Die ultimative Bestrafung

– Die Glasgow Rangers sind nur noch viertklassig – auf dem Spiel steht nun auch der schottische Fußball allgemein

Berlin/Glasgow (dapd). Wenn die Spieler der ruhmreichen Glasgow Rangers am 11. August die Saison 2012/13 beginnen, wird ihnen der raue Nordseewind ins Gesicht pfeifen. Man wird vielleicht ein paar Möwen kreischen hören, denn mehr als 4.000 Zuschauer werden sich nicht einfinden können im Stadion Balmoor des FC Peterhead im 17.000-Einwohner-Nest am östlichsten Punkt des schottischen Festlands.

Zum Saisonauftakt steht für den 54-fachen schottischen Meister nicht etwa ein undankbares Pokalspiel auf dem Land an, sondern harter Liga-Alltag. Die Glasgow Rangers sind seit Freitag viertklassig.

25 der 30 Fußballklubs des Landes votierten für den Zwangsabstieg der national erfolgreichsten Mannschaft der Welt von der Scottish Premier League in die unterste Liga, die Third Division. Aus Gründen der Chancengleichheit, teils wohl auch aus Rachegelüsten gegen den in der Vergangenheit überheblich wirtschaftenden Protestantenklub, der sich in den vergangenen Jahren finanziell übernommen hat. Ein Urteil mit krassen Konsequenzen: Zum einen beraubt es die schottische Liga jeglicher Spannung, denn Erzrivale Celtic hat nun keinen ernst zu nehmenden Konkurrenten mehr. Der bislang letzte Meister, der nicht Celtic oder Rangers hieß, war der FC Aberdeen – vor 27 Jahren. Zum anderen ist unklar, wann das „Old Firm“, das älteste Derby dieses Sports, zum 400. Mal ausgetragen werden kann.

Die letzte Hiobsbotschaft des schmerzhaften Niedergangs nahmen die Vereinsverantwortlichen derweil schon mit Gleichmut hin. „Wir sind dankbar, als Mitglied der SFL aufgenommen worden zu sein und akzeptieren die Entscheidung, uns in Division drei zu wählen“, sagte Rangers-Geschäftsführer Charles Green. „Wir haben von Anfang an klar gemacht, dass wir dort spielen würden, wo man uns hinschickt. Wir wollen nun nur zum Fußballspielen zurückkehren.“

Die vergangenen Monate hatten im Schatten des Insolvenzprozesses gestanden, den Verein belasteten zuletzt noch Steuerschulden von 21 Millionen britischen Pfund, umgerechnet rund 26 Millionen Euro. Zunächst wurden den Rangers zehn Punkte in der Meisterschaft abgezogen. Ende Juni wurde der Klub dann aus der Premier League verbannt und nun nur ganz unten wieder zugelassen. „Wir haben die ultimative Bestrafung bekommen“, sagte Green, der jedoch auch betonte, es habe zuletzt ein „überwältigendes Gefühl“ innerhalb des Klubs, aber auch bei den Fans gegeben, ohne Altlasten einen Neustart zu beginnen, eine Sehnsucht nach dem „clean sheet“, der weißen Weste.

Kein Zweifel: Die Rangers mit ihrer riesigen Fanbasis und dem ehrwürdigen Ibrox Park, werden wieder hochkommen, vielleicht ist für den Verein das harte Urteil tatsächlich mehr Chance als Bestrafung – auch leise Hoffnung auf die rasche Einführung einer „Premier League 2“ mit den Rangers gibt es noch. Doch ungeachtet dessen stellt sich die Frage: Was wird aus Schottlands Fußball ohne das „Old Firm“?

„Es tauchen zweifellos finanzielle Konsequenzen am Horizont auf“, sagte Stewart Regan, der Präsident des schottischen Fußballverbandes. Rund 20 Millionen Euro im Jahr lassen sich die Rechteinhaber die TV-Übertragungen kosten – doch wie lange noch? Denn was will der Zuschauer vor allem außerhalb Schottlands außer dem Derby Celtic-Rangers eigentlich sehen? Am meisten könnte also paradoxerweise Celtic leiden, während sich die Rangers in Ruhe wieder sammeln.

Wie zum Hohn gab es Ende März noch einmal ein großes Derby im Ibrox Park. Mit einem 3:2-Sieg vermasselten die bereits abgeschlagenen Rangers dem verhassten Rivalen den vorzeitigen Gewinn des 43. Titels. Legenden wie diese werden auf dem Dorfacker von Peterhead nicht zu schmieden sein.

Cowboy ohne Sporen

– Cristiano Ronaldo scheitert erneut mit Portugal und kann seine grandiose Saison nicht krönen

Donezk (dapd). Tränen flossen diesmal nicht, ein zuckender Zusammenbruch blieb aus. Wie mechanisch drehte sich Cristiano Ronaldo stattdessen um 180 Grad, starrte hinauf in die Menge und schüttelte mit verkniffener Miene immer wieder den Kopf. „Injustica“ konnte man von seinen Lippen ablesen, immer wieder. Das ist nicht fair, wiederholte Ronaldo vorwurfsvoll, einfach nicht fair.

Cesc Fabregas hatte soeben als fünfter Strafstoßschütze Spaniens getroffen und das Aus Portugals im EM-Halbfinale von Donezk offiziell gemacht. Ronaldo wollte das alles nicht mehr mit ansehen. Er hatte es ja irgendwie auch alles schon zu oft sehen müssen. Für Cristiano Ronaldo, den besten europäischen Angreifer, der Real Madrid unlängst mit 46 Toren zum spanischen Meistertitel schoss, war das bittere Ende einer grandiosen Saison ein Deja-vu.

