Der Verlierer

Warum kämpft einer immer weiter, obwohl er einfach nicht gewinnen kann?

Am Tag seines 33. Profikampfes steht Andy Thiele um 4.30 Uhr morgens auf, macht ein paar Liegestütze zum Wachwerden und geht zu Lidl zur Arbeit. Nach einer Acht-Stunden-Schicht fährt er mit dem Regional-Express nach Bernau, einer Kleinstadt nordöstlich von Berlin. Er wird dort an diesem Abend gegen einen Gegner kämpfen, von dem er weiß: Er ist 33 Jahre alt und Palästinenser. Er war angeblich vier Jahre im Gefängnis. Der Gegner kann nicht boxen und wird den Kampf in der zweiten Runde durch Niederschlag gewinnen.

Andy Thiele lässt sich fürs Verlieren bezahlen. Von seinen 32 Kämpfen als Profi gewann er einen. Meist durfte er nicht gewinnen, manchmal wollte er, aber konnte nicht, ein paar Mal fühlte er sich betrogen. Die Manager seiner Gegner kaufen sich die Siege, weil sie das Selbstbewusstsein ihrer Boxer steigern wollen oder um deren Kampfbilanz zu verbessern. Eine perfekte Bilanz ist wichtig, wenn ein Manager einen neuen Boxer aufbauen und vermarkten will.

Die Kampfbilanz von Thiele lautet 1-29-2: 1 Sieg, 2 Unentschieden, 29 Niederlagen.

Warum will ein Mensch ein Boxer werden?

Muhammad Ali wurde ein Boxer, weil er den Jungen verprügeln wollte, der sein Fahrrad gestohlen hatte. Mike Tyson wurde Boxer, weil er der kleine lispelnde Brillenträger war und die älteren Kinder in Brooklyn ihn auslachten. Diesen Männern fehlte etwas im Leben, das spürten sie, und sie wollten wissen, was es ist.

Du fängst mit dem Boxen an, weil du stark sein willst. Du wirst ein Boxer, weil du harte Muskeln willst und die bewundernden Blicke der anderen, denn die verächtlichen kennst du schon. Ein Boxer will sich über seinen Gegner erheben, für den Moment nur, aber der kann lange andauern, wenn der andere am Boden liegt und du über ihm stehst.

Warum wird einer Boxer?

„Ich kriege immer Applaus“, sagt Andy Thiele. „Ich habe fast alles, was man mitbringen muss: Nehmerqualitäten, gute Ausstrahlung.“ Warum gewinne ich nicht?, hat er einmal einen Matchmaker gefragt, so nennt man den Mann, der die Kämpfe organisiert. Andy, sagte der Matchmaker, kein Problem, leg das Geld auf den Tisch, verzichte auf deine Gage, dann gewinnst du.

Andy Thiele boxt in einem anderen Teil der Welt als die Brüder Klitschko, er kämpft nicht in Arenen oder im Spätprogramm von RTL. Wenn Thiele boxt, ist der Glamour weit weg. Sein Ring steht in Stadthallen und Autohäusern. Ruhm gibt es hier nicht, dafür unsaubere Schläge und, wenn du Glück hast, ein johlendes Publikum. Niemand fragt Thiele nach einem Autogramm.

Warum ist Thiele ein Boxer?

„Das Geld, klar“, sagt er, 100 Euro pro angesetzte Runde, das ist meist sein Preis, macht 400, manchmal 1200 Euro für einen Abend. „Und es ist immer ein Training. Ein Kampf ist immer ein Training.“

Thiele kämpft in Bernau an einem Samstagabend. Dort, in einer Mehrzweckhalle, werden die Zuschauer seine 30. Niederlage sehen. Er zieht die Schultern hoch, als er davon erzählt. Es wirkt wie eine Geste, die ihn das Boxen über die Jahre gelehrt hat.

Andy Thiele trägt eine schmale Brille, wenn er nicht im Ring steht, seine Haare sind nach oben gegelt. Sein Lächeln gibt eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen frei. Thiele lächelt oft. Die Augenhöhlen sind ein bisschen geschwollen, sonst erinnert nichts an das Gesicht eines Boxers.

Der erste schwere Knockout erwischte ihn in seinem dritten Kampf. Ein dummer K.o., sagt er heute, Lucky Punch. „Er trifft mich auf die Schläfe, ich kippe nach vorne und versuche noch, es aussehen zu lassen, als ob ich gestolpert bin.“ Der Ringarzt war gleich da. Komm, wir stehen auf, sagte der Arzt. Nee, lass mal liegenbleiben, sagte Thiele.

„Theoretisch habe ich immer eine Chance“, sagt Andy Thiele. „Was will er machen, wenn ich ihn umhaue?“ Er hat noch nie einen umgehauen.

Einmal übertrug der Fernsehsender Eurosport einen seiner Kämpfe. „Schon bewundernswert, wie Andy Thiele da immer noch mitmischt“, sagte der Kommentator. „Er hat Schwierigkeiten, nasse Papiertüten durchzuschlagen, aber: Er steht.“

Mensch Andy, sagten die Freunde, raste doch mal richtig aus! „Mein Problem ist mein Kopf“, sagt Thiele. „Ich denke zu viel nach. Ich will dem Gegner nicht weh tun.“

Thiele ist meist alleine unterwegs, beim Training, beim Kampf. In seiner Ecke steht dann ein Betreuer des gegnerischen Teams. Manchmal scheint es so, als wäre er auch der einzige, der an den Boxer in sich glaubt. Thieles Freundin sagt über einen Abend, an dem sie ihn kämpfen sah: „Als ob man in ein Flugzeug steigt und hoffen muss, dass man nicht abstürzt. Irgendwann ist er dann runtergegangen.“ Es mache keinen Sinn mehr, seit Jahren schon nicht, sagt sie, „aber damit muss er sich erst abfinden.“

Der Matchmaker, ein kleiner Deutsch-Türke mit Schnurrbart, holt Thiele in Bernau am Bahnhof ab. Der Gegner und sein Betreuer warten im Auto. Sein Gegner ist ein hagerer Typ mit rasiertem Kopf und Buckel, er hat die Augen eines ängstlichen Raubvogels. Er schaut sich ständig um wie einer, der nicht mal der eigenen Mutter vertraut. Thiele hat vor fünf Wochen gegen ihn Sparring gemacht und nach ein paar Runden den Mundschutz rausgenommen und weitergeboxt, um dem Gegner zu erklären, wie der es besser machen könnte.

Auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums stehen sich Thiele und sein Gegner an diesem Abend zum ersten Mal wieder gegenüber. Es geht um das Drehbuch. „Ich tue dir nicht weh“, sagt Thieles Gegner, „ich schlag nur auf den Körper.“

„Du kannst mir gar nicht weh tun“, sagt Thiele.

Ein paar Minuten später hat Thiele drei Hundert-Euro-Scheine in der Hosentasche. „Das macht echt den Sport kaputt“, sagt er leise. „Aber ich mach ja mit.“

Ein genaues Drehbuch abzusprechen, zweite Runde, Körpertreffer, das hat es selbst in Thieles Laufbahn selten gegeben. Thiele sagt: „Wer mich nicht klar und deutlich schlägt, der hat im Profiboxen nichts verloren.“ In manchen Momenten wirkt er so, als würde er sich selbst nicht verstehen.

Die Mehrzweckhalle in Bernau liegt in einem Neubaugebiet, gegenüber ist das Jobcenter. Thiele trägt eine Sporttasche über seiner Schulter und eine Lidl-Tüte in der Hand. Er hat sich auf der Arbeit ein Oktoberfest-Outfit gekauft, für seine Geburtstagsparty. Thiele wird in ein paar Wochen 30.

