so Hölz. „Fritz bewegte sich anders als alle anderen, seine Beweglichkeit und Anlage, den Gegner zu täuschen, waren unnachahmlich. Er war immer ein, zwei Spielzüge voraus.“ Dazu habe ihn eine fast chirurgische Präzision bei ruhenden Bällen ausgezeichnet.

In wohl keinem Spiel offenbart sich diese Gabe in größerem Maße als beim WM-Halbfinale 1954 gegen Österreich. Deutschlands Kapitän ist beim 6:1-Sieg an fünf von sechs Toren beteiligt. Zwei auf den Punkt geschlagene Walter-Ecken verwerten Max Morlock und Ottmar, eine weitere Flanke gleich zu Beginn Hans Schäfer. Und zwei Mal verwandelt der deutsche Spielmacher selbst, jeweils vom Elfmeterpunkt und jeweils mit schlafwandlerischer Sicherheit. Die Fritz-Walter-Gala im Sankt-Jakob-Park macht alles erst möglich: Rahn-Tor, Zimmermann-Ekstase, Bern-Wunder.

Es ist eine Gala, die auf akribische Trainingsarbeit zurückzuführen ist. „Trotz aller Erfolge und seiner großen Berühmtheit trainierte Fritz am härtesten von uns allen“, erinnert sich Horst Eckel. „Er versuchte ständig, sich weiter zu verbessern.“ Im Verein wie in der Nationalmannschaft schiebt Walter ungezählte Sonderschichten, übt Ecken, Freistöße, schult am „vernagelten Tor“, einem Vorläufer der ZDF-Torwand, seine Schussgenauigkeit. Sagenhafte neun Treffer bei zehn Versuchen in die Öffnungen, die kaum größer sind als der Ball selber, attestiert ihm das „Sportmagazin“ bei einem Besuch auf dem Trainingsplatz im Februar 1953.

Sein technisches Meisterstück legt Fritz Walter im Oktober 1956 im Leipziger Zentralstadion ab, beim deutschdeutschen Vergleich mit Wismut Karl-Marx-Stadt. 120.000 Menschen schauen dem FCK-Kapitän dabei zu, wie er eine Ecke im Flug mit der rechten Hacke in den Winkel schlägt. Nur seine Mitspieler wissen, dass dem Kunststück unzählige Fehlversuche auf dem Ascheplatz am Betzenberg vorausgegangen sind. „Die Bälle landeten überall, nur nicht im Tor“, erinnert sich Helmut Rasch. „Und dann“, schwärmt Rasch, „hat er den Mut, das vor hunderttausend Leuten zu machen!“ Ein schier unmöglicher Treffer, der durch miserables Flutlicht und einen dichten Regenschleier zusätzlich erschwert wurde.

Doch der Regen ist Fritz Walters bester Freund. Wenn es schüttet wie aus Eimern, Ball und Rasen glitschig sind, als seien sie mit Schmierseife überzogen, kann er seine unvergleichliche Ballbehandlung in einen noch größeren Vorteil ummünzen als sonst. Es ist das Wetter, das nach ihm benannt wird.

So wie das Stadion, in dem er schon mit kaum zwölf Jahren die Kaiserslauterer begeisterte. Schon in den Dreißigern gingen die Leute ein paar Stunden eher ins Stadion, um „’s kläh Fritzje“ zu sehen. Hagen Leopold, der für die „Initiative Leidenschaft FCK“ tausende Exponate aus der Walter-Zeit aufgespürt hat, kennt diese und unzählige andere Anekdoten aus jener Zeit. „Schon vor dem Krieg war ein Bild vom FCK entstanden, das immer nur die Führungsperson Fritz Walter kannte“, sagt er.

Ab 1945 dann, Kaiserslautern liegt in Trümmern, schart Fritz Walter die alten Kameraden um sich. Er ist der selbstverständliche Vater der „FCK-Familie“, mit kleinen Gesten weckt er lebenslange Loyalität. Als der blutjunge Horst Eckel Anfang 1950 zum ersten Mal bei den Profis mittrainieren darf, wählt er ihn beim abschließenden Spielchen als allerersten in seine Mannschaft. „Ich dachte, er will mich einfach aufmuntern, aber das machte er dann bei jedem Training“, erinnert sich Eckel.

So wie Eckel zu ihm emporblickt, so schaut Walter Zeit seines Lebens zu Sepp Herberger auf. In seiner steten Beziehung zum Bundestrainer, der 1948 gar sein Trauzeuge wird, zeigt sich ein Grundzug des Walterschen Charakters. „Ich bin mein Leben lang Mensch geblieben“, sagt er oft über sich. Das bedeutet vor allem: Fritz Walter ist sein Leben lang der gleiche Mensch geblieben. In Kaiserslautern ist er, der „zeitlose Antistar“, wie ihn die „Neue Zürcher Zeitung“ einst nannte, über die Jahre unverändert der Mann von nebenan, der Wäscherei- und Kinobesitzer. In der kleinen Pfälzerstadt dreht sich keiner um, wenn er mit Italia durch die Innenstadt schlendert, und niemand schaut verwundert, wenn er am Einlass seines „Universum“ steht und geduldig die Karten abreißt.