Zum fünften Mal bei fünf Turnierteilnahmen seit 2004 hatten die Portugiesen ambitioniert die K.o.-Runde erreicht, zum dritten Mal hatten sie unter den letzten Vier gestanden – ein Titel kam nie dabei heraus. Am nächsten war der damals erst 19-jährige Ronaldo der großen Trophäe 2004 gekommen, bei der EM-Finalniederlage im eigenen Land. Acht Jahre später wirkte er vergleichsweise gefasst. „Das alles ist einfach nur traurig und frustrierend“, sagte er nach dem 2:4 im Elfmeterschießen: „Es sind jetzt sehr schwierige Momente für mich.“

Ronaldo hatte sich – wie seine zehn Kollegen – enorm viel vorgenommen für dieses Spiel, das war schon bei der lauthals geschmetterten Hymne zu sehen gewesen. Die Haare hatte er sich für sein 95. Länderspiel glatt gestriegelt, also diesmal auf den neckisch hochgestellten Kamm verzichtet. Wie als Statement, dass Spirenzchen diesmal nicht auf der Agenda stünden. Aber natürlich kam Cristiano Ronaldo nicht ganz ohne aus. Nicht ohne die Wildwest-Posen vor den direkten Freistößen. Nicht ohne den einen oder anderen Hackentrick.

Dafür grätschten und kämpften seine Teamkameraden umso mehr, allen voran der rastlose Joao Moutinho und Chelseas Raul Meireles. Aber weil es dann am Ende nicht gut gegangen ist gegen den wenig überzeugenden, aber defensiv abgeklärten Welt- und Europameister, liegt es nahe, all die schönen spreizfüßigen Übersteiger irgendwie unpassend zu finden. Und auch all der Highnoon-Dorfstraßen-Zirkus nutzt nichts, wenn kein einziger der Freistöße aufs Tor geht. Wenn er nicht zum Schuss kommt, wie am Mittwochabend, dann ist Ronaldo mitunter ein Cowboy ohne Sporen.

„Wir waren 90 Minuten lang besser, aber wir konnten das Spiel nicht entscheiden“, haderte Trainer Paulo Bento, der die Erkenntnis, seine Elf könne „mit jedem Team bei jedem Turnier auf jedem Level“ mithalten, sicher gerne eingetauscht hätte gegen einen wie auch immer gearteten Sieg.

Alleine Ronaldo, der nach 90 Minuten ebenso viele Schüsse aufs Tor abgegeben hatte wie die gesamte spanische Mannschaft, nämlich sechs, hätte man das Siegtor zugetraut. Doch in der ersten Hälfte zielte er mit links nur Zentimeter am kurzen Pfosten vorbei, in der letzten Minute der regulären Spielzeit vergab er dann einen Konter in Überzahl.

Irgendwie passte es zu Ronaldos Abend, dass sein geplanter großer Auftritt im Elfmeterschießen vollends entfiel – und damit die Chance, den Fehlschuss mit Real im Champions-League-Halbfinale gegen die Bayern vergessen zu machen. „Ich wäre der fünfte Elfmeterschütze gewesen, aber das Schicksal hat es nicht gewollt“, sagte er. Viel hatte ja eigentlich nicht gefehlt, es hätte nur Bruno Alves 20 Zentimeter tiefer und Cesc Fabregas 20 Zentimeter weiter nach links zielen müssen – dann hätte Ronaldo zum spielentscheidenden Strafstoß anlaufen können.

So viel Konjunktiv jedoch verträgt der Fußball nicht, und so stand am Ende ein großartiger Fußballspieler im Mittelkreis und haderte kopfschüttelnd mit der Vorsehung. Sein ehemals strahlend weißes Trikot war dreckverschmiert. Denn gegrätscht und gekämpft hatte auch der Superstar. Allein, es hat nicht gereicht für Ronaldo und seine tapferen Portugiesen. Mal wieder.

Noch ein Ausraster zum Abschied

– Frankreichs Nasri sorgt nach „logischem“ Scheitern im EM-Viertelfinale für Eklat – Blancs Zukunft ungewiss

Donezk (dapd). Man hatte absehen können, dass es zum Schluss noch mal knallt. Alles andere wäre irgendwie nicht standesgemäß gewesen. Also vergaß der Franzose Samir Nasri nach dem 0:2 (0:1) im EM-Viertelfinale gegen Spanien seine Kinderstube. Statt altkluge Fragen zu stellen, solle er doch bitte seine eigene Mutter beschlafen, empfahl der 24-Jährige einem Journalisten in nicht jugendfreiem Ton. Wahlweise könne man die Angelegenheit auch an der frischen Luft klären – nach alter Väter Sitte.

Trainer Laurent Blanc kritisierte am Sonntag beim Sender TF1 Nasris Wortwahl als „bedauerlich“. Obwohl Blanc gleichzeitig die Medien für den Umgang mit seinen Spielern tadelte, war seine Einschätzung des Ausrasters eindeutig: „Für Nasris Image ist das sehr schlimm, aber auch für das der Mannschaft.“

Nach dem Ausscheiden tauchten sie dann also doch noch einmal auf, die zuletzt wieder oft zitierten Dämonen von Knysna. Der erzürnte Nasri bediente sich passenderweise exakt jener Formulierung, mit der Stürmer Nicolas Anelka bei der Skandal-WM vor zwei Jahren in Trainer Raymond Domenech in der Kabine bedacht hatte. „Ein logisches Ende“, titelte Frankreichs größtes Sportblatt „L’Equipe“.

Ganz so schlimm wie der Winter in Südafrika ist die osteuropäische Sommerreise dann aber doch nicht verlaufen. Frankreichs Equipe hat sich diesmal nicht bis auf die Knochen blamiert, sie hat sogar das von Trainer Laurent Blanc im Vorfeld ausgegebene Minimalziel erfüllt: Den ersten Sieg bei einem großen Turnier seit der WM 2006 wolle er mit seinem Team einfahren, hatte der Coach gesagt. Das gelang. Mehr aber auch nicht.