„Ah, die Tschechen-Connection ist auch schon da“, sagt Thiele und deutet auf einen silbernen Minivan mit Dachlader: „Czech Boxing Team“, steht auf der Tür. Die Tschechen, sagt Thiele, kommen, das Auto voll, über die Grenze, legen sich für ein paar Hundert Euro im Ring hin und fahren dann wieder zurück. „Das hat mit Boxen nicht zu tun“, sagt Thiele. „Die stehen nur in Angsthaltung da. Da siehst du nicht eine Kombination. Bei mir sieht man wenigstens, dass ich eigentlich boxen kann.“

In der Nacht hat Andy Thiele vom Kampf geträumt. Er hat den Araber umgehauen, entgegen der Absprache, und dann hat er ihm die Geldscheine auf den Bauch geschmissen. „Das müsste ich echt bringen.“ Thiele lacht. „Aber wer weiß, was die dann abziehen.“

Auf dem Weg zur Halle ruft Verena an. „Nein, Schatz, wirklich… Du brauchst für den Käse nicht extra kommen… Halb neun bin ich spätestens im Ring, und zwei Minuten später bin ich wieder raus… Ach, nein. Das ist doch ein Drehbuch… Alles gut. Der Typ hat mehr Schiss als ich. Wirklich.“

Dass ihr Freund sich verkaufe, das gefalle ihr nicht, sagte Verena vor dem Kampf, als Thiele nicht dabei war. „Warum soll er weiter seine Gesundheit aufs Spiel setzen? Wie bei diesem bösen Kampf damals.“

Am 17. Juni 2010 strahlte die Sonne über Kiel. Eine Open-Air-Veranstaltung. Andy Thiele boxte im Hauptkampf gegen Hamid Rahimi. Zwölf Runden, ein Intercontinental-Titel im Mittelgewicht des kleinen Verbandes „Global Boxing Council“.

Es gibt ein Video bei YouTube, es heißt „Hamid Rahimi Titelkampf“. Man erfährt in dem Video nichts davon, dass Thiele bis eine Woche vor dem Kampf einen Gips um die Hand trug, dass er kaum trainiert hatte. Was man sieht: wie Rahimi in der ersten Runde mit Innenhänden auf Thiele einschlägt, mit unsauberen Kopfhaken, auch dann noch, als der sich wegdreht. Thiele bleibt irgendwie stehen, erholt sich wieder, Rahimi wird müde, es geht bis in die elfte Runde. Elf Runden Boxen ohne Vorbereitung. „Da hatte ich echt Glück“, sagt Andy Thiele.

Das Ende des Videos guckt er sich nie an. Rahimi drischt auf ihn ein, Thiele bricht zusammen, sein Betreuer führt ihn zum Hocker in der Ringecke wie einen Besoffenen. Die Zuschauer johlen. Rahimi lässt sich feiern. Dann schaut er rüber zu Thiele und ruft: „Hey, hey, hol mal einer den Rettungswagen!“

Ein Riss im Schädel, eine Einblutung ins Gehirn, das ist die Diagnose. Die Ärzte verlegen Thiele auf die Intensivstation. Nach drei Tagen entlässt er sich selbst.

Wochenlang schluckt er zu jeder Mahlzeit Schmerzmittel, drei Mal täglich 800 Milligramm Ibuprofen, und hat trotzdem noch Kopfschmerzen. Fünf Monate später steht Thiele wieder im Ring, Autohaus König, Berlin-Tempelhof, technischer K. o. in der 3. Runde. „Ich hatte das Geld damals nötig“, sagt er.

Bernau, eine halbe Stunde vor dem Kampf. Thiele packt in der Kabine seine Handschuhe aus. Hose und Schuhe hat er nicht dabei. „Nicht gefunden“, sagt er. Als hätte er das Boxen teilweise schon hinter sich gelassen.

Der Matchmaker leiht ihm ein schwarzes Paar Schuhe, Größe 42, eine Nummer zu klein. Thiele zeigt den anderen seine Handschuhe. „Aus Lugano“, sagt er. Bei einem Titelkampf dürfen auch die Verlierer die Ausrüstung behalten. „Lugano, supertoll da“, sagt Thiele, „die Natur, der See, die ganzen Ferraris.“ Das war sein erster Zwölf-Runden-Kampf damals, eine knappe Punktniederlage. „Hat den Kampf nicht widergespiegelt, das Ergebnis“, sagt Thiele. „Ein guter Kampf. Ich war gekaufter Gastgegner.“

Die Leone-Handschuhe sind weiß, schlank und gut verarbeitet, die italienische Flagge ist aufs Handgelenk genäht. Einer der anderen Boxer, ein junger Türke, streift sich den rechten über und schlägt sich damit in die flache Hand. „Die sitzen richtig bombe, Alter!“ – „Gegen wen boxt du?“, fragt Thiele ihn. – „Tschechen.“ – „Hau ihn nicht gleich um. Probier was aus.“ – „Krass, wie gut die sitzen, die Dinger. Leihst du mir die?“ – „Wann bist du dran? Siebter Kampf? Da bin ich schon weg.“ Thiele dreht den Kopf zur Decke. „Tscheche, Tscheche“, sagt er. „Ich will auch mal gegen einen Tschechen boxen. Aber die wollen alle nicht.“

„Kein Problem“, sagt der Betreuer seines Gegners und reibt Daumen an Zeigefinger. „Gar kein Problem. Hängt nur vom Geld ab.“

Kann man auf einen gekauften Sieg stolz sein? Und wichtiger noch: Kann man stolz sein, wenn man weiß, dass man verliert? Und wie man verliert? Es ist diese Frage, die sich Andy Thiele an diesem Wochenende immer wieder stellt, manchmal auch laut. Der Gedanke arbeitet in ihm.

Zwei Stunden vor seinem Kampf sitzt er beim Griechen, Restaurant Athos, ein paar Schritte von der Halle entfernt, vor sich auf dem Tisch steht ein Kräutertee. Thiele erzählt von den Anfängen, von vielen Schulhof-Prügeleien, der frühen Scheidung der Eltern. „Mein Vater hat geboxt“, sagt Thiele. Der Vater verließ die Familie, als Andy klein war. Die Mutter verbot ihrem Sohn das Boxen.

Thiele erlebte viel Gewalt als Kind. Er will nicht, dass geschrieben steht, wer ihn schlug. Einmal musste er ins Krankenhaus zur Behandlung.

Er kam auf ein Berufsschul-Internat in Schönebeck bei Magdeburg. Er war ein schmaler Junge mit wenig Selbstbewusstsein. Ein Opfer. Er sah den Aushang vom Boxverein. So oder so ähnlich beginnen die Geschichten vieler großen Boxer, und eben auch die Geschichten der Verlierer.

„Ich mag das Gefühl beim Boxen, die Halle klatscht, das sind Leute, die dich gar nicht kennen“, sagt Andy Thiele. „Das ganze Feeling. Das Taktieren im Ring. Das ist unbeschreiblich. Ich will auch was zeigen.“ Thiele versteht etwas vom Boxen, er kann lange über verschiedene Ring-Strategien reden, er steht nachts auf, weil er sich Kämpfe aus den USA anschauen will. Als er in Bernau beim Griechen sitzt und erzählt, mit strahlenden Augen, wird klar, er liebt das Boxen. Und eine Frage wird immer größer: Warum betrügt er diesen Sport?

