Aufschrei! (5 Minuten Stadt)

Idylle Prenzlauer Berg. Schlenderzone Stargarder Straße. Familienspaziergänge. Händchen haltende Pärchen. Kinder auf Laufrädern. Gegenüber an der Eisdiele „Hokey Pokey“ zahlen die Menschen bereitwillig 1,60 Euro für die Kugel. Wohlstands-Happiness, das Leben: ein buntes Aquarell. Auf den Trottoirs: Vintage-Stühle, darauf: Vintage-Menschen, essend, trinkend, redend. Angeregte Gespräche. Vor einem Café, hier: orangefarbenes Gestühl, dreht es sich gerade um die „Aufschrei“-Debatte, deren Initiatorinnen kurz zuvor mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurden. Haben im Internet auf Frauenfeindlichkeit und sexuelle Belästigung hingewiesen. Und die Welt hoffentlich ein bisschen weniger sexistisch gemacht. Gute Sache, logisch, darauf ein Schlückchen Cappucino und ein beruhigter Themenwechsel. Gerade will man wieder anheben, da dringt ins allgemeine Vögelgezwitscher ein seltsames Störgeräusch. Näher kommender Beat. Es macht: Bumm-bumm-kah, bu-bumm-bumm-kah. Wird jetzt ziemlich schnell ziemlich laut. Genervte Blicke den Gehweg herunter. Doch statt der erwarteten tiefer gelegten Sportkarre nur ein sich nähernder Adoleszent im grauen Schlabbershirt, plärrendes Handy in der hohlen Hand. „Du guckst mich an“, kann man nun den schnellen Sprechgesang hören, während der Jüngling, Sneaker, schwarze Turnhose, Pausbacken, dumpf vorbeistampft. „Du guckst mich an“, rappt es also zwischen den Wurstfingern hervor, „ich hab Style und das Geld, heute bin ich all das, was euch Fotzen so gefällt.“ Leicht mit dem Kopf nickend pflügt der dicke Junge zu dieser grandios beschissenen Bordstein-Weisheit durchs Kinderwagen-Ghetto, vorbei an irritierten Blicken, sein Shirt wackelt dazu lustig überm Hüftspeck. Zurück lässt er nach einer Schrecksekunde: belustigte Gesichter. „Wie geil“, sagt jemand ironisch und fängt dann an, über etwas völlig anderes zu reden. (Tsp.)

Randalieren wie ein Boss (5 Minuten Stadt)

– Tagesspiegel, 5 Minuten Stadt

Sommerabend in Mitte, die Bar an der Ecke: richtig voll. Viele Leute draußen. Man trinkt: Moscow Mule. Man trägt: Hemden, Markenschuhe, Seitenscheitel. Man spricht: Englisch, Spanisch, ein bisschen Deutsch. Vor Holzbänken und Klapp stühlen: ein Laufsteg namens Torstraße. Und dann: Reifenquietschen. Hupen. Köpferecken. Ein Typ, weißes Hemd, Hornbrille, Rauschebart, steht mit seinem Fahrrad quer auf dem Damm, astreine Taxi-Blockade. Typ brüllt, steigt ab, will zur Autotür. Taxifahrer hat darauf keine Lust, rauscht ab. Radfahrer gemächlich hinterher. Gelangweiltes Publikum. Keine zwei Minuten später: Return of the Bartmensch. Heizt die Straße wieder herauf, freihändig, falsche Richtung, Geisterfahrt. Auf der Schulter: eines dieser Verkehrshütchen, rot-weißer Kegel. Und kurz vor der Bar: Abwurf. Schweres Plastik knallt auf Asphalt, Pylon jetzt mitten auf der Torstraße. Künstlerpause. Dann nächster Akt: Der Bart nun ein paar Meter weiter auf dem Gehweg, unverändert aggressiv im Maßhemd, zwei Meter, hundert Kilo, bebender Bart. Eine winzige Frau redet auf ihn ein, schubst ihn zurück. Die Menge guckt. Große Show. “ Wenn er die schlägt, hau ich ihn kaputt“, sagt einer. Unruhe. Nahende Eskalation. Doch das Fräulein beruhigt den Irren. Er lehnt an der Hauswand, abgekämpft. Interessiert schon keinen mehr. Schlürfschlürf. Lecker. Kurze Nachfrage beim Kellner, belustigtes Gesicht. “ Ach der, das ist mein Chef. Eher ein normaler Abend für ihn.“

The Zipperlein (5 Minuten Stadt)

(Tsp., Juni 2013) – S-Bahnhof Messe Nord. Die Menschen sitzen missmutig auf Bänken und starren in den Regen. Nächster Zug in sechs Minuten. Sonntagabend-Blues. Auch bei einer Rucksacktouristin, vielleicht 30 Jahre alt, dunkle Haare, klitschnasse Füße in Flipflops. Willkommen im Berliner Sommer. Kommt ein alter Mann den Bahnsteig herunter, Stock in der Linken, mit der Rechten hinter sich herziehend: einen leeren Einkaufstrolley, Typ Kartoffelporsche. Lässt sich jetzt ächzend neben die Backpackerin fallen. Kurze Pause. Ganz kurze Pause. Dann: „Na, wo komm Sie denn her? Wie? Ah, no Deutsch, hm? Where you from?“ Sie ist aus Costa Rica, sagt sie. Findet der alte Mann gut, vermutlich weil: exotisch, weil: ganz weit weg. Er erzählt vom letzten Urlaub am Meer, vor 30 Jahren. Von Stränden, Booten, Hafenbars. „Na, da war wat los!“ Lachender alter Mann. Nickende Touristin. Absolut kein Deutsch sprechende Touristin. Egal. Alter Mann erzählt aus seinem Leben. „Normal nehm‘ ich den 139er, wissense, aber der fährt bloß von zehn bis sechse. Morgens neunsechsnfuffzich der erste. Also jetzt schon nicht mehr.“ Er zeigt auf seine Armbanduhr. Halb sieben. Die Costa-Ricanerin nickt. Sie schaut hoch zur Minutenanzeige. „1 min“ steht da. Alter Mann, auf ein letztes: „Tun Sie mir einen Gefallen, bitte?“ – „Sorry?“ – „Bitte werden Sie nicht alt, okay?“ – „Alt?“ – „Hmmm… be old, you know?“ – „?“ – „Wer alt ist, ist gestraft. Ist so. Then come the Zipperlein. Verstehense? Der Rücken, die Gräten.“ Mühsam, aber mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht zieht sich der alte Mann an seinem Stock hoch, ganz krumm steht er da, mit seinem Karohemd, seinen Hosenträgern und der Cordhose über dem Bauch. Er sagt: „Good stay, ja?“ Dann geht er ein paar Schritte, langsam, ganz langsam, der einfahrenden Ringbahn entgegen.

Stell dir vor, es ist Derby…

– Hertha gegen Union, die Rivalität lebt in der vierten Liga fort – im ganz Kleinen. Ein Ortsbesuch

Es sind wirklich viele Polizisten da. Sehr viele Polizisten. Wannen, die am Falkplatz stehen. Wannen, die vor der Haupttribüne stehen. Wannen, die quer im Weg stehen. Ja, sogar: Ein Wasserwerfer. An allen Einlasstoren: Schwarze Uniformen über Schutzpolstern. Derbykleidung.