Einziges französisches Erfolgserlebnis bei der EM: Ein 2:0 gegen Gastgeber Ukraine. Davor: Ein schlaffes 1:1 gegen mauernde Engländer. Danach: Ein peinliches 0:2 gegen bereits ausgeschiedene Schweden. Und dann das 0:2 gegen Spanien, das man wahlweise als achtbar oder als verdient bezeichnen kann. Blancs Team zeigte in der Vorrunde gerade zu viel zum Sterben, im Viertelfinale bei weitem nicht genug zum Überleben.

„Wenn man verliert, fehlt es einem immer an etwas“, sagte Blanc lakonisch. „Ich weiß nicht, ob es der Ehrgeiz war oder die technische Genauigkeit.“ Das klang so, als ob er an beidem so seine Zweifel gehabt hätte. Dennoch fand der 46-Jährige, dass „meine Jungs alles gegeben haben.“ Das aber war offensichtlich nicht genug gegen eine kaum mehr als solide spanische Mannschaft, die sich mit einer für sie bescheidenen Ballbesitzquote von 55 Prozent begnügte und ansonsten das frühe 1:0 verwaltete.

Was also hat Frankreich gefehlt bei diesem Turnier – außer gelegentlich die Kinderstube im gegenseitigen Umgang? Zum einen sicher der „technische Leader“, den die Nation seit Zinedine Zidanes Rücktritt 2006 so angestrengt sucht. Weder Karim Benzema noch Nasri oder ein anderer konnten diese Rolle auch nur ansatzweise ausfüllen. Des weiteren mangelte es schlicht an genügend Spielern von internationaler Klasse.

Gegen Spanien konnte neben Bayern-Angreifer Franck Ribery und Keeper Hugo Lloris lediglich dem unermüdlichen Yohan Cabaye und nach der Pause noch Florent Malouda dieses Niveau attestiert werden. Benzema, der gegen seine spanischen Klubkollegen von Real Madrid fahrig bis übermotiviert wirkte, blieb erneut vieles schuldig. Der hochgelobte Stürmer fährt ohne EM-Tor in den Urlaub. „Wir haben gut gespielt und verloren, klar sind wir enttäuscht“, sagte der 24-Jährige: „Aber wir sind ins Viertelfinale gekommen, wo uns niemand gesehen hatte.“

Das Zusammenspiel zwischen ihm und dem erneut fleißigsten Franzosen Ribery scheiterte dennoch öfter als es klappte. „Zwei, drei Mal hätten wir sie in Schwierigkeiten bringen können, aber uns hat letztendlich die Technik gefehlt“, sagte Blanc, dessen Zukunft ungewiss ist. Am Spielabend wollte er sich nicht dazu äußern, ob er seinen nach der EM endenden Vertrag verlängern wird – oder darf. Verbandspräsident Noel Le Graet kündigte an, sich mit Blanc „in den nächsten acht Tagen“ zusammenzusetzen.

Der letzte Herrscher

– Zinedine Zidane war ein Magier am Ball mit dem Hang zum archaischen Zorn. Am Samstag wird der Franzose 40 Jahre alt

Donezk (dapd). Es war das Gesicht, das all das spiegelte, was diesen Spieler ausmachte: Die Wangenknochen, scharf geschnitten wie Freistöße, geschwungen der Mund wie seine Wege im Herzen des Spiels. Adleraugen unter tiefen Brauen. Ein fast indianischer Blick reiner Entschlossenheit. Am Faszinierendsten aber der ewige Schweißtropfen am Kinn des Zinedine Zidane. Er tropfte und tropfte, so beharrlich wie dieser stolze Mann Fußball spielte. Als wolle er für jede Minute, die er auf dem Platz stand, ein Gramm seiner selbst opfern.

Am Samstag wird Zinedine Zidane, der Magier, 40 Jahre alt. Am gleichen Tag spielt Frankreich im EM-Viertelfinale in Donezk gegen Spanien. Zidane ist heute passenderweise als Sportdirektor bei Real Madrid tätig, dem Verein, bei dem er seine Karriere beendete. Und auch wenn sein ältester Sohn Enzo mit 17 Jahren erfolgreich in Reals Jugend spielt, so ist ein neuer Zizou dennoch weit und breit nicht zu sehen – weder bei den Franzosen noch anderswo.

Den Tropfen an Zidanes Kinn konnte man am besten immer dann beobachten, wenn er sich den Ball zurechtgelegt hatte, vor einem direkten Freistoß, einem entscheidenden Elfmeter, einer Ecke. Dann konnte man Zidane tief ins Gesicht schauen, wie er kurz innehielt, einen Tropfen vielleicht, oder zwei – ehe er den Ball wieder in Umlauf brachte.

Der alte Zehner, der unumschränkte Herrscher über den Raum zwischen Abwehr und Angriff, wie Zidane einer war – er ist seit dessen Abtritt abgeschafft worden. Als hätten die Trainer ihm, dem letzten Vertreter seiner Art, die höchste Ehre erweisen wollen, so wie Basketball- und Eishockey-Teams die Rückennummern legendärer Spieler nicht mehr vergeben. Als wollte der Fußball sagen: Nach Zidane kann es keine Zehn mehr geben.

Zidane war der letzte Spielmacher der alten Generation, nicht wenige sagen: der beste. Er nahm die Bälle in Empfang, schirmte sie ab, verteilte sie unermüdlich – und sparte sich die größten Momente für die wichtigsten Spiele auf. Für das WM-Finale 1998, in dem er Frankreich doppelt ins Glück köpfte. Für das Champions-League-Finale gegen Bayer Leverkusen 2002, als ihm einer seiner großartigsten Treffer gelang. Für Spiele wie das Auftaktmatch der EM 2004 gegen England, das er mit einem grandiosen Freistoß und einem todsicheren Elfmeter ganz alleine in der Nachspielzeit drehte. Zur WM in Deutschland kehrte er dann noch einmal zurück, dominanter denn je.

