Eine richtige Postbotin

Du willst die Post austragen, haben sie gefragt und gelacht, du, ein Mädchen, ein türkisches Mädchen? Na klar, hat sie gesagt, unsere Ministerin ist doch auch eine Frau, was ist schon dabei. Nazan Özbek lacht: Tansu Çiller, kennen Sie die noch?

1993 war das, die Türkei hatte eine Frau als Ministerpräsidentin, und der Wedding hatte eine türkische Postbotin. 1993, Nazan Özbek weiß das noch genau. Zahlen sind kein Problem. Auf die Briefe fürs Seniorenheim hat sie eben noch schnell die Nummern der Wohnungen gekritzelt, in dünner Bleistiftschrift, das spart ein paar Sekunden.

Ursprünglich, sagt Nazan Özbek, wollte sie Polizistin werden, aber das ging nicht, Schuld war ihr Pass, der damals noch türkisch war. So ging sie zur Post. Ihr Zustellbezirk hat die Nummer 10: Gerichtstraße, Ruheplatzstraße, Antonstraße, zurück auf die Ruheplatzstraße und dann rauf auf die ewig lange Schulstraße, das ist ihre Route. Immer vor sich herschiebend den Security-Zustellwagen, so nennt die Post das. Er sieht aus wie ein großer gelber Rasenmäher, darin sind Platz für drei Plastikkästen voller Briefe, zwei kleine Kästen sind das und ein großer, für die A4-Sachen.

Security, ein Name wie von einer Versicherungsfirma, wie ein todsicheres Versprechen, aber das Versprechen ist nur ein winziges Schloss an der Vorderseite. Vor ein paar Wochen, Nazan Özbek stopfte gerade wieder in einem Hinterhof Kuverts in die Schlitze, da haben sie ihr vorne die Klappe des Wagens aufgerissen und einen der Schlüsselbunde geklaut. Nur die Schlüssel, sagt sie, keine Ahnung, was die damit wollen.

Sie hat dann an die Hausverwaltungen geschrieben, aber bisher ist nichts passiert. Weswegen sie jetzt, in der Antonstraße, mal wieder darauf warten muss, dass ihr jemand aufmacht. Das sind die Minuten, die ihr nachher fehlen werden, Minuten, die für Esra gedacht waren, ihre Tochter. E, S, R, A, die Mutter buchstabiert es sorgsam, sie ist für mich alles. Wie mein Auge.

Zwölf ist Esra im Mai geworden, aber sie geht schon in die siebte Klasse. Manchmal hilft Nazan Özbek ihr abends bei den Hausaufgaben, aber oft ist die Mutter auch einfach nur müde, total kaputt nach fast elf Stunden im Dienst. Vor halb sechs komme ich selten raus, sagt sie. Mehr als zehn Minuten dauert die Mittagspause eigentlich nie.

Heute hat sie um sieben Uhr früh damit begonnen hat, ihren Arbeitstag aus den gelben Boxen zu nehmen und in die Fächer mit den Hausnummern zu stecken. Rot, blau, gelb, jede Straße hat eine andere Farbe, nur die Schulstraße ist weiß, das ist schön, sagt Nazan Özbek, weiß, das ist meine Lieblingsfarbe. Zweieinhalb Stunden steckt sie Briefe, Magazine, Werbeprospekte in die engen Fächer, jeden Morgen, bevor es hinausgeht auf die Straße.

Vor dem Zustellstützpunkt Gerichtstraße, einem fünfstöckigen Backsteinbau, ist es da noch ruhig, der Wedding döst noch ein bisschen, aber drinnen ist längst alles wach, alles laut. Kisten stapeln sich zwischen zwei Meter hohen Trennwänden, die Gänge sind eng, ständig steht man im Weg, dürft ich mal, danke. Nazan Özbek steht in ihrem winzigen Bereich, eine kleine Frau mit dunklem Pferdeschwanz, sie trägt ein weites, postgelbes Hemd und eine dunkelblaue Hose mit großen Seitentaschen für die Einschreiben, Einschreiben werden immer am Körper getragen, alte Postregel. Aber vorher noch einscannen, einmal um die Ecke, schräg über den drei Scannern hängt ein Poster, darauf ist die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zu sehen und auch die türkische. Başarılar dileriz, steht dazwischen, das bedeutet: Wir wünschen euch viel Glück. Sieben türkischstämmige Kollegen hat sie hier, alles Männer. Ein paar Frauen gibt es auch, aber alle im Innendienst. Ich gehe raus, sagt Nazan Özbek, ich bin eine richtige Postbotin!

Sie hat sich auch mal für den Innendienst beworben, hatte extra einen EDV-Kurs gemacht, 1997 war das, ein Jahr lang, immer sonntags, Abschluss mit sehr gut, aber dann sagte der Chef, dass er doch niemanden brauche für drinnen.

Ihre Turnschuhe kauft sie immer eine Größe größer als normal, die Füße, sie werden dick mit der Zeit. Schwarz sind die Schuhe, nur das Nike-Zeichen auf den Fersen, das ist gelb wie die Post.

Um 9:24 Uhr lässt Nazan Özbek den Zustellwagen in den Lastenaufzug rumpeln. Oben auf dem Briefstapel eine H&M-Tüte mit einer silbernen Thermoskanne, in der nur Wasser ist, und ein Päckchen Tempos. Sie war krank gewesen, ein paar Tage, und als sie zurückkam, waren die meisten der roten Gummibänder weg, mit denen sie die Briefe zusammenschnürt, und auch die Aufkleber mit den Hausnummern hatte jemand von den Schlüsseln gerissen. Ich arbeite ganz schön sauber, sagt Nazan Özbek.