Hertha gegen Union. Charlottenburg gegen Köpenick am Mauerpark. Hat doch was, oder? Auch wenn es, hier in der vierten Liga, nur das kleine Derby ist, das der U23-Teams, „der Zweeten“, wie die Leute auf der Tribüne sagen.

Ein sind wirklich ein paar Fans gekommen. Vielleicht nicht so viele wie Polizisten, aber immerhin. Die Minuten vor dem Anpfiff. Zeit des Pop. Lana del Rey spielt Videospiele, Lykke Li folgt Flüssen. Hier folgt man den Blauen oder den Roten. Unten knippern zwei Hertha-Fans ein Banner an den Zaun. „Supporters U23“ steht drauf. Nach wenigen Sekunden nehmen die beiden es wieder ab. Dann hängen sie es falsch herum wieder auf. Die Schrift steht nun auf dem Kopf. Vielleicht ein Statement. Man wüsste gerne, wofür.

Der Stadionsprecher verliest die Aufstellungen. Applaus bei Herthas Nummer 30: „Andreas, Zecke, Neuendorf!“ Der Altmeister sitzt auf der Bank. Kann aber jederzeit kommen. Eine 37 Jahre alte Kampfansage.

Es plätschert dann so ein bisschen dahin. Irgendwann: Freistoß Hertha. „Ronnyyyyyy!“, brüllt einer los. „Ronnyyyyyy!“, antworten ein paar andere. Gelächter. Wer weiß, wo der Brasilianer gerade ist, hier ist er natürlich nicht. Union macht kurz darauf das 1:0. Wichtiger Treffer im Abstiegskampf. „Cottbus hat schon gegen Halberstadt verloren“, sagt einer auf der Tribüne.

Foul, ein Roter am Boden. „Scheiß Unioner!“, ruft ein Glatzkopf. „Hau ihm auf die Fresse!“ Kann man sehr gut hören im ziemlich leeren Jahnsportpark. „Genau! Immer ruff!“, antwortet ein Unioner. Gelächter. Gut zu wissen: Keiner nimmt hier irgendwen ernst.

Und dann ist Ronny plötzlich doch da. Unten am Zaun. Das Trikot mit der Nummer 12 spannt. Ronnys Körper ist eher birnenförmig. Ronny hat einen Rucksack dabei, daraus holt er Schal um Schal und knotet sie sich an die Unterarme. Irgendwann hat er an jedem mindestens fünf. Halbzeitpfiff. Ronny klatscht.

Pausen-Unterhaltung auf dem Klo: „Ey, nicht vordrängeln!“ – „Jaja, okay.“ – „Ehrlich, das ist U23. Hier fällste uff.“

Union ist auch danach besser, Herthas Abwehr ist weiter desolat, bald steht es 2:0. Ein alter Mann mit Arcor-Kappe ruft: „Wir steigen auf und ihr bleibt hier!“ Stille. Dann ruft er: „Wir fahren nach Bayern und ihr nach Ingolstadt!“ Ronny wedelt mit einem Deutsche-Bahn-Fähnchen. Er ist nur von hinten zu sehen. Aber er sieht traurig aus. Wie einer eben, der an einem Donnerstagabend in einem leeren Stadion sitzt und mit einem Deutsche-Bahn-Fähnchen wedelt.

Andreas Neuendorf zieht sich die Trainingsjacke aus. Es ist jetzt Zecke-Zeit. Er steht schon auf der Tartanbahn, da fällt das 3:0. Zecke streicht sich über den Scheitel. Er weiß, er ist keine Kampfansage mehr, er ist jetzt nur noch eine Durchhalteparole.

Sagt ein Vater zu seinem Sohn: „Wären wir mal lieber nach nebenan gegangen.“ Nebenan, in der Schmeling-Halle, spielen gerade die Berlin Recycling Volleys. Da ist immer was los. Klatschpappen und alles. Hier singen jetzt 50 Mann: „Eisern Berlin!“ Eine vorbei laufende Polizistin beschwert sich über den Kaffeepreis. Rechts starten die Maschinen vom Flughafen Tegel in den Abendhimmel. Links steht ein Baukran. Vielleicht, denkt man sich, kriegt jede Stadt dann doch die Derbys, die sie verdient.

Vater und Sohn packen ihre blau-weißen Schals in die Tasche und gehen nach Hause. Das Spiel ist aus. Die Fans wollen noch abklatschen. Man kann sie zählen. Es sind genau sieben. Die Spieler huschen schnell vorbei. Nur Zecke bleibt länger stehen. Er unterhält sich mit den Jungs vom verkehrten Banner. Ein paar Meter weiter steht Ronny. Er hat seine Hand durch den Zaun gestreckt und wartet geduldig.

Tod eines Reisenden

– Christina Schien betrieb 17 Jahre lang eine kleine Kneipe am Treptower Park – bis die Deutsche Bahn ihr plötzlich kündigte. Während Schien mittlerweile in neuer Umgebung glücklich ist, steht die Immobilie auch drei Jahre später noch leer.

Am Abend, als der Bote kommt, steht Christina Schien am Tresen in ihrer Kneipe. Wo auch sonst? Es ist der 30. September 2009, gegen 19 Uhr abends. Ein Mittwoch. „Hugo der Reisende“, ein gemütliches Altberliner Lokal unten im S-Bahnhof Treptower Park, hat an diesem Abend nur ein paar Stammkunden zu Gast. Kneipen sind am Monatsende selten voll.

Als Christina Schien mit hastiger Hand den Umschlag öffnet, fällt ihr Blick gleich auf die fettgedruckte Betreffzeile: „Fristgerechte Kündigung“. Nach 17 Jahren beendet die Deutsche Bahn die Mietbeziehung in Maschinenschrift: „Bitte vereinbaren Sie einen Termin für die Rückgabe des Mietgegenstandes innerhalb der vorgenannten Räumungsfrist.“

Dreieinhalb Jahre später sitzt Christina Schien, 61 Jahre, kurze weiße Haare, am Esstisch ihrer Wohnung am Platz der Vereinten Nationen und schaut hinaus auf Berlin. Schiens Zuhause liegt hoch über dem Friedrichshain, niedrige Decke, alte Platte. Ihr Blick geht zum grau gewaschenen Horizont. Doch in Wirklichkeit ist sie jetzt wieder in ihrem Lokal, Brief in der Hand. „Sie stehen da“, sagt sie, „und verstehen die Welt nicht.“ Sie sei gerade fertig gewesen mit allem, „der Laden stand so, wie ich ihn haben wollte.“

Der „Hugo“, sie nennt ihre Kneipe immer noch wie einen verlorenen Sohn, ist mehr als ein Job, er ist ihr Lebensinhalt gewesen, von 1992 an, als sie das Objekt mit Blick auf den grünen Treptower Park von der Mitropa übernahm. Eifrige Nachwendejahre, Zeit des Aufbruchs. Auch für Schien, die Pfarrerstochter, geboren in Schöneweide bei Berlin, aufgewachsen in der Nähe von Schwedt, mit 19 zurückgekehrt in die Hauptstadt der DDR.