Die Künstler Douglas Gordon und Philippe Parreno haben Zidane einmal bei einem Ligaspiel mit Real Madrid mit 17 Kameras aufgenommen und daraus einen Kinofilm gemacht. Ein 90-minütiges Meisterwerk, das Zidanes Eleganz und seiner Geschmeidigkeit huldigt. Doch auch hier, wie später im Finale von Berlin, dekonstruiert das Genie mit einem Platzverweis kurz vor Schluss den eigenen Mythos.

Zur Faszination Zidane gehört eben auch dieser unberechenbare Wechsel zwischen absoluter Ruhe und extremer Impulsivität. Für sein letztes Spiel im Trikot von Real Madrid ließ der Mann aus Marseille seine ganze Familie kommen: seine Brüder, seine Schwester, Frau und Kinder. Als er sie beim Verlassen des Bernabeu mit stummer Geste grüßte, weinten sie alle. Einige Wochen später beleidigte Marco Materazzi seine Schwester, und Zidane streckte ihn nieder. Hinterher bemitleidete kaum einer den Provokateur, für Zidanes brutale Reaktion hatten dagegen nicht wenige Verständnis. Selbst in diesem grotesken Moment archaischen Zorns schien er seinen Stolz, seine Würde zu wahren.

Sechs Jahre später: Frankreich gegen Spanien. Ein Sieg der Franzosen wäre ihr erster in einer K.o.-Runde seit dem WM-Halbfinale 2006. Fast unnötig zu erwähnen, dass es Zinedine Zidane war, der damals den Siegtreffer gegen Portugal schoss.

Die alten Dämonen

– Frankreich verfällt vor dem Duell mit Spanien in die schlechten Muster von einst

Donezk (dapd). Der Trainingstag des Franck Ribery dauerte nur wenige Minuten. Als einer der letzten kam er am Mittwoch mit Laufschuhen aus dem Mannschaftshotel, bereits bei den ersten Schritten verzog er das Gesicht. Als er sich zum Spielfeldrand geschleppt hatte, zuppelte sich der Angreifer des FC Bayern den linken Strumpf vom Fuß und streckte den Ärzten die gerötete Ferse hin. Die schickten ihn kurz darauf wieder zurück.

Freunde der Symbolik dürften an diesem Bild des Schmerzes Gefallen gefunden haben. Frankreichs Nationalteam steht im Viertelfinale der EM am Samstag in Donezk gegen Spanien, ja, aber Frankreich geht auch am Stock, irgendwie. Mit nur einem einzigen lasch-lustlosen Auftritt, dem 0:2 gegen Schweden, haben die französischen Fußballer die schöne Aufbruchsstimmung wieder hinfort gefegt. Und nun klopft vor dem wichtigsten Spiel der letzten Jahre die dunkle Vergangenheit an die Tür des französischen Quartiers. Am Donnerstag berichtete „L’Equipe“ groß von den Streitereien in der Kabine beim Spiel gegen Schweden. Titel des Artikels: „Nervenkrise“.

Nicht nur Samir Nasri und Alou Diarra sollen aneinandergeraten sein, sondern auch der frustrierte Rechtsaußen Hartem Ben Arfa und Trainer Laurent Blanc. Ben Arfa soll in der Hitze des Moments sogar seine Abreise vom Team angeboten haben. Blanc bestätigte, dass es in der Kabine „heiß“ gewesen sei, spielte den Vorfall aber herunter. „Das zeigt, dass es eine Reaktion gab – und ein bisschen Elektrizität.“ Mit einer „schönen Dusche“ habe man sich danach wieder abgekühlt, sagte Blanc und lächelte in die Runde. Kaum einer lächelte zurück.

Wenn auch die Vorfälle nicht im Ansatz die Brisanz des „Fiaskos von Knysna“ vor zwei Jahren in Südafrika haben (den auch „L’Equipe“ lostrat), so fürchtet sich Frankreich dennoch vor den „alten Dämonen“, wie es Florent Malouda ausdrückte. Allzu genau wollte er das dann vor den Medien lieber nicht ausführen. „Wir müssen reden und die Raketen wegschmeißen“, sagte er nur.

„Das ist nicht vergleichbar mit Knysna“, versuchte Assistenztrainer Alain Boghossian am Donnerstag die Wogen zu glätten. „Es gab ein paar Wortwechsel, aber das ist normal in einer Kabine. Das Gegenteil wäre unnormal.“ Er hoffe auf einen positiven Effekt der Auseinandersetzungen. Der wird auch nötig sein, wenn die Franzosen gegen den Ersten der Gruppe C am Samstag eine Chance haben wollen. Das spanische Uhrwerk wird nur mit einer geschlossenen Mannschaftsleistung überhaupt aus dem Rhythmus zu bringen sein.

Malouda, der nach dem Spiel gegen Schweden noch wortlos durch die Mixed Zone gerauscht war, hatte am Tag darauf immerhin seine gute Laune wiedergefunden. Lächelnd gab er den Medien seine Antworten und fand sogar etwas Positives daran, dass die Serie von 23 Spielen ohne Niederlage nun vorbei ist: „Vielleicht war es besser, dass sie am Dienstag gerissen ist. Jetzt können wir gegen Spanien eine neue starten.“ Doch die Art und Weise der Niederlage erschreckte auch Malouda: „Alles das aufzugeben, was wir uns seit zwei Jahren erarbeitet haben, war schockierend.“

Frankreichs Equipe hat die Erwartungen wieder auf Null gestellt. Nun bleibt den Spielern vor dem Duell mit den derzeit größten Namen Europas wenig übrig als trotzige Ansagen: „Wir stehen im Viertelfinale. Wir haben nichts zu verlieren“, sagte etwa Laurent Koscielny, der für den gesperrten Philippe Mexes spielen wird.

Nicht alle haben den Glauben verloren. „Ich glaube wirklich, dass Frankreich die Spanier schlagen kann“, twitterte Patrick Vieira. Der Europameister von 2000 muss es wissen.