Thiele erinnert sich an das Gefühl des Sieges. 31. Mai 2008, Halle, Sachsen-Anhalt, so steht es in der Statistik, ein grünes W dahinter, „Win“. Punktsieg, vier Runden. Ein ehrlicher Erfolg, sagt Thiele. Es fühlte sich gut an. Würde er gerne mal sehen, den Kampf, aber es hat damals keiner mitgefilmt.

Thiele redet und redet. Er spricht von einem Fußballspiel, bei dem er mitspielte. 0:7 stand es gegen Borussia Genthin, Thieles Mitspieler ließen die Köpfe hängen. Nur Thiele lief immer weiter, verzweifelt, wütend. Am Ende schoss er das 1:7.

Es sind nur noch ein paar Minuten, bis es losgeht in Bernau. In der engen Kabine reibt sich einer die Arme mit scharfem Balsam ein. Thieles Gegner, Rundrücken, Angstaugen, läuft zwischen den Bänken auf und ab, anderthalb Schritte hin, anderthalb zurück. Thiele wirkt ruhig, wie ein Mann, der einen Entschluss gefasst hat und weiß, dass es der richtige ist.

Er bekommt eine SMS von Verena: „Kannst du mir bitte schreiben, wenn es vorbei ist?“

Der Ansager trägt Smoking und Lesebrille. „Making his way to the Red Corner!“, ruft er ins Mikrofon. „Welcome, Andy Thiele!“ Er trägt ein graues Tanktop über der geliehenen Hose und läuft quer durch die Halle zum Ring. Vom Band singt Donna Lewis „I love you, always forever“. Ein paar Sponsoren-Plakate hängen an der Wand: Toom Baumarkt, McDonald’s, Zweirad-Spezialist, Zahnklinik Bernau, Boxen stoppt Gewalt. Dann marschiert Thieles Gegner ein, zu schweren Riffs und Bässen. Die Halle ist fast leer, keine 100 Leute sind da, kaum jemand klatscht.

Gong. Die beiden Boxer bewegen sich umeinander. Der Gegner versucht eine Links-Rechts-Kombination zum Kopf, aber seine Beine machen nicht mit. Dann landet ein sanfter linker Haken auf Thieles Körper. Thiele kniet sich hin und verzieht das Gesicht. Der Ringrichter zählt ihn an.

Thiele geht noch vier weitere Male zu Boden, ohne einmal hart getroffen worden zu sein. Nach 1:17 Minute in der zweiten Runde ist Schluss. Der Ringrichter hebt den Arm seines Gegners. Der schaut nach links und rechts, aus den Augenwinkeln, wie einer, der gerade aus dem Supermarkt kommt, die Arme voll geklauter Waren.

„Sah gut aus“, sagt der Betreuer von Thieles Gegner auf dem Weg in die Kabine. „Aber warum lässt du dich das dritte Mal anzählen? Den hätte er da schon abbrechen müssen, normal.“

„Ich hoffe“, sagt Thiele, nachdem er geduscht hat, „man hat wenigstens gesehen, dass ich ihm überlegen war.“ Dann schüttelt er den Kopf. „Schade für den Sport.“

Durch die Dunkelheit läuft Andy Thiele die Hauptstraße entlang zum Bahnhof Bernau. Die weißen Leone-Handschuhe hat er dem jungen Türken gegeben, für seinen Kampf gegen den Tschechen. „Die gibt er mir wieder“, sagt Thiele. Ein Trabbi-Cabrio fährt vorbei und verschwindet hinter der nächsten Ecke. Dann hört man nur noch den Atem des Kämpfers in der Nachtluft.

Warum wird ein Mensch ein Boxer?

Weil er gewinnen will. Aber auch weil er wissen will, wer er ist. Im Ring gibt es keine Ausreden. Dort musst du zeigen, aus was du gemacht bist.

Thiele hat den Boxsport verraten durch seine gekauften Niederlagen. Und wer ihm an diesem Abend in Bernau in die Augen schaut, sieht, dass er selbst am meisten darunter leidet.

Aber es gibt auch die Kämpfe, die Thiele gewinnen will und in denen er es versucht. Kämpfe wie den in Kiel gegen Hamid Rahimi, der ihm mit seinen Fäusten den Schädel brach. Im Video, das den Kampf zeigt, gibt es eine Szene, die vielleicht ein wenig darüber verrät, warum Thiele sich dieses Leben antut. Ganz am Ende steht Rahimi mit dem Ringrichter in der Mitte des Rings und ein Sprecher ruft ihn als Sieger aus. Dann ruft der Ringsprecher: „Sehr verehrte Damen und Herren, ich bitte auch kräftig um Applaus für Andy Thiele.“ Die Zuschauer klatschen. Für sie ist auch der Verlierer ein Sieger, weil er Mut gezeigt hat und Charakter.

Im Hintergrund des Videos, in der Ringecke, in sich versunken, unfähig aufzustehen, sitzt Thiele, hebt mit gesenktem Kopf die Hände nach oben und applaudiert sich selbst. Er hat standgehalten.

Thiele weiß, egal wie oft er auf dem Ringboden lag, gebrochen hat ihn keiner. Er weiß, wer er ist. Und an diesem Abend, so wirkt es, hat er gelernt, wer er nicht sein will.

Er geht still die Straße entlang, die nach Hause führt, aus dem Dunkel tauchen die Lichter des Bahnhofs auf. Er sagt: „Jetzt ist wirklich Feierabend.“

Zwei Wochen später schreibt Andy Thiele eine SMS. Es geht um den Abend in Bernau. In der Nachricht steht nur ein Satz: „Das war mein letzter Kampf.“

Ein halbes Jahr später steht ein weiterer Kampf in seiner Bilanz. Abbruch in der zweiten Runde. Ein alter Kumpel brauchte einen Sieg.

(erschienen in „Knockout: Die 20 besten Geschichten vom Boxen“, Hrsg.: Takis Würger, Ankerherz, Hamburg 2015)

Mützen und Glatzen

– Zum Kampfabend in Neukölln kommen nicht nur Eingeweihte, sondern auch Szenemenschen – auf der Suche nach Härte und Helden im „Huxley’s“

Keine Stunde mehr bis zum Kampf, und Ivan hat ein Problem. Das verdammte Antibiotikum! Ivan hält sich die offene Hand vor den Hals. „So dick war der. Mandelentzündung. Konnte bis vor kurzem kaum schlucken.“ Zwei Wochen kein Training, den Körper voll mit Arznei. So soll er gleich in den Ring steigen, gegen einen kurz geschorenen Fighter mit grimmigem Van-Damme-Blick.

Warum macht der das? Das ist die eine Frage, die sich stellt. Wer schaut sich das an, das ist die andere. Aber eins nach dem anderen. Ivan, 28, gebürtiger Russe, mit 16 nach Deutschland, KfZ-Mechaniker, siebenjähriger Sohn, spricht mit ruhiger Stimme. Zur Begrüßung gibt er die Rechte und legt die Linke noch sanft oben auf den Handrücken. Auf der Straße würde man ihn mit seiner dünnrandigen Brille nie für einen Boxer halten. Seine Ringbilanz: Zwei Niederlagen. „Aber das waren beides gute Kämpfe“, sagt er, Lächeln, glänzende Augen. Er sagt: „Wenn das Publikum danach aufsteht und dir applaudiert…“

Um die 500 Leute dürften es sein im „Huxley’s“ in Neukölln. Sonst spielen hier Indie-Bands. Heute aber: „Heroes Fight Night“, organisiert vom Ringside Gym Berlin. Das Publikum sieht erst mal szenetypisch aus. Die Schlange vor dem Klo hat ein breites Kreuz. Hier haben die Pullis Kapuzen und die Hosen viele Taschen.