Bevor sie anfängt, ihre Geschichte zu erzählen, hat sie starken Kaffee gebrüht. Sie trinkt in kleinen Schlucken. Anfang 40 ist sie, als sie die Kneipe am Park übernimmt, die Kinder aus dem Haus, eine neue Aufgabe. Stück für Stück renoviert sie, zusammen mit ihrem Mann, Touristenschiffer bei der „Kreis und Stern“. Reißt die alten Pissrinnen heraus, verlegt Fliesen, verputzt und malert. Noch im Herbst 2004 erneuert sie die komplette Elektrik, rund 10.000 Euro Materialkosten, plus ein Vierteljahr Einbauzeit. Die schönsten Impressionen aus den Geburtsjahren des „Hugo“ hebt sie bis heute sorgsam in einem gebundenen Fotoalbum auf. Ein Familienalbum.

An die Bahn überweist sie Monat für Monat ihre Miete, ansonsten macht sie ihr Ding, wie schon zu DDR-Zeiten, als sie bereits eine „freie Kneipe“ betrieben hat, bloß weit weg vom ungeliebten System.

Ab 2002 läuft „Hugo der Reisende“, benannt nach der Figur mit Koffer direkt am Eingang, nur noch als Saisongaststätte, von Anfang April bis Ende Oktober. Eine Entlastung, die kalten Winter mit kaum Gästen sind vorbei. In den warmen Monaten, der Park übervoll, läuft das Geschäft dagegen gut, in der Kneipe und dem Imbiss nebenan. Der „Hugo“ gehört zum Park wie das alljährliche Hafenfest oder das Public Viewing während der WM 2006, das mehr Leute als je zuvor vor die Türen von Christina Schien spült.

Die Elektrik neu, der „Hugo“ rentiert sich, eigentlich ist nun alles perfekt. Bis zu dem Tag kurz vor Saisonende 2009, dem Tag, an dem der Bote kommt.

Einen Kündigungsgrund findet Christina Schien nicht in dem Schreiben. Sie kennt ihn bis heute nicht. „Ich wurde immer abgebügelt“, erzählt sie. „Ich habe keine Antworten bekommen. Am Telefon habe ich geweint, gedroht, eine Mischung von beidem, dass sie mal kommen und man sich Auge in Auge unterhalten können.“

Stattdessen werden Interessenten durch die Räumlichkeiten geführt. Dass ihre Kneipe neu ausgeschrieben ist, erfährt Schien so praktisch beiläufig. Mit der Zeit legt sie sich ihre eigenen Gründe für den Rausschmiss zurecht: „Ich denke, das war ein richtiger Schreibtischtäter. So wie der Chefsanierer sich die Lohnlisten ansieht und jeden vierten oder fünften streicht. In der Preisklasse lief das ab.“

Die Berliner Pressestelle der Bahn hält sich auf Anfrage im Ungefähren. Es habe „rechtliche Probleme“ gegeben, heißt es. Davon will Schien nichts wissen. Ihre These: Die Bahn habe zu deutlich höheren Konditionen neu vermieten wollen.

Die Bahn bestätigt, dass es damals einen konkreten Interessenten gegeben habe. Ein „schönes Konzept“ habe der vorgelegt, eine Mischung aus „Restaurant, Bar, Lounge, richtig schick“ – Name der neuen Lokalität: „Planwirtschaft“. Doch dann habe sich herausgestellt, dass das Objekt in schlechterem Zustand gewesen sei als angenommen. „Schimmel und Wassereinbrüche“ hätten Bauarbeiten vonnöten gemacht, die allerdings bis heute nicht begonnen sind. Für Schien kommt das nicht überraschend. Einsickerndes Wasser von den darüber liegenden Bahngleisen habe es im hinteren Kneipenbereich nach Regenfällen immer gegeben, sagt sie – eigens dafür habe sie sich einen provisorischen Abfluss gebastelt.

Der ehemalige „Hugo“ steht auch drei Jahre später noch immer leer. Schien sagt: „Die Bahn hätte ein Supergeschäft machen können mit mir. Ich habe eine Immobilie bezahlt und betrieben, die sie jetzt nicht mehr vermietet kriegt.“

Schiens Kündigung lief vertragsgemäß ab. Doch die Umstände, das Wortlose, haben Christina Schien tief getroffen – bis heute. Sie ist beim Gespräch merklich angespannt, irgendwann tupft sie sich Tränen von der Wange. „Wissen Sie“, sagt sie, „ich hatte das alles ein bisschen vermauert.“

Ihre persönliche Geschichte hat nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit immerhin eine versöhnliche Richtung eingeschlagen. Sie arbeitet wieder, als Tagesmutter für eine Familie in Prenzlauer Berg. Und hat sich verändert. „Es ist wunderbar, die Langsamkeit zu lernen“, sagt sie. „Früher war ich eine Hektiknudel ohne Ende, immer unter Spannung, nie fertig. Jetzt entdecke ich völlig andere Sichtwinkel.“ Täglich für das zweijährige Kind der Familie zu sorgen, erfüllt sie – anders als das die Kneipe bei allem engen Kundenkontakt je konnte. „Das ist mein fünftes Enkelkind“, sagt Schien und ihre Augen glänzen, vor Freude diesmal. Ihre beiden eigenen Töchter hätten ihr gesagt, sie sei ganz ausgeglichen und ruhig geworden.

Christina Schien stellt ihre Kaffeetasse ab und steht auf. Mit fester Stimme sagt sie: „Heute bin ich soweit, dass ich sage: Danke, liebe Bahn, ihr habt mich eigentlich befreit. Es tut immer noch weh, aber ich führe jetzt ein anderes Leben.“

Nase voll

– Ein Datingportal lädt zur Schnüffelparty – es kommen zwar fast nur Journalisten, ein Pärchen findet sich aber trotzdem

Die Party läuft noch nicht sehr lange, die ersten Tüten machen gerade die Runde, da hält Tanja plötzlich inne. Sie reckt ihre Nase in alle Richtungen. „Es müffelt.“ Sie schaut in die Runde. „Findet ihr nicht?“ Es stimmt. Es ist stickig, hier im Hinterzimmer. Sehr warm. Was an den ganzen Kameras liegen könnte, an den Scheinwerfern und Aufnahmegeräten, an der ganzen wuselnden Pressemeute.

Ein Altbau in Friedrichshain, Erdgeschoss. Ein junges deutsches Datingportal hat eingeladen, zur ersten Pheromon-Party Deutschlands, eine „Event-Sensation“, wie es heißt. Pheromone, das sei kurz erklärt, sind menschliche Duftstoffe. Das Prinzip des Abends: Die Teilnehmer stopfen gebrauchte T-Shirts in eine nummerierte Plastiktüte, andere Teilnehmer schnüffeln dran – und wo es besonders gut riecht (oder am wenigsten schlecht), dahinter soll der Traumpartner stecken. Der dann mittels eines Fotos entscheiden kann, ob er die nächsten Schritte einleitet. Kommt natürlich, wie jeder gute Trend, aus den USA.