Schwindelnd schneller Brummkreisel

– Cristiano Ronaldo spielt gegen Holland groß auf und schießt Portugal ins Viertelfinale

Charkiw (dapd). Hollands Nationalspieler schauten etwas verdutzt, als der grüne Schnellzug hinter ihnen vorbeizischte. Einige von ihnen konnten gerade noch ihre Rollkoffer vor dem Umfallen bewahren. Selbst im Gitter-Parcours der Mixed Zone waren die Portugiesen einfach zu schnell unterwegs an diesem Abend. Cristiano Ronaldo kritzelte im Vorbeieilen einem Journalisten noch fix ein Autogramm auf den Zettel, sein Kumpel Nani hielt handgestoppte dreieinhalb Sekunden für ein Erinnerungsfoto – und weg waren sie.

Zuvor hatten die beiden Flinkfüße die Niederländer nach allen Regeln der Kunst überrannt. Ronaldo traf dabei zweimal, seine Elf siegte nach Rückstand noch 2:1 (1:1) und erreichte das EM-Viertelfinale. „Wir mussten unbedingt gewinnen, daher haben wir in der zweiten Hälfte sehr offensiv gespielt. Das hätten wir normalerweise natürlich nicht gemacht“, sagte Hollands Verteidiger Joris Mathijsen. Doch der Erklärungsansatz, das verzweifelte Oranje-Team sei schlicht ausgekontert worden, mündete in eine Sackgasse.

Die mutigen Portugiesen kombinierten sich nach dem unglücklichen Rückstand nach elf Minuten durch Rafael van der Vaarts Schlenzer einfach unbeirrt nach vorne, Ronaldo schien dabei jeden einzelnen seiner Kritiker persönlich an die Wand spielen zu wollen – sehr zur Unbill des bemitleidenswerten Rechtsverteidigers Gregory van der Wiel. Er musste sich bei den ganzen Übersteigern und sonstigen Finten, die auf ihn einsausten, fühlen wie ein rostiger Brummkreisel auf einem Amsterdamer Antiquitätenmarkt. „Zwei Tore, ein Pfostenschuss – Ronaldo hat heute seinen Wert gezeigt“, sagte der Stuttgarter Khalid Boulahrouz, der sich die wilde Hatz des „CR7“ bequem aus der ersten Reihe der Ersatzbank anschauen durfte.

Ronaldos Außenpfostentreffer nur fünf Minuten nach dem Führungstor der Niederländer diente als Symbol für das, was kommen sollte. „Wir haben immer den Glauben, dass es möglich ist, Spiele zu drehen“, sagte Portugals Trainer Paulo Bento. Und genau das tat Cristiano Ronaldo mit seinen ersten beiden Treffern bei diesem Turnier. Hinterher, bei der obligaten Pokalübergabe, beschränkte sich der „Man of the Match“ auf einige Standardfloskeln und dankte „der ganzen Mannschaft, ohne die das nicht möglich gewesen wäre“.

Bentos Elf hatte in der Tat als Mannschaft überzeugt und den Gegner nicht nur spielerisch, sondern auch kämpferisch klar dominiert. „Wir hatten eine Identität, bestimmte Ideen, und die Spieler haben das umgesetzt“, sagte der zufriedene Coach.

Auch sein Kollege war beeindruckt. „Ronaldo hat so viel Kritik nach dem letzten Spiel bekommen, und jetzt ist er zurück“, sagte Bert van Marwijk. „So schnell können sich die Dinge ändern.“ Im wichtigsten Spiel dieser Gruppenphase fand der zuvor Geschmähte zu seiner Führungsrolle – und das Team hielt ihm den Rücken frei. Hollands zwei Topstürmer, Robin van Persie und Klaas-Jan Huntelaar, die erstmals zusammen von Beginn an spielen durften, kamen dagegen inmitten von Einzelkämpfern nie ins Spiel.

Während die Vize-Weltmeister nach drei Niederlagen in den verfrühten Urlaub düsen, treffen die Portugiesen am Donnerstag in Warschau im Viertelfinale auf Tschechien – als Stammgast, denn zum fünften Mal in Folge nehmen sie an der Runde der letzten Acht teil. „Leicht wird das nicht“, sagte Bento: „Wir müssen genauso gut spielen wie heute, um das Halbfinale zu erreichen.“ Die Niederländer hätten ihrerseits einiges dafür gegeben, überhaupt nach vorne blicken zu dürfen.

Die zwei Wahrheiten von Donezk

– Protestgruppe Femen wirft Donezker Polizei Gewaltanwendung vor – Behörden weisen Vorwürfe zurück

Donezk (dapd). Der Polizeichef von Donezk verzog keine Miene. Stoisch nahm Jurij Sednew auf der Pressekonferenz am Samstag die Fragen zum Verhör und zur mutmaßlichen Misshandlung von drei Frauenrechts-Aktivistinnen entgegen. Stoisch gab er seine Antworten. Ja, man habe zwei und später drei Frauen verhört. „Es gab aber zu keiner Zeit Misshandlungen“, sagte Sednew.

Dies hatte zuvor die Organisation Femen erklärt, die im Umfeld der Fußballeuropameisterschaft mit aufsehenerregenden Aktionen für mehr Frauenrechte demonstrieren. Drei Aktivistinnen seien am Freitagabend vor dem EM-Spiel der Ukraine gegen Frankreich in Donezk verschleppt worden. Eine von ihnen sei ins Gesicht geschlagen worden.

Sednew bestätigte auf Nachfrage, dass zwei Frauen verhaftet worden seien, später sei eine dritte auf der Polizeiwache erschienen. „Wir haben sie eingeladen, zu den beiden anderen Mädchen zu stoßen, um ihr zu zeigen, dass wir keinen Druck ausüben“, sagte Sednew. Die mächtigen Schulterklappen seiner blauen Uniform zuckten nur hin und wieder kurz.

Wie lange die Aktivistinnen festgehalten und verhört wurden, wisse er nicht, sagte Sednew lapidar. Nach Darstellung von Femen waren die drei Frauen erst am frühen Samstagmorgen wieder auf freien Fuß gesetzt worden.