Zu sehen aber auch: Parkas. Knallenge Jeans. Und, vor allem, Mützen. Sind also auch mit dabei: Die bärtigen Kiezschlümpfe. Ist schon mal interessant. Die Macbook-Generation entdeckt ja schon seit einer Weile die Gyms der Stadt für sich, trommelt unter dem Schlagwort „Freizeitboxen“ auf Sandsäcke ein.

Im „Huxley’s“ sind vor allem Kämpfe im Thaiboxen und im K-1 zu sehen, einer Kickbox-Variante. Man schlägt und tritt sich also, kurz gesagt. Muay Thai ist in Thailand Nationalsport, dort fast mehr Zeremonie und Tanz als Kampf. Auch hier in Berlin-Neukölln ist das wippende Ritual vor Beginn obligatorisch. Während der Runden greller Sound, klingt wie Schlangenbeschwörer-Musik. In der Luft der scharfe Geruch des Körperöls. Schienbeintritte und Drehschläge sind erlaubt, dennoch dauert es lange bis zur ersten blutigen Nase. „Ihh, ich kann da nicht hinsehen“, sagt leise jemand auf den Stehplätzen. Die meisten schweigen.

Brutaler wird es dann beim einzigen „Mixed Martial Arts“-Duell des Abends. Im MMA kehrt die Szene zu ihren Wurzeln zurück, es wird so unerbittlich gekämpft wie vor 2.500 Jahren. „Ultimate Fighting“ nennen sie das. Die Handschuhe sind ein Witz, polstern kaum die Knöchel. Erlaubt ist fast alles, auch Schläge gegen am Boden Liegende. Führende deutsche Sportpolitiker verweigern die Anerkennung als Sport, TV-Übertragungen sind in Deutschland verboten. Kämpfe enden praktisch immer vorzeitiig. So auch hier. Keine 30 Sekunden sind vergangen, da liegt der eine zuckend am Boden. Mit einem Würgegriff hat ihm sein Gegner den Hals zugedrückt, bis zur Ohnmacht.

Wer nach Klischees über die Szene sucht, wird auch an diesem Abend fündig. Haare hat man in manchen Teams eher keine, dafür umso mehr Tattoos. Oben im Ring bearbeitet gerade ein glatzköpfiger Kämpfer, „102 austrainierte Kilo“, wie der Hallensprecher stolz ausruft, einen 124 Kilogramm schweren Tschechen, der immer wieder wie ein Wolf knurrt.

Und dann klettert Ivan in den Ring, Dreitagebart, pechschwarze Haare, vorher hat er noch beschwörend mit den Handschuhen über die Ringseile gestrichen. „Applaus für Ivan Stafitshuck!“ Er ist jetzt ein anderer, der sanfte Blick ist weg, die Brauen tief, die Augen starr zu Boden. Volle Konzentration. Adrenalin frisst Antibiotikum. Ivan kämpft gut, er ist entschlossen und zäh, steckt die Tritte seines Gegners weg, lässt sich nicht in die Ecke drängen. Er hat schon immer gekämpft, hat er vorher noch gesagt, „damals in Russland, da war das überlebenswichtig.“ Man merkt jetzt, was er meint.

Nach dem letzten Gong reißt Ivan die Arme schräg nach oben, er sieht jetzt tatsächlich aus wie die ewige Kämpfer-Ikone Rocky hoch oben auf seinen Museumsstufen. Ganz oben zu sein, der Held für einen Abend, für einen Moment, darum geht es dann wohl. Großer Applaus. Ivan hat endlich einen Kampf gewonnen.

An der Bar ordert eine junge Frau Bier und Schnaps. Eher Indie, eher Kiez, auch wenn sie keine Mütze trägt. Sie wippt im Takt der Elektrobässe. Gute Laune, unverkennbar. Und, wie ist es so? „Am Anfang war es noch ein bisschen lahm von der Crowd her, aber jetzt geht es ganz gut ab.“ Die Klitschkos schaue sie ab und an, aber das hier ist ihr erster Kampfabend. Gefällt ihr gut. „Der Kampf Mann gegen Mann, ein bisschen auch die Brutalität, klar. Und das Event, diese Energie der Masse.“ Seit der Fußball-WM 2006 suche sie die immer wieder. Auch das Boxen hat also seine Eventfans.

Ganz hinten im Saal steht Ivan. Der Rocky von Neukölln hat gleich zwei Adrians mitgebracht. Die Mutter seines Sohns hat ebenso mitgefiebert wie eine weitere Ex-Freundin. Eine aktuelle gibt es nicht, stellt Ivan klar, „sonst könnte ich nicht so viel trainieren“. Lachender, erleichterter Kämpfer. Und oben, zwischen den Seilen, steht schon der nächste Kurzzeitheld, funkelnder Pokal, Schweißglänzen, Siegerfoto. Auf seiner Hose steht „Tiger“.

„Der Gewinner wäre der Verlierer“

– Wladimir Klitschko über Ali, Messi und das Schwimmen

Berlin (dapd). Am 10. November verteidigt Wladimir Klitschko in Hamburg seine Schwergewichtstitel gegen Mariusz Wach aus Polen. Im Exklusiv-Interview mit dapd-Korrespondent Johannes Ehrmann erklärt der 36-jährige Boxer, warum er St.-Pauli-Fan ist, im Training am liebsten schwimmt und Ali für ihn der „Größte“ ist.

dapd: Wladimir Klitschko, Sie starten Anfang Oktober in die Vorbereitung auf Ihren WM-Kampf gegen Mariusz Wach am 10. November. Was ist die schlimmste Übung im Trainingslager?

Wladimir Klitschko: Schwimmen. Es ist noch anstrengender als Boxen. Ich schwimme zweimal die Woche, sehr schnell, Sprint, für die Kondition.

dapd: Welches Übung gefällt Ihnen am besten?

Klitschko: Auch Schwimmen. Es ist am schwierigsten und am schönsten, weil du versuchst, die Technik zu meistern, zu gleiten. Es geht nach Zeit, dazwischen kurze Pausen, eine Minute, wie im Kampf. Immer schneller zu werden, ist die Herausforderung, die ich mag. Und natürlich Sparring. Es macht Spaß, draufzuhauen (lacht). Es ist spannend, man läuft Gefahr, getroffen zu werden. Man hat viel Adrenalin, es ist wie ein kleiner Kampf.

dapd: Welche Schlagzeile werden wir am Tag nach Ihrem nächsten Kampf in der Zeitung lesen?

Klitschko: Ich bin kein Nostradamus, daher weiß ich das nicht genau. Mein Ziel: Den Kampf trotz der Größe meines Gegners (2,02 Meter, Anm. d. Red.) so klar zu dominieren, dass ich ihn am Ende ausknocken kann.

dapd: Viele sagen, das Schwergewicht sei zu langweilig. Sind die Klitschkos zu stark für das Schwergewicht oder ist das Schwergewicht zu schwach für die Klitschkos?

Klitschko: Das Dilemma wird sich auflösen, wenn wir zurückgetreten sind.

dapd: Mike Tyson sagte kürzlich, er hätte keine Chance gegen Muhammad Ali gehabt. Hätten Sie Ali in seiner besten Zeit geschlagen?

Klitschko: Auf keinen Fall. Ali ist eine Legende, eine Ikone. Ali ist ‚the greatest of all time‘. Ich verstehe Tysons Aussage, es ist genau die richtige, und ich respektiere ihn jetzt umso mehr. Ich kann mich nicht hinstellen und behaupten, ich hätte Joe Louis geschlagen oder Schmeling. Man muss die Champions mit Respekt behandeln und sie in ihrer Zeit lassen.

dapd: Was bewundern Sie besonders an Ali?