Es sind wirklich viele Leute gekommen, das ist schon mal schön. Aber es sind fast ausschließlich Journalisten. Womit sich zum einen deren Arbeit erheblich erschwert. Typischer Dialog: „Und, was hast du schon so gerochen?“ – „Nichts, bin auch von der Presse.“ Den wenigen echten Teilnehmern macht es den Abend schlicht zur Hölle. Tanja hat schnell, Pardon, die Nase voll: „Ihr macht alles kaputt! Wir sollen hier den Mann fürs Leben erriechen und werden so belagert.“ Daher will sie in den Artikeln irgendwann nur noch Tanja genannt werden. Es gelingt ihr, sich aus dem Knäuel herauszuwinden, doch kaum dreht sie sich um, blinzelt sie in einen grellen Lichtkegel. Das N24-Team hat sie gestellt. „Und, hast du ihn schon gefunden? Na, deinen Traummann?“

Es ist keine ganz einfache Situation. Es schnürt einem den Atem ab. Also vor in den Empfangsraum. Vor der Sponsorenwand posiert eine Teilnehmerin mit blonden Ringellocken, Minirock und Stiefeln. „Be sexy!“, schreit sie der Hausfotograf an. „More sexy! More sexy!“ Die blonde Frau öffnet ihren Mund, schaut jetzt irgendwie lasziv, vielleicht hat sie das mal in einer Magnum-Eis-Werbung gesehen. Apropos: „Produkte zum Verlieben“, mit diesem Slogan wirbt der Veranstalter für seine Seite. Die Produkte, das sind die Männer. Die Frauen können sie in ihren Warenkorb legen. Die Liebe in Zeiten von Amazon.

Als nächstes wird ein schmaler junger Mann an die Wand gestellt, dünne Brille, kariertes Hemd. „Und, wie viele Fotos hast du schon so machen lassen?“ – „Drei.“ – „Und wonach riecht sie, deine Lieblingsfrau?“ – „Keine Ahnung, angenehm.“ – „Wie angenehm?“ – „Angenehm halt. Keine Parfümbombe oder zu viel Schweiß. So, dass man sich vorstellen kann, neben dieser Frau aufzuwachen.“ Das ist dann tatsächlich mal ein halbwegs schöner Satz. Doch der junge Mann muss schnell weg, er hat schon sehr viele Interviews gegeben.

Zurück in den Mittelraum, auf Ledersofas plaudern Bier trinkende Journalisten. Die ersten Facebook-Anfragen gehen raus. Informationen machen rasend schnell die Runde, das ist der Vorteil. So spricht sich schnell herum, dass die beiden schönen Menschen neben Tanja eigentlich Models sind, die sich das RTL-Team als Protagonisten mitgebracht hat. Praktisch. Er könnte so vom Typ her der Sohn von Detlef „D!“ Soost sein, ist eigentlich Tänzer. Seine Tattoos werden leider vom Muskelshirt halb verdeckt. Und sie ist die Sorte Frau, die sich ihre Haare schwarz färbt. Aus ihrem knallengen Büchslein ragt ein weißes iPhone-Cover heraus, mit ein paar funkelnden Edelsteinen drauf, immer mal wieder zieht sie es mit spitzen French-Nail-Fingern heraus. Der Kameramann ist dagegen einfach nur ein echter Profi. Sein Spezialgebiet: Rasend schnelle Schwenks. Von der Foto-Leinwand auf die Models. Und zurück.

Und dann wird’s ernst. Ein Indie-Typ mit Hut hat sich mit der Nummer des Models ablichten lassen. Das Team rüstet sich zum Angriff. Schwarzhaarige vorweg, dicht dahinter Reporter, Kamera-Profi und dann der stolpernde Tonmann, er kommt kaum hinterher. Es ist zu eng, zu laut, man kann leider nicht hören, wie das Gespräch so anläuft.

Tanja hat irgendwann genug. Sie zieht sich die Jacke an. „Gehst schon?“ – „Guck dir mal die Leute an“, sagt sie, „da spricht heute keiner mehr irgendwen an.“ Auf dem Weg nach draußen kommt sie an der Schwarzhaarigen und dem Hut vorbei, die sich tatsächlich immer noch unterhalten, die Kamera ist längst aus, der Beitrag im Kasten. Wie sie so dastehen, geben sie ein großartiges Pärchen ab. Der Singer-Songwriter und die Großraumdisko. Zu gerne würde man ihnen jetzt ein paar Fragen stellen, ob und wie sie sich riechen können, zum Beispiel, aber das wäre nicht angebracht. Genug geschnüffelt.

Der Fußball-Botschafter

– Der Deutsch-Türke Mehmet Matur wirbt für mehr Integration auf Berlins Sportplätzen – ein Tag mit einem überzeugten Ehrenamtler

Mehmet Matur ist ein geduldiger Mann, das ist vielleicht das Allerwichtigste. Ein früher Mittwochnachmittag im „Haus des Fußballs“. Im Sitz des Berliner Fußball-Verbands tagt der Integrations-Ausschuss. Es geht um eine wichtige Sache, um den Sozialpreis, der an engagierte Klubs vergeben wird. Doch es ist wie so oft bei diesen Sitzungen: Es wird sehr viel geredet. Über die Preisverleihung, den Programmablauf, die Sitzordnung, das Catering, die Show-Acts, die Besetzung der Jury. In der Ecke hängt ein Plakat, darauf steht: „Wir leben Fußball. Bevor aus Frust Gewalt wird“.

Mehmet Matur sitzt ruhig da und hört zu. Er trägt eine strahlend weiße Trainingsjacke von Werder Bremen. Nicht nur Sympathie, ein Statement. Werder hat Ende März den DFB-Integrationspreis verliehen bekommen. Mehmet Matur ist im Berliner Fußball der wichtigste Mann in Sachen Integration, auch wenn er das selbst nie unterschreiben würde. 1960 in der Türkei geboren, mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen, sitzt er seit 2004 auf Betreiben von BFV-Chef Bernd Schultz im Präsidium. Der erste Migrant überhaupt. Als langjähriger Funktionär von Türkiyemspor kennt er auf Berlins Fußballplätzen so ziemlich alles und jeden. „Er ist sehr direkt und jemand, der stark den persönlichen Kontakt sucht“, sagt Schultz. Fast jeden Tag ist Matur unterwegs, zu Punktspielen und Klubheimen, 30 bis 40 Stunden die Woche, schätzt er. Alles ehrenamtlich.