Sednew saß einige Stunden später unter dem mächtigen Donezker Stadtwappen, das einen Hammer in einer Faust zeigt, und erzählte die Version der Behörden: Die Polizei sei von einer Frau am Freitagnachmittag in ein McDonald’s-Restaurant in der Innenstadt gerufen worden. Diese habe zuvor eine Unterhaltung zweier weiterer Frauen gehört, die „etwas Schlechtes an der Donbass Arena“ vorgehabt hätten. Die beiden Frauen seien später aufgrund der Beschreibung der Zeugin festgenommen worden.

Als der Polizeichef geendet hatte, meldete sich auch noch der Donezker Bürgermeister Alexander Lukjantschenko zu Wort. Er wolle doch jetzt noch einmal etwas klarstellen: „Die Mädchen in der Donbass-Region sind sowieso viel schöner als diese Mädchen. Ich denke die Lokaljournalisten werden mich unterstützen.“ Ein Raunen ging durch den Saal, einige Anwesende lachten. Die Femen-Aktivistinnen hatten in der Vergangenheit mehrfach mit nacktem Oberkörper für mehr Frauenrechte in der Ukraine protestiert, unter anderem bei der EM-Auslosung im Dezember in der Hauptstadt Kiew.

Nach Darstellung der Verhafteten, die sie auf ihrem Blog livejournal.com veröffentlichten, sei dagegen die Situation auf der Polizeiwache eskaliert, nachdem die Frauen mehrfach nach dem Grund ihrer Verhaftung gefragt, aber keine Antwort erhalten hätten. Ein Polizist soll eine von ihnen ins Gesicht geschlagen haben. Dabei soll folgender Satz gefallen sein: „Janukowitsch ist uns scheißegal. Wir beschützen Rinat.“ Die Aktivistin habe zuvor gefragt, ob die Beamten „Angst um Janukowitsch“ hätten. Multi-Milliardär Rinat Achmetow ist der mächtigste Mann der Stadt und als Eigner des Fußballklubs Schachtjor Donezk auch der Finanzier der Donbass Arena, wo am Freitagabend das EM-Spiel stattfand, in dessen Umfeld offenbar die Protestaktion geplant war.

Seit Beginn der EM-Endrunde werde die Gruppe aus Kiew permanent vom ukrainischen Geheimdienst bewacht, beklagte die Vorsitzende von Femen, Anna Huzol. Außerdem würden Telefone, Handys und die Online-Kommunikation systematisch abgehört.

Die Behörden im östlichsten EM-Austragungsort spielten die Angelegenheit herunter. Es sei alles korrekt zugegangen, sagte Polizeichef Sednew. Bei ihrer Freilassung hätten die Frauen schließlich ein Papier unterschrieben, auf dem sie bestätigten, dass sie nicht misshandelt worden seien.

Slaven Bilic schließt Türkei-Kapitel ab

– Kroatiens Coach und Ivica Olic sind die großen Gewinner der Playoffs

Zagreb (dapd). Am Ende der eiskalten Nacht von Zagreb wurde es dann doch noch feurig. An allen vier Seiten des Stadions Maksimir sprühten die Funken des Feuerwerks, mittendrin sprangen sie im Kreis, die „Vatreni“, wie die kroatischen Fußball-Auswahlspieler genannt werden, was übersetzt passenderweise etwa „die vor Leidenschaft Brennenden“ heißt. Nach dem beherzten Auftritt von Istanbul, der in einen 3:0-Sieg gemündet war, verlief das torlose Rückspiel in der kroatischen Hauptstadt am Dienstagabend bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auch spielerisch eher unterkühlt.

Trainer Slaven Bilic machte das nichts aus, im luftigen Anzug ohne Mantel bewältigte er die 90 Minuten, eifrig in der Coachingzone hin- und herlaufend. Auch die Lauffreude seiner Spieler stimmte erneut, jedenfalls nach zittriger Anfangsphase, weshalb sich die Kroaten völlig verdient für die EM 2012 qualifizierten. „Man hat der Mannschaft am Anfang schon angemerkt, dass wir Respekt vor einem frühen Gegentor hatten, was den Türken noch einmal Leben eingehaucht hätte“, erläuterte Bilic, „deshalb waren alle, die Spieler, ich und der Betreuerstab, sehr angespannt.“

Nach dem Spiel tat Bilic beim Tanz in den EM-Sommer eifrig mit. Der kroatische Trainer darf auch persönlich als Sieger der Neuauflage des Viertelfinales von Wien 2008 (4:2 nach Elfmeterschießen für die Türkei) gelten. „Es ist noch nicht vorbei, der Fußball ist unberechenbar“, hatte der 43-jährige ehemalige Bundesliga-Profi gleich nach dem deutlichen Hinspielsieg gemahnt. Zu früh jubeln, diesen Fehler wollte Bilic keinesfalls wiederholen. Damals, in Wien, war er nach Ivan Klasnics vermeintlichem Siegtor in der 119. Minute prompt auf die Jubeltraube seiner Spieler gesprungen. Doch dann kam Sentürks Ausgleich und das Ausscheiden im Elfmeterschießen. Und Bilic war in der Heimat plötzlich der, der die Mannschaft in ihrem gefährlich frühen Jubel unterstützt hatte.

Von Rache will Bilic nichts wissen

„Diesmal waren wir bis zum Ende konzentriert und haben nicht zugelassen, dass uns die Türkei rausschmeißt wie 2008 in Österreich“, sagte Darijo Srna. Bilic selbst wollte nach dem unfallfrei verlaufenen Rückspiel in Zagreb nichts wissen von einer besonderen Motivation. „2008 ist eine gute Geschichte für die Medien, aber wir wollten uns nur qualifizieren“, sagte der Coach, und etwas Ungeduld schwang in seiner Stimme mit. Schon wieder das leidige Thema! Das Wort „Rache“ habe im Sport keinen Platz, sagte Bilic.