Klitschko: Dass er in den Zeiten gelebt hat, in der sich die Welt wahnsinnig verändert hat. Es ging um den Krieg in Vietnam, und er sagte ‚Nein‘, als ganz Amerika dafür war. Das war sehr provokant. Für alles, was er außerhalb des Rings gemacht hat, gegen Rassismus, für die Schwarzenbewegung. Man muss wirklich ‚cojones‘ haben, um das durchzuziehen.

dapd: Was müsste passieren, dass Sie doch noch mal gegen Ihren Bruder Witali in den Ring steigen?

Klitschko: Der Gewinner wäre der Verlierer. Und keiner von uns will das sein. Außerdem würde unsere Mutter das nicht überleben. Garantiert nicht.

dapd: Im Ring: lieber rote oder lieber blaue Ecke?

Klitschko: Eigentlich egal, aber die rote Ecke gehört dem Champion, also ist die Antwort klar.

dapd: K.o. in der ersten oder in der zwölften Runde?

Klitschko: Beides ist gut. Eddie Chambers habe ich in den letzten Sekunden in der Zwölften ausgeknockt. Und bei Witali gab es K.o. in der ersten Runde gegen Odlanier Solis in Köln. Beides ist spannend.

dapd: Milz- oder Leberhaken?

Klitschko: Der Leberhaken ist ganz schwer zu landen, aber wenn er klappt… (lächelt)

dapd: Nach der Karriere: Penthouse oder Bauernhof?

Klitschko: Jetzt Penthouse, danach mal sehen (überlegt). Man sagt, es zieht die Menschen im Alter aufs Land. Wichtig ist vor allem, dass man auf dem Land ist und nicht darunter und die Blumen hochdrückt… (lacht)

dapd: Wie wird der Titel Ihrer Autobiografie lauten?

Klitschko: „Klitschko“. Das reicht.

dapd: Boxen Sie noch mit 40 Jahren wie Ihr Bruder?

Klitschko: Ich habe einen Traum: Noch eine Teilnahme an den Olympischen Spielen. Beim nächsten Mal bin ich 40, genau an der erlaubten Altersgrenze.

dapd: Boxen Sie noch mit 45 wie George Foreman?

Klitschko: Ich hoffe nicht. (Kurze Pause) Ich hoffe, ich muss nicht.

dapd: Fußball: HSV oder St. Pauli?

Klitschko: St. Pauli, definitiv. Egal ob sie gewinnen oder verlieren, sie freuen sich, dabei zu sein. Beim HSV sind alle jedes Mal bitter enttäuscht, wenn er verliert. St. Pauli ist ein Volksverein.

dapd: Dortmund oder Bayern?

Klitschko: Bayern.

dapd: Messi oder Ronaldo?

Klitschko: Messi. Weil er der Underdog ist, der sich hochgekämpft hat.

dapd: Wenn Sie spielen: Stürmer oder Libero?

Klitschko: Torwart. Er ist der wichtigste Mann auf dem Feld.

Die Rückkehr des Königs

– Arthur Abraham ist nach überzeugender Leistung erneut Boxweltmeister

Berlin (dapd). Während der neue Weltmeister Arthur Abraham hoch oben auf den Ringseilen stolz seinen funkelnden WM-Gürtel präsentierte, mühte sich sein Promoter abseits des Geschehens um Fassung. Ja, er sei sehr nervös gewesen, nervöser noch als gewöhnlich, gestand Wilfried Sauerland mit belegter Stimme, und zwei kleine Schweißtropfen platschten ihm wie zur Bestätigung aufs Revers. „Erst ab der fünften Runde habe ich mich etwas zurückgelehnt, weil ich merkte, dass Arthur das Ding in der Tasche hat.“

Abraham, 32 Jahre alt, ist seit Samstagabend Boxweltmeister im Supermittelgewicht. Nach teils desaströsen Erfahrungen in dieser Gewichtsklasse hat der ehemalige Mittelgewichts-Champion sich selbst und sein Umfeld versöhnt. „Wir waren sehr weit unten, und heute Abend sind wir wieder ganz, ganz oben“, schwärmte Manager Kalle Sauerland, der Sohn des Promoters. „Die letzten beiden Jahre waren eine harte Zeit, ich habe viele Tiefschläge erlebt“, sagte Abraham. „Jetzt bin ich glücklich.“ Arthur Abraham hat der Last der Erwartung an diesem Abend in Berlin gegen den zähen Robert Stieglitz standgehalten und einstimmig und eindeutig nach Punkten gewonnen.

„Wenn das anders gelaufen wäre heute, ich weiß nicht, wie ich aus dem Tief wieder rausgekommen wäre“, gab sein Trainer Ulli Wegner unumwunden zu. „Arthur hat heute die taktische Linie verfolgt, die wir festgelegt hatten“, lobte der Coach. „Wenn er das macht, kann bei ihm nichts schiefgehen.“

Abraham hatte sich, Teil eins der Taktik, gleich in der ersten Runde mit mutigen Angriffen Respekt verschafft. Stieglitz versuchte mit- und zurückzuschlagen, aber er bekam zunehmend Respekt vor den wuchtigen Haken seines Gegners, er lief ihm auch zunehmend in Konter. Abraham startete außerdem, dies Teil zwei des Schlachtplans, zur Rundenmitte stets eine kleine bis mittelgroße Offensive. Zweite Rundenhälfte gewinnen, beeindruckende Schläge landen, das bedeutet bei den Ringrichtern ja meist: Ganze Runde gewonnen. „Ja, genau das haben wir trainiert“, sagte Wegner.

„Für mich haben Kleinigkeiten den Punktsieg ausgemacht“, sagte Trainer Dirk Dzemski stellvertretend für seinen Schützling, dessen tiefe Cuts nach dem Kampf noch versorgt werden mussten. „Ab der siebten Runde hat er auf dem linken Auge nichts mehr gesehen.“ Am Sieg Abrahams gebe es nichts zu rütteln, sagte er weiter.

Man konnte hinterher mutmaßen, dass Stieglitz schon beim Einmarsch klar wurde, dass der ganze Abend eine Nummer zu groß für ihn war. Die Arena stand klar auf Seite Abrahams, der Magdeburger aus dem kleinen SES-Stall wirkte nicht nur wegen des Einmarsch-Schlagers von DJ Ötzi ein wenig deplatziert in der weiten Glitzerwelt der Hauptstadt, in deren größter, modernster Halle geboxt wurde. Es muss auch dem 31-Jährigen daher früh klar geworden sein, dass das kein Abend war, der auf eine Titelverteidigung ausgelegt war, sondern auf eine Titeleroberung.

„Robert wurde auf keinen Fall deklassiert“, wollte Promoter Ulf Steinforth klargestellt wissen, als zu später Stunde um die Ausdeutung der Niederlage gefeilscht wurde. Nach einigen Zwischenkämpfen soll er ja vertragsgemäß die Revanche gegen Abraham erhalten.