„Meine Verwandten in der Türkei glauben mir das nicht.“ Die Sitzung ist vorbei, Matur steuert seine schwarze A-Klasse durch den Stadtverkehr. Dass jemand 30 Stunden die Woche arbeitet, ohne Geld dafür zu bekommen, das verstehen sie nicht. „Aber es ist ja keine Arbeit“, sagt Matur. „Ich setze mich ein, ich will dem Fußball dienen. Doch sie denken trotzdem, dass ich irgendeinen Vorteil verfolge, dass ich Bürgermeister werden will oder Abgeordneter.“ Matur lacht, aber er beschreibt da eines der Probleme, gegen die er ankämpft. Ihre Kinder spielen fast alle Fußball, aber es gibt nach wie vor zu wenige Migranten, die sich ehrenamtlich einsetzen. Immerhin: Ihr Anteil steigt, 2010 lag er deutschlandweit laut DOSB bei 13 Prozent, drei Jahre zuvor noch bei 7,2. Ein anderes Problem ist die Gewalt, oft aus Vorurteilen gespeist.

Matur ist Fußball-Botschafter, er wirbt für Verständnis und Annäherung, auf beiden Seiten. Dafür, dass die Weihnachtsfeier vielleicht stattdessen Abschlussfeier genannt wird, damit sich auch die muslimischen Mitglieder willkommen fühlen. Dafür, dass sich Migrantenvereine deutsche Namen geben, um sich zu öffnen, wie der Neuköllner Klub Galatasaray, der nun Rixdorfer SV heißt. „Ich wünschte, es wäre nicht so, aber der Name spielt eine Rolle“, sagt Matur. „Traurig, aber wahr“, viele seiner Sätze beginnen so oder so ähnlich.

Nach einer halben Stunde parkt Matur seinen Wagen in der Erkstraße. Hier, im Herzen von Neukölln, betreibt er mit seinem Bruder das „Butterfly Sporthaus“, seit bald 20 Jahren. In dem engen Büro hinter dem Verkaufsraum stapeln sich Schuhkartons, bis hoch zur Decke. An den freien Stellen: Vereinswimpel. Ankaraspor, Türkiyemspor, BSC Rehberge, und der rot-weiße Wimpel des BFV. Daneben die Autogrammkarte von Mesut Özil. Und gerahmte Fotos: Matur mit Prinz Charles. Matur mit Joachim Löw und Oliver Bierhoff. Auf dem Tisch liegt die aufgeschlagene „Fußball-Woche“.

Bei einem Tee umreißt Matur seine Lebensgeschichte, und mit jedem Satz wundert man sich mehr, dass er immer noch hier vor einem sitzt.

Matur erzählt von den Anfängen, den Schwierigkeiten. Wie er in Deutschland der Einfachheit halber zwei Klassen zurückgestuft wird, weil er kein Deutsch kann. Wie er trotzdem ein Jahr später eine Gymnasialempfehlung bekommt. Wie sein Vater, ein einfacher Mann, der selbst nur die Grundschule besucht hat, den Sohn trotzdem auf die Hauptschule schickt. Und: Wie ihn die Fußballmannschaft aufnimmt, Tura Hennef, er spricht den Namen noch heute aus als wäre er ein Himmelsgeschenk, der Trainer kauft ihm Schuhe und Trainingsanzug, weil seine Eltern jeden hart verdienten Pfennig für später sparen. Mit 16 muss er zunächst auf Wunsch der Familie wieder in die Türkei, doch Anfang 20 kehrt er alleine wieder nach Deutschland zurück, er vermisst die Freunde und, wie er sagt, „die Ruhe und die Ordnung“.

Es folgen der Umzug nach Berlin und elf Jahre bei der BVG. Es folgt: eine Desillusionierung. Matur ist nun der, der er in Hennef nie war: der Fremde, der „Eseltreiber“, wie sie ihn nun nennen. Mehmet Matur ist niemand, der böse Worte über andere Menschen verliert, aber die Namen derer, die ihn gekränkt haben, weiß er noch heute. Nach dem Türkei-Urlaub sagt eine Kollegin: „Die sind ja gar nicht so wie ihr.“ Maturs Blick bleibt sanft, scheinbar ungerührt, als er das erzählt, nur ab und zu fasst er sich schnell an den Hals, um den Reißverschluss seiner Jacke ein Stückchen weiter aufzumachen. Er erzählt von einem Spiel in Neustrelitz, bei dem seine Mannschaft mit Bier beworfen wird. Von dem Tag, als der türkische Botschafter ein Pokalspiel beim BFC Dynamo vorzeitig verlassen muss, auf Drängen seiner Sicherheitsleute. „Wissen Sie“, sagt Matur. „Ich habe mich damals in Hennef nie wie ein Fremder gefühlt. Aber heute spüre ich das, obwohl ich schon so lange hier bin.“

Als Matur die BVG verlässt, 1994, steht er vor der Wahl: Kapitulieren oder bleiben. „Ich bin Steinbock. Ich wollte mich wehren, nicht nur alleine, sondern mit anderen. Man sollte nicht durch den Willen von ein paar Idioten weggehen, nur aus eigenem Willen.“ Matur bleibt.

Ein Blick auf die Uhr. „Wir müssen los.“ Wieder ins Auto und den kurzen Weg hinüber zum Columbiadamm. Hürtürkel gegen Tennis Borussia, Punktspiel in der Berlin-Liga. Keine ganz normale Partie, TeBe bringt viele Fans mit, im Vorfeld hat es außerdem wohl ein paar zweideutige Facebook-Botschaften gegeben. Hürtürkel steht ohnehin im Fokus, seit der Klub im letzten Jahr wegen antisemitischer und rassistischer Äußerungen bei einem Spiel mit Punktabzug bestraft wurde. Matur sagt: „Der Verein hat eine gute Reaktion gezeigt, mit der Polizei kooperiert, Spieler und Trainer zu Anti-Gewalt-Kursen geschickt“.

Aber eine Fahrt ins Stadion ist immer eine Fahrt ins Ungewisse, nicht nur was das Ergebnis angeht. Matur ist angespannt. „Ich habe Magenkrämpfe“, gesteht er. „Ich hoffe, dass der Tag gut zu Ende geht.“

Es ist ein milder Abend. Vor dem Stadioneingang stehen zwei Polizei-Wannen. Drinnen sind die Fangruppen geteilt, mit rot-weißem Absperrband und kleinen Pappschildchen. „Heim“ steht rechts, „Gast“ links. „Das ist schon mal gut“, sagt Matur. Er schüttelt viele Hände. An einem Stehtisch begrüßt er eine Frau. Neben ihr steht ein Rentner. Schnauzender Rentner: „Warum seid ihr so teuer geworden?“ Matur schaut ihn an. „Wieso wir? Ich gehöre nicht zu Hürtürkel. Ich komme vom Berliner Fußballverband.“ Grimmiger, schweigender Rentner. Matur sagt: „Ich habe meinen Eintritt gezahlt, wie alle anderen.“ Beim Weitergehen schüttelt er leicht den Kopf.

Der Eintrittspreis sorgt für Unmut. Zehn Euro verlangt Hürtürkel zunächst, später dann nur noch acht. Auch das nicht gerade wenig für ein Sechstligaspiel. Gut 50 TeBe-Fans weigern sich, zu zahlen, und verfolgen das Spiel lieber von draußen, durch den Zaun.