„Er hat nie den Frisör oder Metzger gewechselt“, sagt Hans-Peter Schössler. Für den heutigen Chef von Lotto Rheinland-Pfalz mündete die langjährige berufliche Zusammenarbeit mit dem DFB-Ehrenspielführer in eine enge Freundschaft. „Fritz hatte für alle ein liebes, aufmunterndes Wort“, so Schössler. „Einen solchen Menschen musste man einfach mögen.“

Fritz Walter, der Mann von nebenan. So vertraut ist er, der Fritz, den Leuten, dass paradoxerweise die Langform seines Namens zur intimen Anrede wird. Friedrich, so nennen ihn nur enge Freunde.

Die Kehrseite der Gutmütigkeit: Das Wörtchen „nein“ ist ihm fremd. Selbst im hohen Alter noch signiert der Fußballstar von einst Sektflaschen, Bücher und Sponsorenpost, stapelweise, stunden- und tagelang.

Bei aller Bescheidenheit schafft der begnadete Erzähler Walter sich selbst mit den zahlreichen Veröffentlichungen unter seinem Namen schon früh einen mächtigen Resonanzraum für seinen Ruhm. Mit Werken wie „3:2. Das Spiel ist aus!“ oder „Spiele, die ich nie vergesse“ begleitet Walter im Laufe der Jahre als Co-Kommentator seine eigene Laufbahn. Spielszenen kann er auch Jahrzehnte später wie einen inneren Film abrufen. „Wenn Fritz von früher erzählte, vergingen zwei Stunden wie fünf Minuten“, schwärmt auch Miroslav Klose, der 41 Jahre nach Walters Karriereende für den 1. FC Kaiserslautern debütierte und mit glänzenden Augen von den Treffen mit den Weltmeistern von 1954 berichtet.

1958 spielt Fritz Walter seine zweite und letzte WM. Der Krieg hat ihm die besten Jahre als Fußballer genommen. Die dominante Persönlichkeit wie vier Jahre zuvor ist der fast 38-Jährige in Schweden nicht mehr, die schwachen Nerven jedoch sind treue Gefährten. In den Halbzeitpausen der WM-Partien versucht sich Walter, mit einem Glas Sekt Beruhigung einzuflößen. Es will nicht recht gelingen. Nach einem bösen Foul des linken schwedischen Läufers Sigvard Parling im Halbfinale wird er von zwei Betreuern vom Platz getragen – es bleibt sein letztes Länderspiel.

In den Jahren nach der Karriere kommen die persönlichen Fernziele, alle verbunden mit seiner geliebten Italia: Goldene Hochzeit, 80. Geburtstag. Dass er zusammen mit seiner Frau auf das Millennium anstoßen kann, macht Fritz Walter überglücklich. „Er sprach schon Jahre vorher davon, wie es sein muss, wenn vorne eine 2 statt einer 1 steht“, sagt Hans-Peter Schössler, „das war sein Sinn für das Geschichtsträchtige, für das, was bleibt.“

2 nach 1: Das verblüffend simple Weltbild eines Mannes, dem sein Wohnort, das verschnarchte 2.500-Seelen-Dorf Alsenborn, nie zu klein wurde, eines Mannes, dem die große Bühne nie ganz geheuer war, obwohl er derart auf ihr glänzte. Natürlich hat er selbst Geschichte geschrieben, Fußballgeschichte zumal, und das wie kaum ein zweiter. Fritz Walter hat, wenn wir im Bild bleiben wollen, der 1 die 2 nachfolgen lassen, als Spieler, der den Übergang zwischen Vor- und Nachkriegszeit symbolisiert – oder besser: den Nicht-Übergang. Weil sich Fritz Walters Welt, die Welt seines geliebten Fußballs, zwischen 1939 und 1945 nicht änderte, während alles um sie herum zerstört wurde, muss sein (Über)leben und Wirken von den Zeitgenossen wie ein Ausdruck der Beständigkeit, des „es geht doch weiter“ empfunden worden sein. Vielleicht ist dies dann sein größter Verdienst: den Menschen, die noch unter der Schwere des Kriegs und seinen Folgen litten, aufs neue die Leichtigkeit und Unbeschwertheit aufgezeigt zu haben, mit der dieses Spiel gespielt werden kann. Sicher ist, dass er sich darüber nicht im klaren war, sondern einfach nur Fußball spielen wollte. Fairen, ehrlichen Fußball.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen großen Fußballer und Menschen – auch bei seinen Erben im roten Jersey, die nach der Walterzeit fast 40 Jahre brauchten, um wieder Meisterhaftes zu vollbringen. In typischer Art adelte der Ahnherr des Pfälzer Fußballs dann seine Nachfolger. Auf der Weihnachtsfeier nach dem Titelgewinn 1998 beschied Friedrich, der Große, dem kleinen Brasilianer Ratinho, seinem Nachnachfolger auf Halbrechts: „Mäuschen, ich habe zwar mehr Tore als du geschossen, aber du bist der bessere Techniker.“ Der wusste erst gar nichts zu entgegnen und blickte verschämt zu Boden. „Fritz“, brachte das Mäuschen schließlich hervor, „ich bin nur ein Teil dieser Geschichte. Aber du – du bist die Geschichte.“