Dieser wiederum soll zunächst am 15. Dezember in Nürnberg boxen. Ob der Gegner dort eventuell Felix Sturm lautet, der sich vor dem Kampf offensiv ins Spiel gebracht hatte, blieb offen. „Naja, er wird sich das heute angeschaut haben“, sagte Kalle Sauerland mit leicht hämischem Blick, „und jetzt wird er sich das sicher noch mal überlegen.“

Groß frisst klein

– Witali Klitschko entledigt sich in Tomasz Adamek eines weiteren Herausforderers

Breslau (dapd). Hinterher war es fast noch am beschwerlichsten. Als sein Bruder Wladimir gerade behände über die Ringseile sprang, ging der Ältere der Klitschko-Brüder der Fron des Siegers nach: Noch ein Interview musste gegeben, für weitere Fotos posiert werden. Vielleicht wirkte das Bohei danach für die Außenstehenden auch deshalb so anstrengend, weil vorher alles so leicht dahergekommen war. Das Resultat: Witali Klitschko ist weiterhin Schwergewichtsweltmeister nach Version des World Boxing Council (WBC). Auch Tomasz Adamek, der tapfere, aber schlussendlich chancenlose Herausforderer aus Polen, konnte die Dominanz der Gebrüder aus Kiew nicht ansatzweise gefährden.

In der zehnten Runde eines sehr einseitigen Kampfes hatte der Ringrichter den Liebling der im brandneuen Breslauer EM-Stadion anwesenden Massen mit einem energischen Armwischen aus dem Gefecht genommen. Genug war genug.

„Ich war überrascht über sein starkes Kinn“, sagte Klitschko, und das war anerkennend gemeint. In der Tat war die wichtigste und für den Polen beste Nachricht des Abends : Tomasz Adamek ging es nach knapp dreißig mitunter recht schmerzvollen Minuten gut, rein gesundheitlich betrachtet. „Ich bin ein Krieger, ich wollte bis zum Ende kämpfen“, sagte der stolze Pole nach dem Fight. „Ich muss meinen Stolz herunterschlucken.“ Er fühle sich gut, abgesehen von den Schwellungen und Fleischwunden: „Ich werde leben und gesund sein.“

Weggewischt wie eine lästige Fliege

Welch Kontrast bot dennoch der gepeinigte Herausforderer zu dem frisch geduscht und unbeleckt auftretenden Klitschko. „Guten Morgen zusammen“, flötete der alte und neue Champion am frühestmöglichen Sonntag der Presse entgegen. Witali Klitschko trat auf in der selbstbewusst-fröhlichen Art eines Kämpfers, der zuvor einen weiteren vermeintlichen Konkurrenten weggewischt hatte wie eine lästige Fliege. Klitschko hatte weite Strecken des Kampfes so bestritten, wie es einem jeder Boxtrainer von der ersten Stunde an auszureden versucht: Die Handschuhe unter Hüfthöhe pendelnd, Angriffe des Gegners lieber mit Reflexen statt mit deckenden Händen abwehrend.

Es war dies genug des Aufwands, weil der 34-jährige Ex-Weltmeister im Halbschwer- und Cruisergewicht, zwölf Kilo leichter, zwölf Zentimeter weniger Reichweite, schlicht nicht die körperlichen Voraussetzungen mitbrachte, um den Koloss von Kiew zu gefährden. „Es reicht eben nicht, zu viel zu essen“, sagte Klitschko, und das war wohl väterlich, vielleicht sogar gut gemeint. „Tomasz ist der beste Boxer der Welt, nur nicht im Schwergewicht. Es war ein Fehler von ihm, ins Schwergewicht zu wechseln.“

Dass jedoch das Falsche das Richtige sein kann, wenn man haushoch überlegen ist, bestätigte der Coach des Champions: „Es war Witalis bester Kampf seit seinem Comeback“, sagte Klitschkos Trainer Fritz Sdunek, der die gute Beinarbeit und Schnelligkeit seines Schützlings herausstellte.

Die Großen verspeisen die Kleinen

Nur einmal witterten die 44.000 Weiß-Roten rings um den Ring die Sensation, als nämlich Klitschko in der achten Runde plötzlich zu Boden ging. „Ich bin Tomasz auf den Fuß getreten, deshalb habe ich die Balance verloren“, erklärte der 40 Jahre alte Weltmeister. Ringrichter Massimo Barrovecchio aus Italien zählte ihn folgerichtig nicht an. Die polnischen Fans aber setzten zu einem letzten Ausbruch der Euphorie an. Und auch wenn Trainer Sdunek hinterher beteuerte, er sei für einen Moment geschockt gewesen, und auch wenn das Stadion in diesem Moment der Unachtsamkeit etwas witterte, was nie in der Luft lag, entwickelte sich der Kampf doch nach dem altbekannten Gesetz, wonach die Großen die Kleinen verspeisen. Kurz nach Klitschkos Tauchgang gellten Pfiffe durch die Arena, weil Adamek wehrlos in den Seilen hing und Barrovecchio den rechten Zeitpunkt für einen Abbruch zu verpassen drohte.

„Keiner weiß, was im Ring passiert“, sagte Klitschko zwar. „In jeder Runde kann einer den Fight mit einem Schlag beenden.“ Am Samstagabend jedoch gab es nur einen, der Entscheidendes zu leisten imstande war. Und das war nicht Tomasz Adamek.

Und so hatte am Ende Lukas Podolski Recht behalten. Der kölnisch-polnische Fußballprofi und erklärte Adamek-Fan hatte sich im offiziellen Begleitheft des Kampfes mit einem seiner eigenen, unvergessenen Bonmots zitieren lassen, das da lautete: „Manchmal gewinnt der Bessere.“

Bis einer heult

– Wladimir Klitschko ist auch von David Haye nicht zu stoppen. Der Brite mimt den schlechten Verlierer, die Klitschko-Brüder halten nun alle vier wichtigen WM-Titel.

Hamburg (Tagesspiegel) – Es war schon nach zwei Uhr am Sonntagmorgen, aber David Haye hatte die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt. Der ehemalige WBA-Weltmeister im Schwergewicht trat vor der anwesenden Presse seine Krankengeschichte breit. „Vor drei Wochen im Training habe ich mir einen Zeh gebrochen. Ich konnte nicht aus meinem rechten Fuß explodieren wie gewöhnlich“, sagte der 30-jährige Brite und wollte dies als „Hauptgrund“ dafür verstanden wissen, dass er seinem Gegner Wladimir Klitschko, der nach seinem einstimmigen Punktsieg die Gürtel der Verbände WBA, WBO und IBF trägt, in der Hamburger Arena nicht gleichwertig hatte begegnen können. „David, so etwas solltest du nie sagen“, versuchte Klitschko die unwürdigen Ausführungen zu beenden, „denn das nennt man einen schlechten Verlierer“.

Haye aber war nicht zu stoppen und verspielte nach dem Titel auch noch einiges an persönlichem Kredit. Am Ende stieg er gar auf den Tisch, um seinen lädierten Zeh zu präsentieren, und stand da oben knapp unter der Decke wie ein Gockel auf dem Heuhaufen. Haye gab nach all dem „trash talk“, den provozierenden Gesten und Worten in den Wochen vor dem Kampf, das Bild eines weinerlichen Sprücheklopfers ab, er wirkte wie ein Clown, dem das Make-up zerlief. Während Haye die Spuren der Nacht hinter einer überdimensionierten Brille zu verbergen suchte, trug Klitschko seine Wunden stolz zur Schau. Das rechte Auge umspielte eine rötliche Schwellung, am Nasenflügel und auf der linken Wange hatten Hayes Fäuste Risse hinterlassen. „Oft komme ich nicht mit Beulen zur Pressekonferenz“, sagte der Ukrainer, und das war als Kompliment gemeint. „Wenn zwei Champions im Ring stehen, wird es nicht schmerzfrei abgehen“, sagte Haye.