Es bleibt alles friedlich. Das Spiel ist schon zur Pause entschieden, Hürtürkel führt 4:1. Nur kurz wird es hitzig, aber es ist nur der ganz normale Frust der Verlierer, man schüttelt sich schnell wieder die Hände. Die zweite Hälfte plätschert dahin. Sommerabendstimmung. Auf der Tartanbahn spielen ein paar Kinder. Die Fans hinterm Zaun singen ein paar halb-ironische Gesänge. Dann ist Schluss. Mehmet Matur trinkt noch einen Tee. Gegessen hat er in der zweiten Halbzeit auch endlich was. Der Magen ist wieder okay. Ein guter Abend. Ein normaler Abend. Es ist jetzt dunkel, aber die weiße Werder-Jacke ist noch weithin zu sehen.

Mützen und Glatzen

– Zum Kampfabend in Neukölln kommen nicht nur Eingeweihte, sondern auch Szenemenschen – auf der Suche nach Härte und Helden im „Huxley’s“

Keine Stunde mehr bis zum Kampf, und Ivan hat ein Problem. Das verdammte Antibiotikum! Ivan hält sich die offene Hand vor den Hals. „So dick war der. Mandelentzündung. Konnte bis vor kurzem kaum schlucken.“ Zwei Wochen kein Training, den Körper voll mit Arznei. So soll er gleich in den Ring steigen, gegen einen kurz geschorenen Fighter mit grimmigem Van-Damme-Blick.

Warum macht der das? Das ist die eine Frage, die sich stellt. Wer schaut sich das an, das ist die andere. Aber eins nach dem anderen. Ivan, 28, gebürtiger Russe, mit 16 nach Deutschland, KfZ-Mechaniker, siebenjähriger Sohn, spricht mit ruhiger Stimme. Zur Begrüßung gibt er die Rechte und legt die Linke noch sanft oben auf den Handrücken. Auf der Straße würde man ihn mit seiner dünnrandigen Brille nie für einen Boxer halten. Seine Ringbilanz: Zwei Niederlagen. „Aber das waren beides gute Kämpfe“, sagt er, Lächeln, glänzende Augen. Er sagt: „Wenn das Publikum danach aufsteht und dir applaudiert…“

Um die 500 Leute dürften es sein im „Huxley’s“ in Neukölln. Sonst spielen hier Indie-Bands. Heute aber: „Heroes Fight Night“, organisiert vom Ringside Gym Berlin. Das Publikum sieht erst mal szenetypisch aus. Die Schlange vor dem Klo hat ein breites Kreuz. Hier haben die Pullis Kapuzen und die Hosen viele Taschen.

Zu sehen aber auch: Parkas. Knallenge Jeans. Und, vor allem, Mützen. Sind also auch mit dabei: Die bärtigen Kiezschlümpfe. Ist schon mal interessant. Die Macbook-Generation entdeckt ja schon seit einer Weile die Gyms der Stadt für sich, trommelt unter dem Schlagwort „Freizeitboxen“ auf Sandsäcke ein.

Im „Huxley’s“ sind vor allem Kämpfe im Thaiboxen und im K-1 zu sehen, einer Kickbox-Variante. Man schlägt und tritt sich also, kurz gesagt. Muay Thai ist in Thailand Nationalsport, dort fast mehr Zeremonie und Tanz als Kampf. Auch hier in Berlin-Neukölln ist das wippende Ritual vor Beginn obligatorisch. Während der Runden greller Sound, klingt wie Schlangenbeschwörer-Musik. In der Luft der scharfe Geruch des Körperöls. Schienbeintritte und Drehschläge sind erlaubt, dennoch dauert es lange bis zur ersten blutigen Nase. „Ihh, ich kann da nicht hinsehen“, sagt leise jemand auf den Stehplätzen. Die meisten schweigen.

Brutaler wird es dann beim einzigen „Mixed Martial Arts“-Duell des Abends. Im MMA kehrt die Szene zu ihren Wurzeln zurück, es wird so unerbittlich gekämpft wie vor 2.500 Jahren. „Ultimate Fighting“ nennen sie das. Die Handschuhe sind ein Witz, polstern kaum die Knöchel. Erlaubt ist fast alles, auch Schläge gegen am Boden Liegende. Führende deutsche Sportpolitiker verweigern die Anerkennung als Sport, TV-Übertragungen sind in Deutschland verboten. Kämpfe enden praktisch immer vorzeitiig. So auch hier. Keine 30 Sekunden sind vergangen, da liegt der eine zuckend am Boden. Mit einem Würgegriff hat ihm sein Gegner den Hals zugedrückt, bis zur Ohnmacht.

Wer nach Klischees über die Szene sucht, wird auch an diesem Abend fündig. Haare hat man in manchen Teams eher keine, dafür umso mehr Tattoos. Oben im Ring bearbeitet gerade ein glatzköpfiger Kämpfer, „102 austrainierte Kilo“, wie der Hallensprecher stolz ausruft, einen 124 Kilogramm schweren Tschechen, der immer wieder wie ein Wolf knurrt.

Und dann klettert Ivan in den Ring, Dreitagebart, pechschwarze Haare, vorher hat er noch beschwörend mit den Handschuhen über die Ringseile gestrichen. „Applaus für Ivan Stafitshuck!“ Er ist jetzt ein anderer, der sanfte Blick ist weg, die Brauen tief, die Augen starr zu Boden. Volle Konzentration. Adrenalin frisst Antibiotikum. Ivan kämpft gut, er ist entschlossen und zäh, steckt die Tritte seines Gegners weg, lässt sich nicht in die Ecke drängen. Er hat schon immer gekämpft, hat er vorher noch gesagt, „damals in Russland, da war das überlebenswichtig.“ Man merkt jetzt, was er meint.

Nach dem letzten Gong reißt Ivan die Arme schräg nach oben, er sieht jetzt tatsächlich aus wie die ewige Kämpfer-Ikone Rocky hoch oben auf seinen Museumsstufen. Ganz oben zu sein, der Held für einen Abend, für einen Moment, darum geht es dann wohl. Großer Applaus. Ivan hat endlich einen Kampf gewonnen.

An der Bar ordert eine junge Frau Bier und Schnaps. Eher Indie, eher Kiez, auch wenn sie keine Mütze trägt. Sie wippt im Takt der Elektrobässe. Gute Laune, unverkennbar. Und, wie ist es so? „Am Anfang war es noch ein bisschen lahm von der Crowd her, aber jetzt geht es ganz gut ab.“ Die Klitschkos schaue sie ab und an, aber das hier ist ihr erster Kampfabend. Gefällt ihr gut. „Der Kampf Mann gegen Mann, ein bisschen auch die Brutalität, klar. Und das Event, diese Energie der Masse.“ Seit der Fußball-WM 2006 suche sie die immer wieder. Auch das Boxen hat also seine Eventfans.