Um 9:53 Uhr hat sie die Laufhäuser an der Gerichtstraße schon hinter sich und parkt den gelben Wagen vor der Ruheplatzstraße 24. Laufhaus, so nennen sie bei der Post einen Aufgang, bei dem die Schlitze noch in den Wohnungstüren sind und nicht unten im Erdgeschoss. Dann müssen die Zusteller all die Treppen hoch, in den muffigen Altbauten. Allzu viele Laufhäuser liegen nicht auf Nazan Özbeks Route. Dafür ist sie länger als andere Strecken.

Rund 145 Aufgänge liegen vor dem Feierabend, jeden Tag, 1.719 Haushalte, Nazan Özbek hat extra noch mal nachgezählt, darunter drei Heime, an manchen Tagen sind das 7.000 Zustellungen. Und wenn die Leute in ihrem Bereich zu wenig Post bekommen, dann kriegt sie am Ende des Jahres ein paar Hausnummern dazu, acht waren es beim letzten Mal. Wieder ein paar Meter mehr für die Füße in ihren winzigen Nike-Schühchen. Schnell laufen sie zwischen den Stopps, man kann kaum Schritt halten.

Ich bin alleinerziehende Mutter, sagt Nazan Özbek, das ist die Antwort.

Mit zwölf ist Nazan Özbek nach Berlin gekommen, vor 30 Jahren also, aus Izmir, kennen Sie Izmir, fragt sie, es ist wunderschön dort. Aus der Türkei kam auch ihr Mann. Drei Wochen hatten sie, um sich kennenzulernen, ein Jahr nach der Hochzeit zog er zu ihr nach Deutschland. Die Geschichte von Nazan Özbeks Ehe ist kurz, sie erzählt sie zwischen drei Aufgängen, aber sie will nicht, dass sie in der Zeitung steht. Wegen Esra. Wie eine Blume, sagt die Mutter, so erziehen wir Esra. Kinderärztin will sie werden, die Tochter der Postbotin. Studier mal, hat ihre Mutter ihr gesagt, dann hat wenigstens eine von uns beiden studiert.

Ihre Eltern, Esras Großeltern, die haben früher bei Siemens gearbeitet, beide, ihr Vater als Dreher, die Mutter am Band, mit einem Lötkolben in der Hand und einer großen Lupe vor dem Auge, so winzig waren die Teile. Meine Mutter hat mir später sehr geholfen, sagt Nazan Özbek, ich musste ja immer arbeiten.

Im Hof der Volkshochschule stehen sie und rauchen, Deutschkurse ab 9 Uhr. Nazan Özbek hat nie einen Kurs gemacht, sie hat die Sprache in der Schule gelernt, wie alle Türken damals, quasi nebenbei. So wie sie sich das Kochen beigebracht hat, einfach zugeschaut hat sie der Mutter. Ich habe immer alles alleine gemacht, sagt Nazan Özbek, meine Eltern konnten doch so wenig Deutsch und hatten so viel zu tun.

Auf der anderen Seite der Kreuzung, vor dem italienischen Restaurant, grüßt sie im Vorbeigehen schnell noch einen Mann im Galatasaray-Trainingsanzug, auf Türkisch, ein kurzes Lächeln. Danke, die Po-hoost, ruft Nazan Özbek ansonsten in die steilen Aufgänge, wenn jemand endlich den Summer gedrückt hat. Und dann schnell weiter. Manchmal gibt’s nette Kunden, sagt sie, die drücken, wenn sie mich sehen.

Sie macht immer die gleiche Strecke. Das hilft. Wenn du anfängst, als Springer, dann kennst du die Routen nicht, du bist der Lückenbüßer, wenn ein Zusteller krank ist oder frei hat, sie setzen dich ein, wo du gerade gebraucht wirst. Insgesamt sieben Jahre war sie Springer, von 1992 bis 1997 und dann noch mal nach Esras Geburt, von 2003 bis 2006. Da ging sozusagen alles nochmal von vorne los.

Um 10:58 Uhr hat Nazan Özbek die Post fürs Bezirksamt zugestellt, dessen Eingang unter dem riesigen Baugerüst und den Staubplanen kaum zu erkennen ist, und biegt links in die Schulstraße ein. Ich kenne den ganzen Wedding, sagt sie, besser als Reinickendorf, wo ich wohne, Sprengelkiez, Brunnenviertel, Osloer, ich war hier schon überall unterwegs. Nicht überall war es so ruhig wie hier. An der Sprengelstraße damals, die Messer, die Jugendlichen, die haben sich gestritten, da hatte ich immer Angst, sagt Nazan Özbek, aber passiert ist nie was, zum Glück.

Und einmal stand vor einem Haus schon die Feuerwehr, aus dem ersten Stock kam dunkler Rauch, aber die Post, die haben die Leute an dem Tag trotzdem bekommen.

Ich bin Fisch, sagt Nazan Özbek, mit einem Bein schon im nächsten gefliesten Hauseingang, Fisch wie Albert Einstein. Fisch ist das einzige Sternzeichen, bei dem Männer und Frauen gleich sind. Geburtstag, sagt sie, habe ich am gleichen Tag wie mein Vater, Superzufall, oder? Zuverlässig, treu, großzügig, sagt Nazan Özbek, so sind die Fische. Sie wirft den letzten Brief in den Kasten. Auch sensibel, sagt sie leise.

Dann rollt der gelbe Rasenmäher schon wieder übers Pflaster, immer die lange, laute Schulstraße hinunter. Wenn man jeden Tag draußen arbeitet, sagt Nazan Özbek, wird man auch fröhlich. Merken Sie, ich lache immer!

(erschienen im September 2013 auf Tagesspiegel.de)