Die 36 verregneten Minuten von Hamburg zehrten dennoch am meisten von der Erwartung dessen, was nie kam. Von den Momenten, in denen sich Weltmeister und Weltmeister schnaufend gegenüber standen, ihren Atem gut sichtbar in die kalte Nachtluft stoßend, um dann die Ahnung einer Schlagfolge ins grelle Bühnenlicht zu zucken. Von der gelegentlichen wuchtigen Rechten Hayes, der selten ein zweiter Schlag folgte. Und von den etwas häufigeren Kombinationen, die Klitschko ins Gesicht des Briten hämmerte, um dann wieder in Lauerstellung zu gehen vor dem Image, das Haye über drei Jahre sorgsam aufgebaut hatte. Die 40 000 Zuschauer, davon eine stimmgewaltige Minderheit Engländer, schrien dann freudig auf, nun würde der wilde Schlagabtausch endlich losgehen – eitle Hoffnung. „Beide Kämpfer waren vor der Schlagkraft des anderen auf der Hut“, sagte Hayes Trainer Adam Booth. „Die härteren Treffer hat der Kleinere gelandet“, resümierte Ehrengast George Foreman, „aber Klitschko hat den Kampf mit seinem Jab entschieden.“ Der linken Führhand, dem klassischen Vorbereitungsschlag, nach dem laut Lehrbuch eigentlich weitere folgen. Klitschko bot am Samstagabend also Unvollendetes in Perfektion.

Und auch wenn vieles nur angedeutet blieb, standen am Ende einige Erkenntnisse: Zum einen kann Wladimir Klitschko mittlerweile schwere Schläge einstecken. Nach dem Kampf wandte sich der 35-Jährige in ungewohnt scharfem Ton an all jene, die ihm hartnäckig ein Glaskinn unterstellt hatten: „An alle Kritiker: Schluckt eure Worte! 2004 war ich nach zwei Niederlagen ein gebrochener Mann, aber ich habe immer an mich geglaubt. Und ihr habt mir nur noch mehr Motivation gegeben.“ Nach den schlimmen K.o.-Niederlagen gegen Corrie Sanders und Lamon Brewster zeigte Klitschkos Karrierekurve damals nach unten. Die Zusammenarbeit mit dem neuen Trainer Emanuel Steward und eine sorgfältige mentale Erholung haben ihn als Boxer reifen lassen. Klitschko ist ein kluger Kämpfer geworden.

Am Samstag ließ er sich zu nichts Unbedachtem verleiten. Er nahm Hayes krachende Rechte, besonders in der dritten und vierten Runde, hielt kurz inne und machte sich dann wieder auf die besonnene Verfolgung seines Gegners. Jab, Jab, Jab. „Der Kampf ist genauso verlaufen, wie wir ihn geplant hatten“, sagte Steward, „außer dass wir dachten, dass Haye aggressiver sein würde“. Dass Klitschko nicht mit aller Macht auf den angekündigten 50. Knockout seiner Karriere drängte, nahm Haye die Möglichkeit zu kontern. „David war wachsam, von der ersten Sekunde des Kampfes bis zum Schlussgong“, sagte Klitschko. Während Haye in der Defensive mit flinken Pendelbewegungen größeren Schaden vermied, verlegte er sich bei eigenen Angriffen zunehmend verzweifelt auf den Schlag, der in seinem Kampfnamen „Hayemaker“ verewigt ist: auf den Heumacher.

Doch mit seinen wilden Schwingern traf er nie mehr als die Hamburger Luft. Immer wieder stürzte der 1,91 Meter kleine Brite Kopf voran in den acht Zentimeter größeren Klitschko, der ihn wohl ein halbes Dutzend Mal zu Boden drückte. Was Haye zu lautstarken Beschwerden veranlasste, Klitschko in der siebten Runde einen Punktabzug einbrachte – und Haye einen offiziellen Niederschlag in der elften. Das einmütige Urteil der Punktrichter (117:109, 118:108 und 116:110 für Klitschko) war über jeden Zweifel erhaben.

Haye war, wie er sagte, ausgezogen, das Schwergewicht zu retten. Am Ende stand auch die Erkenntnis, dass es vor den Klitschkos, die jetzt alle vier wichtigen Weltmeistertitel halten, wohl nicht zu retten ist. David Haye ist jetzt nur noch ein Ex-Weltmeister mit gebrochenem kleinen Zeh und ramponiertem Ego. „Ich glaube trotzdem, dass ich einige Leute heute eines Besseren belehrt habe“, behauptete Haye trotzig. Da hatte er ausnahmsweise Recht. Nur meinte er den Satz wohl anders, als er bei den meisten ankam.

Im Ring der Ehre

– Vor dem Boxkampf Marco Huck gegen Denis Lebedjew

Berlin (Tsp) – Der Mann mit der Mütze sagt nur zwei Sätze. „Ich bin nicht besonders gesprächig. Alles, was ich kann, werdet ihr am Samstag im Ring sehen.“ Denis Lebedjew hinterlässt einen klaren Eindruck vor seinem Kampf gegen Marco Huck heute Abend (22.15 Uhr, live in der ARD). Der 31-jährige Russe ist nach Berlin gekommen, um zu boxen. Den Rest überlässt er seinem Gegner.

Es geht um den WM-Gürtel im Cruisergewicht nach Version der WBO. Der liegt einen Meter links von Lebedjew, sorgsam für die Kameras drapiert, genau vor Huck. Der Champion ist im Gegensatz zu Lebedjew vor allem deshalb gekommen, um zu provozieren. Noch bevor die Veranstaltung beginnt, überreicht er dem Herausforderer einen Plastikgürtel, „damit du am Samstag auch einen hast“, sagt er und lacht Lebedjew herausfordernd an.

Der verzieht keine Miene. „Es ist für uns eine sportliche Veranstaltung“, sagt sein Manager Wlad Hrunow mit ruhiger Stimme.

Während Huck in seinem schwarzen Anzug mit dem pinken Schlips eine Art Klassenclown gibt („Auf den Fotos war er nicht so hässlich!“), schweigt Lebedjew in seinen dunklen Trainingsklamotten – und starrt. Mal in Richtung seiner Übersetzerin, mal hinüber zu Huck, mal ins Publikum. Starrt und schweigt. Nur einmal kommt ein Hauch von Emotion über den blassen Boxer mit dem markanten Profil. „Wir haben vor niemandem Angst“, hat sein Trainer Waleri Below gerade gesagt, da deutet Lebedjew mit den Händen Applaus an und nickt zustimmend, der Schirm seiner schwarzen Baseballmütze wippt zwei-, dreimal schnell auf und ab. Dann starrt er wieder.

Hucks Leute fühlen sich bei dieser Rollenverteilung sichtlich unwohl – und versuchen ihren Boxer ins rechte Licht zu rücken. „Er meint, das gehört dazu. Er ist da unbelehrbar“, sagt sein Promoter Wilfried Sauerland zu den Mätzchen. Auf ihn kommt ein Kampf zu, den Promoter hassen, einer, „bei dem man nicht weiß, wer sich am Ende durchsetzen wird“. Sollte Huck seinen Titel verlieren, bleiben dem Sauerland-Stall noch weniger Helden. Sauerland weiß das, auch wenn er die besondere Bedeutung herunterspielt. „Jeder Kampf ist ein wichtiger Kampf. Egal wie es läuft, es wird bei uns hinterher kein Desaster ausbrechen.“

Doch natürlich ist es ein besonderer Kampf. Vor allem wegen Helsinki. Es ist das Wort, das die Gesichter der Leute von „Sauerland Event“ dieser Tage schlagartig verdüstert. „Wo immer ich hingehe, werde ich darauf angesprochen“, erzählt der Promoter, der in die „Hall of Fame“ des Boxens aufgenommen wurde: „Alle fragen sich, warum er nicht wenigstens gekämpft hat?“ Arthur Abraham, der für Helsinki verantwortlich ist, hat mit seiner verheerenden Niederlage im Super-Six-Turnier gegen Carl Froch Fassungslosigkeit in seinem Umfeld ausgelöst. Deshalb sagt sein Trainer Ulli Wegner, der auch Huck coacht, vor dem letzten Kampf des Jahres einen Satz besonders laut: „Es geht um meine Ehre.“ Die Worte bleiben für einen Moment im Raum stehen, heiser, bitter.