Ganz hinten im Saal steht Ivan. Der Rocky von Neukölln hat gleich zwei Adrians mitgebracht. Die Mutter seines Sohns hat ebenso mitgefiebert wie eine weitere Ex-Freundin. Eine aktuelle gibt es nicht, stellt Ivan klar, „sonst könnte ich nicht so viel trainieren“. Lachender, erleichterter Kämpfer. Und oben, zwischen den Seilen, steht schon der nächste Kurzzeitheld, funkelnder Pokal, Schweißglänzen, Siegerfoto. Auf seiner Hose steht „Tiger“.

Gludernde Lot (5 Minuten Stadt)

In den Schlaf dringen dumpfe Explosionen. Wumm. Pause. Wumm. Erst einmal nichts Ungewöhnliches hier im Grenzgebiet zwischen Wedding und Prenzlauer Berg. Der benachbarte Gleimtunnel ist ja nicht nur um Neujahr beliebter Ort für halb legale Sprengungen. Schallt doch so schön. Und war das nicht gerade ein Heuler? Eine Partymeute feuert auf dem Heimweg noch ein paar Kracher ab. Oder nicht? Beim nächsten Blinzeln tanzt Blaulicht auf der Schlafzimmerdecke, von der Straße dringen Rangiergeräusche nach oben. Okay, also mal schauen. Leicht genervtes In-die-Küche-Schlurfen. Küche ist taghell. Unten steht die Feuerwehr. Im Tunnel brennt ein Auto.

Auch klar nun, woher der Krach kam, denn gerade knallt es die Heckscheibe weg, Flammen schlagen aufs Dach. Routiniert und mit der Aussichtslosigkeit angemessener Nicht-Hektik werden Schläuche ausgerollt. In meinen Ohren plötzlich – ein Traumrest? – die stammelnde Stimme von Edmund Stoiber: Die gludernde Lot! Die lodernde Flut!!! Ganz ruhig, Ede, denke ich, und: Schon klar, dass der Hektiker es nie hierhergeschafft hat, in die Hauptstadt der Lässigkeit. Schwarzer Rauch dringt aus dem Tunnel. Der Wagen brennt noch ein bisschen vor sich hin. Scheint ein Mercedes zu sein. Also wohl wieder eine dieser Anti-Yuppie-Attacken. Na ja. Nun ist das Feuer aus. Zurück ins Bett. „Was war?“, fragt die Freundin. „Ach nichts“, sage ich und küsse sie auf die Stirn, „unten ist nur ein Auto explodiert.“ (5 Minuten Stadt, Tagesspiegel)

Luxus an der Pferdekoppel

– Nördlich des Mauerparks sollen 500 hochpreisige Wohnungen entstehen – Bürgervertreter fühlen sich von der Politik übergangen. Ein Besuch bei Empörten (erschienen im Tagesspiegel)

Es ist kurz vor sieben, als die Eskalation droht. „Es kann doch nicht alles an einer Wortmeldung scheitern? Was ist denn das für eine Art der Bürgerbeteiligung?“ Rainer Krüger, hochroter Kopf, ist außer sich, seine Stimme überschlägt sich fast. Rathaus Mitte, erster Stock, es tagt der städtebauliche Ausschuss des Bezirks. Dröge Sitzung. Doch bei TOP 5.3, „Mauerpark: Neuplanung Groth Gruppe“, laufen die Dinge aus dem Ruder. Die Nerven liegen blank.

Worum geht es? Scheinbar nur um eine Lappalie.

Der Vorsitzende sperrt sich gegen die Ausweitung der Redebeiträge. Nur zwei Bürgerinitiativen sind eingeplant, doch auch die „Freunde des Mauerparks“ möchten reden. „Wir sind seit über zehn Jahren aktiv“, ruft ihr Vertreter. Rainer Krüger von der „Bürgerwerkstatt“ solidarisiert sich. Es wird laut. Es wird gedroht. Der Ausschussvorsitzende sagt, er könne auch alle Beiträge verbieten lassen. Pfiffe. Buhrufe. Dann doch noch: die Lösung. Der Vertreter der „Piraten“, ein gemütlicher junger Mann mit überlegenem Lächeln und Sonnenbrille im Pullikragen, stellt seine Redezeit zur Verfügung. Aufatmen.

Worum also geht es?

Einfach gesagt: um die Bebauungspläne nördlich des Mauerparks. Auf dem Gelände, das drei Jahrzehnte Niemandsland zwischen DDR und West-Berlin war und seitdem mit den Baracken eines Schrotthändlers und eines Gerüstbauers auskommt, sollen ab Herbst 2014 über 500 Wohnungen entstehen.

„Luxuswohnungen“, präzisiert Rainer Krüger und schüttelt energisch den Kopf. „Nein“, sagt er, „diese Luxusvillenbebauung kann nicht die Lösung sein.“ Krüger, 73 Jahre alter Geografie-Professor im Ruhestand, feiner Schnurrbart, runde Brille, sitzt, nun ganz ruhig, am Esstisch seiner Wohnung am Falkplatz. Ein Neubau mit Traumaussicht. Schmeling-Halle, Fernsehturm, Zionskirche, Deutsche Welle. Nicht wenige würden auch das hier, nun ja, als Luxus bezeichnen. „Wir hatten sehr viel Glück, dass wir die bekommen haben“, sagt Krüger. Die Reichen haben in Deutschland immer das Gefühl, sich für ihren Wohlstand entschuldigen zu müssen, und ganz besonders die Reichen in Prenzlauer Berg. Das Haus war nicht mal fertig, da hatte unten einer schon einen Stein in die Fensterfront geworfen.

„Wenn ich hier hinziehe, möchte ich mich auch einbringen“, sagt Krüger, Sprecher der „Bürgerwerkstatt Mauerpark fertigstellen“. Er sagt: „Wenn die Gentrifizierungswelle einfach weiter in das Brunnenviertel schwappt, dann hat das mit sozialer Durchmischung nichts zu tun. Dann ist das eine Entmischung.“ Krüger spricht Gentrifizierung mit weichem G aus, wie im Englischen. „Die Menschen, die dort einziehen, die werden von ihrem Einkommen, von ihrem ganzen Lebensstil her, einen Dreck tun, sich irgendwie mit dem ärmeren Brunnenviertel zu verbrüdern. Ihr Blick wird nur in Richtung Prenzlauer Berg gehen.“

Das Brunnenviertel liegt, von Krüger aus gesehen, auf der anderen Seite des maroden, triefenden Gleimtunnels, in Wedding. Hier wohnen viele Migrantenfamilien. Hier verdienen die Leute generell weniger. Das Bauareal liegt auf Weddinger Grund. Hier beginnt sich der Bürgerprotest, zum Beispiel gegen die geplante neue Auffahrt an der Gleimstraße, gerade erst zu formieren.

Krüger engagiert sich schon seit 2010 gegen eine „massive Bebauung“ im Norden des Tunnels und für eine Erweiterung des Parks im Süden. Letztere ist wie erhofft beschlossen, Flohmarkt und „Mauersegler“ dürfen bleiben, Joe Hatchiban wird weiter sein Open-Air-Karaoke veranstalten können. Doch im Norden sieht die Lage aus Krügers Sicht weniger rosig aus. Die Poltik hat nun doch eine üppige Bebauung für rund 600 Wohneinheiten beschlossen. Der entsprechende Städtebauliche Vertrag wurde von der Senatsverwaltung eilig entworfen, von Mittes Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) noch vor der Sommerpause zur Vorlage gebracht und von der Groth-Gruppe im Dezember 2012 unterzeichnet.

