Die atemlose Nacht von London

– Das Duell zwischen Chelsea und Neapel hat einen Sieger: den Fußball

Berlin/London (dapd). Ezequiel Lavezzi spannte seinen Körper, er ging ins Hohlkreuz, reckte und streckte seinen Kopf so weit wie möglich nach oben. Dennoch sauste die scharfe Flanke ein paar Zentimeter über seine Haarwurzel hinweg und ins Aus. Der SSC Neapel und nicht der FC Chelsea hätte im Viertelfinale der Champions League gestanden, hätte, ja hätte nur der Argentinier in dieser 87. Minute das 2:3 aus Sicht seines Teams geköpft. Allein, einen Vorwurf konnte man ihm wirklich nicht machen. Ezequiel Lavezzi misst nur 1,73 Meter.

Der SSC Neapel wollte wie Lavezzi über sich hinaus wachsen bei dieser 1:4-Niederlage nach Verlängerung an der Stamford Bridge. Das Problem war nur, das taten die Gastgeber auch. Dabei heraus kam ein unvergesslicher Europapokalabend, mit allem, was diesen Wettbewerb und diesen Sport ausmacht.

Es war ein Spiel, das den Zuschauern zunehmend den Atem nahm, weil es einer Dramaturgie folgte, die sich immer rasanter beschleunigte. „Einige der Spieler konnten am Ende nicht mal mehr rennen, weil sie Krämpfe hatten“, sagte Chelseas Interimstrainer Roberto Di Matteo, der seine Bilanz auf drei Siege aus drei Spielen erhöhte. „Aber sie haben einfach weitergekämpft. Alle waren unglaublich.“ Auch sein Kollege Walter Mazzarri war „stolz“ auf seine Spieler. Wer kann das nach einer 1:4-Niederlage schon sagen?

Aber der Endstand gab nur unzureichend wider, was da auf dem Platz abgelaufen war. Zunächst einmal machten die Gäste genau da weiter, wo sie beim fulminanten 3:1-Heimsieg vor drei Wochen aufgehört hatten. Als die Anfangsviertelstunde beendet war, hatte Chelseas Torhüter Petr Cech bereits dreimal retten müssen, und Edinson Cavani hatte wütend die Bande malträtiert, nachdem er aus spitzem Winkel nur das Außennetz traf. „Wir hatten wahrscheinlich heute mehr Chancen als im Hinspiel“, sagte Mazzarri, „wir haben nur nicht so oft getroffen“.

Nach überstandenem Schrecken der Anfangsphase erinnerte sich der FC Chelsea daran, was er ist: ein englischer Fußballklub. Schließlich ging es darum, als letzter Landesvertreter im Wettbewerb zu bleiben. Chelsea kämpfte sich also zurück ins Spiel. Didier Drogba wuchtete in der 28. Minute eine Ramires-Flanke aus dem Halbfeld zum 1:0 ins Netz und entblößte erstmals Neapels fatale Schwäche bei hohen Bällen. Chelsea machte nun das Spiel, Neapel konterte.

Die Anfangsviertelstunde der zweiten Hälfte war wie die der ersten, nur noch atemloser. Diesmal war es Terry, der einen hohen Ball mit dem Kopf zum 2:0 für die Gastgeber ins Tor hämmerte. Damit wäre Chelsea im Viertelfinale gewesen. Bis acht Minuten später Gökhan Inler seinerseits alle Kraft zusammennahm und ein wunderschönes Dropkick-Tor aus 17 Metern erzielte und Neapel wieder ins Rennen brachte. Chelsea brauchte nun plötzlich ein Tor, Neapels zu Tausenden angereiste Fans sangen und hüpften schon mal. Bis Frank Lampard, der dritte der alten Londoner Garde, vom Elfmeterpunkt das 3:1 gelang. Mit einem hammerharten Schuss, natürlich. Damit war das Hinspiel-Ergebnis egalisiert.

Beide Mannschaften warfen nun alles hinein. Das nächste Tor würde entscheiden, und jeder wollte der sein, der es erzielt. Jede Taktik wurde aufgegeben. Neapels Mittelstürmer Cavani lief Chelseas Mittelstürmer Fernando Torres am eigenen Sechzehner ab. Abwehrspieler David Luiz schnappte sich den Ball vor dem eigenen Tor mit tollkühner Grätsche, lief und lief bis vors gegnerische Tor, wo ihm ein Neapolitaner mit einer tollkühnen Grätsche wieder den Ball wegnahm. Es spielten nun also diese 20 Feldspieler etwas, das dem Konzept des „totalen Fußballs“ ziemlich nahe kam. Jeder machte alles.

Und der deutsche Schiedsrichter Felix Brych machte genau das richtige: Er vergaß seine Herkunft und ließ diese Fußballschlacht einfach laufen. Böses oder grob Unfaires war ohnehin kaum dabei.

Der entscheidende Treffer in der Verlängerung gelang dann dem FC Chelsea – durch Branislav Ivanovic, einem Verteidiger. Wenn ihn zuvor der kleine Lavezzi mit dem Kopf erzielt hätte, mal ehrlich, wen hätte das an diesem Abend eigentlich noch verwundert?