„Heute ist Slaven ein König und wir sind eine Super-Mannschaft, so ist der Fußball“, fasste Bayern-Stürmer Ivica Olic augenzwinkernd die Gesetzmäßigkeiten zusammen und verwies auch auf den bevorstehenden Rauswurf von Bilics vormals hochgelobtem Gegenüber Guus Hiddink.

Großer Gewinner Olic

Neben Bilic ist Olic der große Gewinner dieser Playoffs. Vor mehr als einem Jahr hatte der Langzeitverletzte zuletzt in einer Startformation gestanden, am 9. Oktober 2010 gegen Israel. Und dann wieder in Istanbul, wo er in der zweiten Minute die Führung schoss. Er habe sich in drei Trainingseinheiten mit dem kroatischen Team richtig reingehängt, sagte Olic, und seinen Coach damit beeindruckt. „Dann hat er mir gesagt: ‚Ich muss dich bringen, es ist egal, dass du solange nicht gespielt hast.‘ Natürlich war das auch viel Vertrauen von ihm.“

Der Dauerkämpfer sorgte mit Sturmpartner Mario Mandzukic vom VfL Wolfsburg dafür, dass das türkische Spiel bereits im Aufbau ins Stocken geriet und fuhr im Hin- wie Rückspiel unermüdlich Konter. In der Winterpause wird er Bayern München wohl verlassen, um im EM-Jahr genügend Einsätze zu bekommen.

Bilic kann sich mit seiner Mannschaft nun in Ruhe auf die EM vorbereiten. Sein Stern steigt wieder. Es wird bereits spekuliert, dass er nach dem Euro-Turnier im Sommer zu einem Premier-League-Klub nach England wechselt. Der nächste logische Karriereschritt, auch finanziell. Nach der Niederlage in Griechenland Anfang Oktober, mit der die Kroaten die direkte Qualifikation verspielten, schien er als Nationaltrainer bereits erledigt.

Unbekannt ist derzeit noch, ob sein Trainer als Gitarrist mit seiner Rockband Rawbau erneut einen Turniersong einspielt. So wie 2008, als das eingängige Stück „Vatreno ludilo“ („Feuriger Wahnsinn“) zur inoffiziellen kroatischen EM-Hymne wurde. „Bilic ist ein guter Mann“, sagt der Kioskverkäufer in Zagreb, „aber der Song, naja, der war okay.“ Kritik am Trainer muss man dieser Tage in Kroatiens Hauptstadt diplomatisch formulieren.

Gegen das Trauma Henry

– Irland will in den EM-Playoffs gegen Estland das Handspiel des Franzosen vergessen

Berlin/Tallinn (dapd). Der irische Alptraum besteht aus einem langen Freistoß, einer Ballannahme plus Querpass und einem Abstauber auf der Torlinie. Der Torschütze (William Gallas) wird bald ebenso vergessen sein wie der Freistoßausführende (Florent Malouda). Der Name des Zwischenmannes aber wird wohl auf ewig in den Pubs von Dublin widerhallen. Thierry Henry. Sein Handspiel vor dem 1:1-Ausgleich in der Verlängerung brachte die wackere irische Fußballnation um den Lohn ihrer Mühen, die WM-Teilnahme 2010.

Ziemlich genau zwei Jahre später wollen Irlands Fußballer das Kapitel Henry für sich abschließen. Sie wollen Estland in zwei Playoff-Spielen am Freitag (in Tallinn) und Dienstag (in Dublin) schlagen und an der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine teilnehmen. Es wäre das erste Mal seit 1988, das zweite Mal überhaupt.

„Jeder hat diese Narbe. Die Wunde ist noch da“, sagte Verteidiger Stephen Kelly irischen Medien. „Wenn wir uns jetzt qualifizieren, wird sich das hoffentlich wie ein Pflaster darüberlegen und wir können es vergessen, es wird erledigt sein. Es ist uns frisch im Gedächtnis und wir sind alle sehr darum bemüht, so etwas nicht nochmals geschehen zu lassen.“

„Die Jungs waren sehr aufgebracht“

Irland spielt gegen Estland, aber auch gegen das Trauma Henry. Es wollte nicht in die Dickschädel dieser stolzen Sportsmänner, dass diese offensichtliche, himmelschreiende Ungerechtigkeit unbestraft blieb. „Die Jungs waren darüber damals sehr aufgebracht“, sagt Paul McShane, der damals im Pariser Stade de France eingewechselt wurde. „Hoffentlich haben wir diesmal ein bisschen Glück auf unserer Seite.“

Alles hatten sie damals versucht, doch noch Gerechtigkeit zu erfahren. Zunächst plädierten sie für ein Wiederholungsspiel, später dafür, als 33. Mannschaft für die WM zugelassen zu werden. Doch die FIFA beharrte unerbittlich auf der Tatsachenentscheidung von Schiedsrichter Martin Hansson aus Schweden.

Auch über die erst nachträglich beschlossene Setzliste, die die großen Nationen bevorzugte, protestierten die Iren vor zwei Jahren. Diesmal haben sie selbst von dem Ranking profitiert. Als 13. der UEFA-Rangliste wurden sie der Nummer 37 in Europa zugelost.

Irland ist Favorit – das ist ungewohnt

Das Team von Giovanni Trapattoni ist gegen Estland Favorit, auch weil das Rückspiel in der eigenen Hauptstadt stattfindet. Eine ungewohnte Situation. Schon warnt Keeper Shay Given, der vor zwei Jahren den besten Blick auf Henrys Hand hatte und am vehementesten protestierte, vor ungebührlicher Euphorie: „Unsere Spieler und Fans müssen realistisch bleiben. Wir dürfen uns nicht zu weit aus dem Fenster lehnen“, sagte der 35 Jahre alte Torwart der „Irish Times“, der darauf hinwies, dass die Esten in ihrer Gruppe immerhin Serbien und Slowenien schlugen.