„Eine Maulschelle vom Feinsten“, sagt Birgit Blank und dieser hübsche Berliner Ausdruck deutet darauf hin, worum es im Kern auch geht in dieser Angelegenheit: um das Verhältnis zwischen Bürger und Politiker. Von den Entscheidungsträgern in Mitte sei sie am meisten enttäuscht, sagt Blank.

Blank sitzt im großen Gemeinschaftsraum der Jugendfarm Moritzhof, für den sie sich seit 1993 engagiert. Seit 2000 steht der kleine Stadtbauernhof direkt an der Bezirksgrenze – zuhause sind hier unter anderem zwei Ponys, zwei Ziegen, drei Schafe und die Schweine Uschi und Peppi. An Sommertagen kommen an die 150 Kinder, sagt Blank. Und ab 2017 kommen die Reichen.

„Ich glaube nicht“, sagt Birgit Blank, „dass wir als Kollegen Lust haben, für reiche Eltern ein Projekt vorzuhalten, das sie kostenlos nutzen wollen, und die Kinder der Ärmeren können es dann in Marzahn überhaupt nicht mehr nutzen.“

Sie legt Bestimmtheit in ihre Stimme, doch es schwingt auch Unsicherheit mit. „Ich habe hier nicht 20 Jahre meines Lebens reingesteckt, um mich von Herrn Groth einfach wegschieben zu lassen.“ Die 45-Jährige wirkt erst einmal nicht so, als lasse sie sich leicht aus der Bahn werfen. Sie ist das Kämpfen gewohnt, hat Fördermittel erstritten, Spenden für den Grundstückskauf. Doch das hier ist offenbar eine neue Art der Bedrohung, sechs Stockwerke hoch. Blank schaut aus dem Fenster auf die Pferdekoppel. „Der Hahn kräht zu laut, das Pferd wiehert, der Geruch ist zu streng oder der Ziegenbock hat vor meinen Vorgarten geschissen – Nutzungskonflikte sind programmiert.“ Sie sieht sich schon von ihrem Grund und Boden geklagt, wie die Betreiber des „Knaack“-Clubs oder die anderen Gentrifizierungsopfer.

Nutzungskonflikte gab es auch früher schon. Der Kompostgeruch und die vielen Fliegen hatten Anwohner auf den Plan gerufen. Seitdem wird der Mist einmal wöchentlich mit einem Hänger abgefahren. Dennoch sagt Blank: „Wir haben hier eine große Akzeptanz.“ Und die sieht sie in Gefahr.

Als Puffer zwischen sich und den Neubauten hatte sie sich für ein „Grünes Band“ eingesetzt, es sollte ursprünglich von der Bernauer Straße bis zur Bösebrücke reichen, entlang des früheren Todesstreifens, doch das hat die Politik mittlerweile verworfen. Sie will jetzt wieder eine Bebauung nach Plan des dänischen Architekten Carsten Lorenzen. Neue Mehrheiten hatten sich plötzlich gebildet. Nun fehlt nur noch das abschließende Votum der Bezirksverordneten von Mitte. In der Ausschusssitzung erhalten die empörten Bürgervertreter keine Antworten. Die offenen Fragen würden im Laufe des Bebauungsplanverfahrens geklärt, teilt Baurat Spallek lapidar mit.

Birgit Blank führt zum Abschluss über ihren Hof. Uschi und Peppi grunzen wohlig im Stroh. „Herr Groth hat immer gesagt, er will uns besuchen“, sagt sie und streichelt eine der Ziegen. „Gekommen ist er nicht ein einziges Mal.“ Sie lacht bitter, als habe sie damit ohnehin nicht gerechnet.

„Die Zusage steht!“ Klaus Groth, 74 Jahre, dunkler Anzug, weißer Haarkranz, ist ein mächtiger Kerl mit energischer Stimme. Wenn man für ein Konversationslexikon einen Baulöwen zeichnen müsste, man könnte einfach Groth nehmen. Er spricht mit norddeutsch rollendem „r“ und lässt bei wichtigen Punkten seine Hand donnernd auf den Tisch fallen. Es ist eher eine Pranke. „Der Moritzhof ist für unser Quartier eine Bereicherung, das sage ich mit aller Überzeugung.“ Groth sitzt in seinem Konferenzraum, Blick auf den Kurfürstendamm, beste Lage. Vor ihm auf den Tisch die Bebauungspläne. „Die Bürgerwerkstatt will den Lorenzen-Entwurf nicht, das hat sie mehrfach erklärt. Aber er wurde vom Parlament beschlossen. Man schlägt uns, aber man muss die anderen schlagen.“ Er habe keine andere Möglichkeit, sagt Groth, als die Rahmenbedingungen der Politik zu erfüllen.

Groth sieht die Dinge gelassen. Er hat in Berlin schon zahlreiche Großprojekte bauen lassen, unter anderem die CDU-Zentrale am Tiergarten. Er weiß, dass die Politik auch diesmal in seinem Sinne entschieden hat. Ein Zurück ist schwer vorstellbar. Die Parkerweiterung im Süden hat im Dezember bereits offiziell begonnen, sie ist wiederum gekoppelt an den Städtebaulichen Vertrag. Und in dem steht seit Dezember Groths Name.

Groth ist den empörten Bürgern entgegen gekommen – ein bisschen. Er hat ein paar Baublöcke herausgenommen und gegenüber des Moritzhofs einen leicht erweiterten Eingangsplatz geschaffen. Ansonsten zieht sich der Löwe auf die geschützte Position des Ungefähren zurück. „Was heißt ‚ökologisch ausgerichtet‘?“, fragt er. Und auch ’soziale Durchmischung‘ habe ihm bisher keiner definieren können, „nicht mal der Senat oder der Bezirk“. Und Luxus? „Wenn man 3.500 Euro Verkaufspreis (pro Quadratmeter) in der Lage als Luxus bezeichnet, dann weiß ich nicht, was Luxus wirklich ist!“

Ganz genau weiß Groth dagegen, dass all diese hübschen Vereinbarungen in den Verträgen nur sehr allgemein formuliert sind. Konkretes Interesse einer Genossenschaft besteht derzeit nicht, bestätigt er. Und so werden die 300 geplanten Mieteinheiten entlang der Ringbahngleise im Norden mindestens 9,50 Euro nettokalt kosten. Groth sagt: „Es geht zum einen um die Berücksichtigung der Nachbarschaft, aber es geht vorrangig um die Leute, die in diesem Quartier wohnen werden und ihre Bedürfnisse.“

Klaus Groth streicht sich den Schlips gerade und lehnt sich zufrieden zurück. „Ich glaube“, sagt er, „wir haben eine ganze Menge machen können, um die nachbarschaftlichen Beziehungen zu begründen.“