Fast 40 Jahre ist Wegner im Geschäft, etwas wie vor drei Wochen in Finnland hat er noch nie erlebt. Er will nicht mehr darüber reden, und lernen könne Huck von Abrahams Auftritt schon mal „überhaupt nichts“. Nicht mal die DVD desKampfes hat er sich hinterher angeschaut. „Die liegt noch auf meinem Küchentisch.“ Nun hofft er, genau wie Sauerland, dass Huck den seltsamen Schweiger aus dem Osten besiegt.

„Er darf sich nicht provozieren lassen und in einen Konter laufen“, sagt Wilfried Sauerland: „Wenn Marco konzentriert durchboxt, gewinnt er den Kampf klar.“ Vor Lebedjew hat er großen Respekt. „Ich habe ihn schon oft boxen sehen. Da steckt schon was dahinter“, sagt Sauerland. „Man bekommt schon das Kribbeln, wenn er in den Ring kommt.“ Denn dann trägt Denis Lebedjew, dieser schweigsame Fighter, ungeschlagen in 21 Kämpfen, immer eine Fallschirmspringeruniform.

Die letzte Schlacht

– Heute vor 35 Jahren: Ali gegen Frazier III

Vielleicht sind nie zwei Boxer gemeinsam so nahe an die Grenze zum Sterben herangetreten wie Muhammad Ali und Joe Frazier in ihrem dritten Kampf. „Es war wie der Tod“, sagte Ali hinterher. Frazier sagte nichts. Er lag praktisch blind in seinem Hotelzimmer, beide Augen zu einem winzigen Schlitz verengt. Später erklärte er fassungslos, er habe seinen Gegner „mit Schlägen getroffen, die Stadtmauern eingerissen hätten“.

Der „Thrilla in Manila“, der heute vor 35 Jahren stattfand, war einer der brutalsten und spektakulärsten Boxkämpfe aller Zeiten. Ein 14-ründiger atemloser Schlagabtausch zwischen dem eleganten Distanzboxer Ali und dem Infight- und Hakenspezialisten Frazier, Kampfname „Smokin’ Joe“, bei 40 Grad Hitze und drückender Luftfeuchtigkeit, an dessen Ende Frazier, der Unterlegene, ohne Sicht weitermachen wollte, und Ali, der Sieger, in seiner Ecke vor Erschöpfung zusammenbrach.

Die später so hasserfüllte Beziehung hatte freundschaftlich begonnen. Im August 1970 fuhren die beiden in Fraziers Cadillac Cabrio von Philadelphia nach New York und plauderten über Männerthemen: Gewichtsprobleme, die Gefahr des Motorradfahrens – und darüber, wer den anderen wie besiegen würde. Frazier war Champion, Ali seit seiner Kriegsdienstverweigerung titel- und arbeitslos. Ein Kampf noch nicht in Sicht. „Kein Mensch bezahlt, um zwei Freunde boxen zu sehen“, sagte Ali beim Aussteigen. „Schwergewichtler können keine Freunde sein“, schreibt er an anderer Stelle in seiner Autobiografie. „Sie sind Dinosaurier, Raubtiere. König kann nur einer sein.“

Aus den beiden Freunden wurden bittere Feinde

Fünf Jahre später, in Manila, war die Freundschaft lange vorbei. „Plump“, „hässlich“ und „ignorant“ zieh Ali, mittlerweile wieder Weltmeister, seinen Herausforderer. Er, Ali, der Nein zu Vietnam und zur Unterdrückung durch die Weißen gesagt hatte, sei der wahre Repräsentant des schwarzen Amerikas. Frazier dagegen, der sich Alis Titel in dessen Abwesenheit gesichert hatte, sei nur eine Marionette der Weißen, ein unterwürfiger „Onkel Tom“. Ali nannte Frazier „Gorilla“ und machte klar, dass er sich für eloquenter, besser aussehend und den besseren Boxer hielt: „Joe Frazier ist so hässlich, sein Gesicht sollte der Artenschutzbehörde übergeben werden.“ Ein rücksichtsloser Feldzug gegen Fraziers Selbstwertgefühl, weit über die üblichen Grenzen der Fight-Promotion hinaus.

Im Ring stellte sich heraus, dass der Weltmeister nur einen schlafenden Riesen geweckt hatte. In den ersten vier Runden nahm Frazier Alis Schläge mit stoischer Ruhe. Dann fing er an, seinen gefürchteten linken Haken zu schlagen, mit dem er Ali im ersten Kampf auf die Bretter geschickt hatte. Die Moral des Champions war vorerst gebrochen, der geplante frühe K. o. verpasst. „Joe, ich dachte, du hast es nicht mehr drauf“, raunte Ali vor der siebten Runde. „Da bist du falsch informiert, mein Hübscher!“, gab Frazier lächelnd zurück. Von da an rangen zwei Dinosaurier ums Überleben. Frazier dominierte die mittleren Runden, bis Ali schließlich mit schierer Willenskraft in der unerträglichen Schwüle wieder die Kontrolle übernahm. Ab Runde 13 wurde Frazier schwer getroffen. Sein Mundschutz flog durch den Ring, das Gesicht schwoll von harten Kopftreffern an, das linke Auge schloss sich komplett. „Es ist vorbei“, sagt ihm sein Trainer Eddie Futch vor der 15. Runde und drückt ihn zurück auf den Hocker. „Niemand wird vergessen, was du hier heute geleistet hast.“ In der gegenüberliegenden Ecke erhebt sich Ali, hebt die schlaffe Rechte zum Jubel und bricht zusammen. „Mein schwerster und härtester Gegner war Joe Frazier“, wird er später sagen, „er hat mir alles abverlangt.“

Ihre Wege kreuzen sich seitdem selten. Heute wie damals lebt Frazier im bitterarmen Norden von Philadelphia, in einem kleinen Raum hinter seinem Boxstudio. Ali dagegen ist auf der ganzen Welt zu Hause, nicht erst seit er 1996 mit zitternder Hand das Olympische Feuer der Spiele von Atlanta entfachte. Es ist umstritten, ob die Schläge, die er besonders in den letzten Jahren seiner Karriere auch von Frazier einstecken musste, das Parkinsonsyndrom, an dem er leidet, verstärkt oder gar verursacht haben.

Die Beleidigungen durch Ali (heute 68) haben Frazier, inzwischen 66 Jahre alt, tief getroffen und für lange Zeit verbittert. Und doch sitzt tief drinnen auch Mitgefühl. Als er in der 2009 erschienenen Dokumentation „Facing Ali“ auf den schlechten Gesundheitszustand seines alten Feindes angesprochen wird, senkt Joe Frazier seinen Blick. „Es ist traurig“, hebt er an, stockt dann und vollendet den Satz mit feuchten Augen. „Es ist traurig, weil er ein großartiger Mensch ist. Ich wünschte, er könnte das Leben führen, das wir führen. Er hätte das verdient.“ Dann geht der Blick des Dinosauriers wehmütig in die Ferne, vielleicht bis nach Manila.