Im Auswärtsspiel sind die Iren dezimiert, die Verletzten John O’Shea, Shane Long und Liam Lawrence fehlen ebenso wie der gesperrte Kevin Doyle und Leon Best. „Wir dürfen keine Angst haben, wir müssen daran glauben und zuversichtlich sein, dass wir diesmal an der Reihe sind. Es ist eine große Chance für uns“, sagte Given.

Wenn er und seine Kollegen sie tatsächlich nutzen, könnte es sein, dass die künftigen Generationen in Dublins Pubs statt über diesen Henry viel lieber über die irischen Heldentaten reden: Wisst ihr noch, damals, in Polen und der Ukraine?

Stadien, Straßen und Hunde

– Wie sich die Ukraine auf die Fußball-EM vorbereitet

Berlin (dapd). In Lwiw wurde vorletzte Woche das letzte der vier ukrainischen EM-Stadien eröffnet. Für den feierlichen Anlass hatten die Veranstalter eine Perle der westlichen Kultur verpflichtet: Die amerikanische Popbardin Anastacia schmetterte ihre größten Hits.

Die Blickrichtung geht gen Westen, sieben Monate vor dem Fußball-Großereignis Europameisterschaft, das die Ukraine zusammen mit Polen ausrichtet. „Es ist ein geopolitisches Projekt“, sagt der ukrainische Turnierdirektor Markijan Lubkiwski, und weist daraufhin, er sehe das schon als früherer Diplomat so: „Ich vergleiche die Rolle der UEFA mit der EU, sie bringt uns näher an Europa.“

Die Offiziellen machen keinen Hehl daraus, dass die Co-Organisation des weltweit zweitgrößten Fußball-Events eine Herkules-Aufgabe ist. „Es ist relativ einfach, eine EM in gut entwickelten Ländern wie Österreich oder der Schweiz zu organisieren“, sagt Lubkiwski. „Für uns ist es eine doppelte Aufgabe. Wir müssen uns auch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ändern.“

Endlich positive Schlagzeilen nach „Verfehlungen“

Sieben Monate vor Turnierbeginn haben die Ukrainer mit der Fertigstellung aller Arenen den wichtigsten Teil der EM-Projekte geschafft – anders als die Polen, die immer noch am Nationalstadion von Warschau werkeln. Das nimmt man weiter östlich gerne zur Kenntnis.

Die Ukraine sorgt endlich einmal für positive Schlagzeilen. In den vergangenen Monaten waren neben den schleppenden Baumaßnahmen hauptsächlich die marodierenden Hooligan-Horden und die bestialische Tötung von Straßenhunden Thema in westlichen Medien. „Wir kämpfen gegen viele Vorurteile, die entstanden sind, ohne dass die Leute selber da waren“, sagt UEFA-Cheforganisator Martin Kallen.

Der Schweizer gibt jedoch offen zu, dass es „Verfehlungen“ gab beim Thema Straßenhunde. Tierschutzverbände hatten darauf hingewiesen, dass streunende Hunde teilweise in mobilen Krematorien lebendig verbrannt würden. Die UEFA hatte ursprünglich die Ukrainer in dieser Frage unterstützt, sogar einen „kleineren Geldbetrag“ überwiesen, wie Kallen sagt. Nur die Art und Weise, wie das Hundeproblem dann vor Ort in Angriff genommen wurde, war dann gar nicht im Sinne des Ausrichters – jede Menge schlechte PR die Folge. Die UEFA habe sich mit allen vier Bürgermeistern und der ukrainischen Regierung in Verbindung gesetzt. „Wir haben auf das Problem hingewiesen, mehr steht nicht in unserer Macht“, sagt Kallen.

Mit manchem muss sich Kallen einfach abfinden. Zum Beispiel damit, dass die Autobahn-Projekte wegen Staats- und Wirtschaftskrise gar nicht erst begonnen wurden. Der EURO-Tourist bereist die Ukraine daher auf „vierspurigen Schnellstraßen“, die lediglich einen neuen Belag bekommen. Die Tausende Kilometer in die östlichen Städte Donezk und Charkiw werden die Fans ohnehin fliegen müssen. Landebahnen und neue Terminals sollen rechtzeitig fertig werden.

„Hooligans werden kein Problem sein“

Kallen muss auch darauf vertrauen, dass hinter den guten Worten mehr steckt als eine Beschwichtigungstaktik. „Hooligans werden kein Problem sein in den ukrainischen Stadien“, sagt etwa Turnierdirektor Lubkiwski. Natürlich gebe es Rivalitäten zwischen den Klubs, „aber wenn es um die Unterstützung der Nationalmannschaft geht, ist die Stimmung freundlich.“ Und wenn doch Übeltäter im kommenden Sommer auf der Bildfläche erscheinen sollten, beinhalte das ab 1. Januar gültige neue Gesetz alles Nötige. „Wir werden bereit sein, falls Hooligans auftauchen.“

In der verbleibenden Zeit wird vor allem „operativ“ getestet. Neu ist in der Ukraine zum Beispiel das hierzulande längst gängige Sicherheitssystem mit privaten Ordnern im Stadion, man sammelt gerade erste Erfahrungen: Bei den Eröffnungsfeiern in Kiew und Lwiw, und nun auch beim Länderspiel gegen Deutschland am Freitag (20.45 Uhr).

Bei manchem können die Organisatoren dann aber wirklich nichts machen. „Wir brauchen ein bisschen Glück mit der Auslosung“, sagt Kallen. Am 2. Dezember in Kiew stellt sich heraus, wie attraktiv die Anreise für die Fangruppen wird. Das benachbarte Russland in einer der beiden Gruppen in der Ukraine, die Deutschland-Gruppe in Polen, Schweden in der Danziger Gruppe C – das wäre Kallens Traumszenario. Dann werden die Fans in Scharen kommen, aus dem Osten wie aus dem Westen.